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Teure Gesundheit

Corona: Mit dem Virus verbreitet sich die Unsicherheit über den Globus. Sie macht Grenzen wieder sichtbar, die der reiche Westen gerne vergisst

Von Ulrike Baureithel

Als am vorvergangenen Samstagabend Tschechien und Polen die Grenzen nach Deutschland dichtgemacht hatten, dürfte viele Bewohner diesseits von Slubice oder Zgorzelec, Poraljów oder Všeruby ein merkwürdiges Gefühl überkommen haben. Waren es nicht immer die "Anderen", die zu uns kommen wollten? Stehen nicht immer noch Tausende vor den Toren des gelobten Landes, die um Einlass bitten? Waren wir Bundesbürger - und auch die aus der DDR - es nicht selbstverständlich gewohnt, anderswo mit offenen Armen empfangen zu werden? Nun erleben wir das, was wir normalerweise anderen zumuten, den Fremden und Unwillkommenen.

Grenzen haben eine paradoxe Wirkung. Sie schließen aus und laden dazu ein, sie zu überwinden. Was uns trennt, verbindet uns, alles Jenseitige hat eine lockende Kraft und ist doch Bedrohung. So beschreibt es die Kulturwissenschaftlerin und Pädagogin Marianne Gronemeyer und verweist gleichzeitig darauf, dass die Sicherheit, die Grenzen bieten, momentan den Reiz überbietet, den sie in ruhigeren Zeiten haben.

Weil das Virus keine Grenzen kennt, müssen wir Landesgrenzen und Haustüren schließen, um uns so weit wie möglich zu schützen. Betroffen sind nicht "die Anderen" wie man in den 1980er Jahren noch beim Auftreten der HIV-Infektion glaubte, oder die fernab Lebenden wie etwa im Falle von Ebola, sondern potenziell alle. Unter Quarantänebedingungen und dennoch global vernetzt erleben wir nun die Leistungsfähigkeit und vor allem die Schwächen unserer nationalen Gesundheitssysteme. Und wir beobachten, dass gesundheitliches Krisenmanagement in Zeiten von Corona vor allem Sicherheitspolitik ist, die sich auf die eigene Bevölkerung bezieht und von Abschottung geprägt ist.

Das kündigte sich bereits an, als Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) darauf drang, Schutzkleidung nicht mehr auszuführen, sondern dem nationalen Bedarf vorzubehalten. Umgekehrt reduzierte Indien, inzwischen die "Apotheke der Welt", die Ausfuhr von 26 pharmazeutischen Wirkstoffen, darunter Paracetamol und Antibiotika. Ein Grund dürfte dabei zwar die unterbrochene Lieferkette zwischen China und Indien gewesen sein, es gibt aber auch Hinweise auf die künstliche Verknappung des Angebots durch einzelne Arzneistoffhändler, die mit der Ausweitung der Corona-Infektion höhere Gewinne erwarten. Dem folgte die inzwischen immer lauter werdende Forderung, Medikamente vermehrt in Europa oder Deutschland herzustellen, was so schnell nicht möglich ist.

Eine unwürdige Posse

Eine geradezu unwürdige Posse spielt sich ab beim Rennen um die Entwicklung eines Corona-Impfstoffs. Mehrere Biotechnologieunternehmen weltweit beschäftigen sich derzeit damit, aus dem genetisch sequenzieren Virus ein Sars-CoV-2-Serum herzustellen. Neben der US-Biotechfirma Moderna Therapeutics, die bereits angekündigt hat, demnächst in den Phase-2-Test für einen neuen Impfstoff zu gehen, ist dieser Tage die Tübinger Firma CureVac ins Visier geraten. Ursprünglich ein Start-up-Unternehmen, dessen Mehrheitseigner SAP-Gründer Dietmar Hopp ist, wird es auch von Bill Gates’ Stiftung gesponsert. Anfang März hatte Donald Trump eine Reihe einschlägiger Anbieter ins Weiße Haus eingeladen, um sich über die Entwicklung von Corona-Impfstoffen zu informieren, darunter auch der CureVac-Chef. Kurz darauf versuchte der US-Präsident die Tübinger mit der Aussicht auf hohe Forschungszuwendungen nach Amerika zu locken oder sie zumindest dazu zu veranlassen, den potenziellen Impfstoff nur für den US-Markt zu produzieren. Hopp, vor Kurzem noch hässlich in deutschen Fußballstadien beschimpft, lehnte dankend ab.

Auch wenn die "America first"-Karte in diesem Fall nicht gestochen hat und ein wo auch immer entwickelter Impfstoff hoffentlich irgendwann weltweit eingesetzt werden kann, ist das krasse Beispiel doch symptomatisch für die immer mehr die nationalen Eigeninteressen bedienenden Versorgungsstrategien, nicht nur im medizinischen Bereich. Der Impfstoff-Wirbel lenkt den Blick aber auch auf die Folgen, die diese Health-Security-Politik hat, die sich darauf konzentriert, Gefahren für die eigene Bevölkerung abzuwehren.

Das Recht auf Gesundheit proklamierte die Weltgesundheitsorganisation WHO bei ihrer Gründung 1948 und fokussierte dieses Ziel 30 Jahre später in Alma-Ata in ihrem Primary-Health-Care-Konzept. Gesundheit für alle, war der Leitmotiv. Geleitet war die Erklärung von Alma-Ata von der Einsicht, dass Krankheit kein genuin medizinisches, sondern ein soziales Problem ist und etwas mit den Lebensumständen der Menschen zu tun hat: Ernährung, Wohnen und Zugang zu daseinswichtigen Ressourcen wie Wasser. Im Jahr 2000 sollte das Ziel "Gesundheit für alle" eingelöst sein.

