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Bärlauch in den Zeiten von Corona

Auch große historische Veränderungen zeigen sich oft in vermeintlich kleinen Details des Alltags. Götz Eisenberg ist ein schreibender Flaneur, der am scheinbar Zufälligen das Wesentliche und Signifikante herauszuarbeiten versteht. Was sagt das Verhalten der Menschen unter dem Druck der Corona-Krise über die in unserem Land herrschende Mentalität aus? Muss man die Regierung für ihre rigiden Maßnahmen kritisieren oder eher die "Spaßgesellschaft", die ungeachtet medizinischer Notwendigkeit ihre Ignoranz zelebriert? Beides, zeigen die differenzierten Betrachtungen des Autors. Schlimmes und schon überwunden Geglaubtes zeigt sich im Krisenmodus. Selbst menschenverachtende Ansichten der Art: "Es sterben ja nur ein paar Alte, Hauptsache die Starken überleben". Götz Eisenberg wird in der nächsten Zeit weitere Folgen seines "Corona-Tagebuchs" veröffentlichen.

Corona-Tagebuch Teil 1

Von Götz Eisenberg

Es ist Mittwochnachmittag. Auf den ersten Blick hat sich nichts verändert. Vielleicht ist etwas weniger Verkehr auf den Straßen, und auf dem Seltersweg - der Gießener Fußgängerzone - sind ein paar weniger Passanten unterwegs. Vor den Kneipen und Cafés sitzen junge Leute dicht gedrängt in der Nachmittagssonne und demonstrieren ihre Indifferenz gegenüber dem Virus und der von ihm ausgehenden Ansteckungsgefahr. Ein Mann kommentiert das mit den Worten: "Die dürfen sich nicht beschweren, wenn sie doch noch eine Ausgangssperre verhängen!" Ich beobachte eine Gruppe junger Männer, die einen Bierkasten aus einem Supermarkt schleppen und Richtung Lahn davonziehen. Mädchen stellen sich für ein Foto in Pose. Der Subtext dieser Handlungen lautet: "Das Virus und die ganzen Vorsichtsmaßnahmen gehen uns am Arsch vorbei. Es sterben nur alte Leute, die uns eh auf den Sack gehen! Wir sind jung und lassen uns unseren Spaß nicht verderben!"

Einige Läden und Geschäfte sind geschlossen, andere nicht. Die Buchhandlung ist dicht, der Tabak- und Zeitschriftenladen und die Frisöre haben geöffnet. Die Logik hinter dieser Auswahl erschließt sich mir nicht. Bücher gelten ganz offensichtlich nicht als Lebensmittel. Vor der Apotheke steht ein Schild, das darauf hinweist, dass jeweils nur drei Kunden gleichzeitig Zutritt haben. Vor der Tür hat sich eine Warteschlange gebildet. Zwei Männer mir ausrasierten Schädeln und Bärten klagen darüber, dass ihr Fitnessstudio geschlossen ist. Sie fürchten, dass ihr Körperpanzer Risse bekommt. Die Gespräche der Leute, die ich im Vorübergehen aufschnappe, kreisen samt und sonders um das Virus und die damit verbundenen Einschränkungen. Am Lahnufer versucht eine Mutter, ihrem Sohn das Inlineskaten beizubringen. Der Junge stürzt alle paar Meter und wirkt genervt. Wahrscheinlich würde er lieber vor seiner Spielekonsole sitzen. Für mindestens vier Wochen sind Eltern und Kinder nun zusammengesperrt. Man wird davon ausgehen müssen, dass es einen Anstieg häuslicher Gewalt geben wird. Nachrichten aus China bestätigen diese Befürchtung. Erste Studien zeigen, dass es dort nach der Verhängung der Massenquarantäne zu einer massiven Zunahme psychosozialer Probleme, von Angst- und Panikattacken und zu einem deutlichen Anstieg häuslicher Gewalt gekommen ist. Frauen und Kinder können sich gewalttätigen Männern nicht durch die Flucht zu Freunden und Nachbarn entziehen. Sie sitzen in der Falle.

Ich fahre mit dem Rad in Richtung Kloster Schiffenberg und pflücke Bärlauch, der dieses Jahr besonders früh seine Blätter ausgetrieben hat. Offenbar hat es sich bereits herumgesprochen, dass der Bärlauch da ist, denn überall sieht man Leute in der Hocke und beim Pflücken. Man tauscht Rezepte aus. Der eine bevorzugt eine Pesto, die andere Bärlauch-Quark, eine dritte schneidet sich die Blätter aufs Butterbrot. Ein junger Mann kommt auf mich zu und preist die das Immunsystem kräftigende Wirkung des Bärlauchs. Dann sagte er unvermittelt: "Es sterben an Corona ja nur Leute, die ein schwaches Immunsystem haben, die alt und krank sind." Er scheint damit einverstanden, dass nur die Jungen und Starken überleben. Krisenzeiten führen zur Verbreitung sozialdarwinistischer Einstellungen, nicht nur von Solidarität, von der glücklicherweise auch berichtet wird.

Zu Hause angekommen, nehme ich Camus Roman Die Pest aus dem Regal und beginne, ihn im Lichte der aktuellen Ereignisse noch einmal zu lesen. Schon auf den ersten Seiten hat der unverwechselbare Camus-Sound mich gepackt. "Am Morgen des 16. April trat Doktor Bernard Rieux aus seiner Praxis und stolperte mitten auf dem Treppenabsatz über eine tote Ratte." Camus schildert, wie die Pest in eine Stadt am Mittelmeer Einzug hält und wie die Menschen auf diese Situation reagieren. Die Romanhandlung spielt vor circa 70 Jahren, aber sie ist brandaktuell. Mit Camus im Kopf frage ich mich: Was ist, wenn die Krankheit einen Einsamen überfällt? Wenn da keiner ist und niemand und nichts? Nur eine große Leere, in der sich Verzweiflung ausbreitet.

Abends wendet sich die Kanzlerin an die Deutschen. Die Lage sei äußerst ernst, und sie fordert sie auf, sie ernst zu nehmen und sich an die Regeln zu halten. Sie redet den Deutschen ins Gewissen. Was aber, wenn da keins mehr ist? Das Gespenst einer Ausgangssperre zieht herauf.

Götz Eisenberg ist Sozialwissenschaftler und Publizist. Er arbeitet an einer "Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus", deren dritter Band unter dem Titel "Zwischen Anarchismus und Populismus" 2018 im Verlag Wolfgang Polkowski in Gießen erschienen ist.

Quelle: Hinter den Schlagzeilen - 24.03.2020.

Veröffentlicht am

25. März 2020

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