Dass wir davon weit entfernt sind, bestätigen die in immer kürzeren Abständen auftretenden und global sich verbreitenden Seuchenausbrüche wie Sars, Schweine- und Vogelgrippe, Ebola und nun Corona. Infektionskrankheiten haben etwas mit Armut zu tun, das wussten schon die Väter der sozialen Medizin wie Rudolf Virchow in einer Zeit, als die Lungentuberkulose in unseren Breiten die Schwächsten dahinraffte und die Krankheit erst in den Literaturolymp aufstieg, als Reiche in Schweizer Sanatorien auf Genesung hofften.

So ein ähnliches Phänomen gibt es auch heute noch. Seit Jahrzehnten laufen vernachlässigte und armutsbedingte Krankheiten - nicht zuletzt aufgrund des Einflusses privater Geldgeber wie der Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung - unter dem Radar der gesundheitspolitischen Wahrnehmung. Malaria, Schlafkrankheit, das Dengue- und Chikungunya-Fieber und vieles mehr wurden viel zu wenig erforscht, weil die Entwicklung von Impfstoffen oder Medikamenten für die Pharmaindustrie nicht lukrativ ist. Entweder handelt es sich um kleine betroffene Populationen oder aber - oft genug - sind die Länder, wo solche Seuchen auftreten, nicht zahlungskräftig.

Denn Gesundheit ist zu einer Ware geworden, egal ob sie nun in Deutschland über "Individuelle Gesundheitsleistungen" verkauft wird oder in den Ländern des Südens, die als Billigproduzenten von Arzneimitteln und als Nachfrager von in Deutschland entwickelten Tests für Corona in Erscheinung treten. Die forcierte globalisierte Ungleichheit befördert eine globalisierte Unsicherheit. Sie betrifft Menschen im Kongo - oder wo auch immer demnächst eine der jährlich weltweit 200 registrierten Seuchen ausbrechen wird - ebenso wie hierzulande den Internet-User, der sich in einer Online-Apotheke mit unkontrollierten Medikamenten versorgt, von denen die WHO annimmt, dass jedes zweite gefälscht ist.

Privatkassen abschaffen

Diese aus der Ungleichheit resultierende Unsicherheit betrifft aber auch Patienten, die demnächst in die Krankenhäuser eingeliefert und nicht wissen werden, ob es ein Bett für sie gibt oder Personal, um sie zu versorgen. Sie betrifft Ärzte- und Pflegebelegschaften in den Kliniken, die ihren Beruf oft genug aus Idealismus gewählt haben, einst überzeugt vom deutschen Gesundheitssystem, und die feststellen mussten, wie sie über Jahrzehnte hinweg heruntergespart wurden. Der Hilferuf des Pflegers Alexander Jorde, der vor der völligen Überlastung des medizinischen Personals warnte, ist nur ein Ausdruck dieser verstetigten Verunsicherung des Berufsstands. Die vielen Menschen in der Welt, die überhaupt keinen Zugang zu gut aufgebauten medizinischen Systemen haben und dennoch an Corona erkranken, werden diese Unsicherheit weniger verspüren. Sie wissen, wie wenig sie erwarten dürfen.

Doch hierzulande simuliert man inmitten der Unsicherheit Sicherheit. Mittels der entschiedenen Gesten und Maßnahmen weißer Männer, die den Ausnahmezustand proklamieren und die Bundeswehr einsetzen wollen, wie CSU-Chef Markus Söder, oder mittels kriegerischer Semantik wie Emmanuel Macron. Der Einsatz des Militärs war von jeher ein Zeichen der inneren und äußeren Gesundheitssicherung. Fast angenehm dagegen die moderat-leisen Töne von Ministerpräsidenten wie Tobias Hans oder Daniel Günther. Sicherheit suggerieren aber auch aus dem Nichts auferstandene wissenschaftliche Koryphäen, die im Nebel stochern, was Ausmaß, Dauer und Folgen der Pandemie betrifft.

Möglicherweise wird dieser Stresstest aber auch noch ein paar gar nicht absehbare Folgen zeitigen, jenseits der "Krise als Chance"-Kuschel-Empathie. Wir werden, wenn wir das Ende der Pandemie erreicht haben - und jede Pandemie, das ist das Gute, hat ein Ende -, vielleicht darüber nachdenken, ob Patienten noch privilegiert und erster Klasse versorgt werden müssen. Die überbordenden Gesundheitsausgaben könnten dazu führen, die zusammengeschweißte Gemeinschaft davon zu überzeugen, dass die Privatkassen abgeschafft gehören. Es könnte sich herausstellen, dass es nicht ohne einen Obolus des Staats geht, um dies alles wieder in die Waage zu bringen. Und vielleicht tauchen die Forscher aus ihren Laboren nicht nur mit einem wirksamen Impfstoff auf, den alle bekommen, sondern auch mit der Erkenntnis, dass privatwirtschaftliche Forschungsanstrengungen ihre Grenzen haben. Die WHO könnte wieder in ihre angestammte Rolle hineinwachsen.

Als eigentlicher Heroe aber wird, wenn das alles überstanden ist, das medizinische Personal aus dieser Krise hervorgehen. Wenn man überhaupt von Grenzen und Fronten reden will, dann verlaufen sie an der Linie zwischen Krankheit und Gesundheit. Ärzte und Pfleger sind es, die hier mit ihrer Arbeit das Risiko persönlicher Gefährdung auf sich nehmen. Daran sollten sich alle ein Beispiel nehmen, die momentan um ihr Risikokapital fürchten. Und es selbstlos an dieser Grenze einsetzen.

Quelle: der FREITAG vom 23.03.2020. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

23. März 2020

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