Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

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Das verlorene Paradies

Von Katrin Warnatzsch, Sozialer Friedensdienst im Lebenshaus (aus: Lebenshaus Schwäbische Alb, Rundbrief Nr. 101, Juni 2019 Der gesamte Rundbrief Nr. 101 kann hier heruntergeladen werden: PDF-Datei , 758 KB. Den gedruckten Rundbrief schicken wir Ihnen/Dir gerne kostenlos zu. Bitte einfach per Mail abonnieren .)

Unsere Kleinstadt ist umgeben von vielen Äckern, Wiesen, Wald - und wir haben ein kleines Flüsschen. Noch sind die Biotope feucht und die Vögel fühlen sich hörbar wohl, Schwäne und Wasservögel spielen, Roter Milan und Wanderfalken kreisen über uns. Im Wald sind die Holzeinschläge deutlich mehr geworden, durch die große Trockenheit im letzten Sommer hatte der Borkenkäfer sich stark vermehrt.

Bei unseren Spaziergängen überholen uns immer wieder Traktoren und ungeheuer riesige landwirtschaftliche Maschinen, um die Felder zu bestellen. An Steinlagern am Rande der Feldwege kann man derzeit gut erkennen, wo die weithin sichtbaren Kalksteine auf den Feldern abgesammelt werden. Die Landschaft ist karg, weit und nur dünn besiedelt. Unter paradiesischer Fülle stellen sich manche Menschen aber vermutlich anderes vor. Finden lässt sich allerdings Ruhe und Weite.

In den Wäldern lauern keine feindlichen Terroristen, man muss keine Deckung suchen und dauernd in Anspannung die Ohren spitzen. Auf unseren Straßen gibt es zwar Raser, aber Checkpoints und bewaffnete Polizisten halten uns nicht auf.

Bei einer unserer ersten Autofahrten mit einem jungen afghanischen Geflüchteten waren wir erschrocken über seine Anspannung, die ihn an jeder nicht einsehbaren Stelle der Straße gefangen hielt. Er war es gewohnt, andauernd auf Überfälle gefasst zu sein, die das Lebensende zur Folge haben könnten. "Warum sind eure Straßen außerhalb des Ortes nicht beleuchtet?", fragte er zweifelnd.

Ein Handynetz ist fast überall vorhanden, ein Rettungswagen wäre in spätestens ca. dreißig Minuten an fast allen Orten. In unserer Stadt gibt es wenige unbewohnte oder verfallene Häuser und brachliegende Grundstücke, jedoch geht von ihnen nicht automatisch eine Bedrohung aus, wenn man daran vorbei geht. In Afghanistan dagegen sind dies Rückzugsorte für angsteinflößende Fremde oder gefährliche Baustellen.

Kinder und Frauen sieht man bei uns auch alleine unterwegs auf ihren Wegen zur Schule oder zum Einkaufen. Selbst am Abend und in der Nacht ist es für mich in unserm Ort noch nicht automatisch mit Angst verbunden, als Frau alleine von einer Veranstaltung nach Hause zu gehen. Fürsorglich haben mich mir bekannte Geflüchtete einmal nach Hause begleitet, als ich spät abends von einer Besprechung zu Fuß unterwegs war.

Alle diese alltäglichen Verrichtungen sind in Afghanistan nicht möglich. Ich höre, wie mir erzählt wird, "vom Straßenrand aus wird das Auto plötzlich beschossen und die beiden Mitfahrenden sacken tot neben mir zusammen, mein Bein ist plötzlich gefühllos und ich werde ohnmächtig, während der Fahrer weiterrast. Ich wache erst in einer Krankenstation auf, wo man mir sagt, man könne mir nicht helfen." Nach solchen Erfahrungen kann jede Autofahrt zunächst einmal eine Tortur sein. Da komme ich mir mit meinen Hinweisen auf grüne Felder und blühende Bäume komisch vor. Die Schönheit wird weg gefiltert.

Inzwischen aber ist der junge Mann ein stolzer Radfahrer, der die tägliche Anfahrt zur Arbeitsstelle auf dem Radweg neben der Straße gut bewältigt, auch bei Dunkelheit. Nur das unberechenbare Wetter und der Winter mit seinen eisigen Tücken sind tatsächliche Probleme, die ihn nun über den Führerschein nachdenken lassen.

Ein anderer junger Mann musste nachts auf einem einsamen Radweg nachhause fahren und erschrak furchtbar an einem Geräusch, das aus den Bäumen kam und das er nicht zuordnen konnte. Die Folge war ein nächtlicher Hilferuf. Wir holten ihn daraufhin dann für eine Nacht zu uns ins Lebenshaus. Nach diesem Schreck hatte er eine wochenlange Angstattacke, die ihn psychisch ganz zurückwarf. Er war erinnert worden an seine Hilflosigkeit, in der er sich, mitten in Kriegshandlungen verwickelt, alleine zurechtfinden musste.

Fahrpläne und Züge waren den jungen Afghanen unbekannt, inzwischen sind sie Selbstverständlichkeit und eine Möglichkeit, Mitfahrende kennenzulernen und vor allem, in die größeren Städte und auch wieder zurück zu gelangen. Ist der letzte Zug abgefahren, dann passiere es schon einmal, dass sie eine Nacht auf einem großen Bahnhof auf der Bank verbringen, aber eine gefährliche Katastrophe sei das auch nicht. Vertrauen in die Zuverlässigkeit und Ordnung unserer öffentlichen Organisation ist gewachsen und wird, von uns hier schon immer Lebenden kaum wahrnehmbar, als Zeichen des Friedens empfunden.

Die Bedeutung der Mütter

Ein anderer junger Afghane erzählt darüber, wie er es schon als Kind gehasst habe, die Waffe seines Vaters tragen zu müssen, während er diesen zur Feldarbeit begleiten musste. Er kommt aus einem Gebiet in Afghanistan, das von Überfällen der Terrorgruppen heimgesucht worden war, weshalb die Bauern nicht ohne Waffe zur Arbeit gegangen seien. Es sei immer wieder zu Tötungen und Gefechten gekommen, weil die nomadisch lebenden Fremden z.B. mit ihren Herden über die Felder gelaufen seien und die Ernte vernichtet worden sei; oder es seien Schafe in den Bergen gestohlen worden oder auch, Anderslebende und Unbeteiligte einfach erschossen worden. Als kleiner Junge habe er den Vater außerhalb des Hauses gar nicht ohne Waffe gekannt, das sei ein gewohntes Erscheinungsbild aller Männer gewesen.

Aber er erzählt von seiner Mutter, die schon, als er ein kleines Kind war, zu ihm gesagt habe, dass er niemals, unter keinen Umständen, einen Menschen töten dürfe. Sie habe ihm auch erklärt, dass es falsch sei, zu denken, man käme ins Paradies, wenn man Menschen töten würde. Das sei die - falsche - Ansicht der Taliban und anderer Terroristen.

Mit nachdenklichem Gesicht erzählt er von dieser liebevollen Mutter und als ich ihn frage, wie denn diese Haltung bei seiner Mutter entstehen konnte, meinte er, vielleicht von seiner Großmutter her. Er erzählt, dass er selbst sich dann als junger Mann sogar unter Folter gegen die Ausbildung zum Kämpfer für Kriegseinsätze verweigert habe. Dabei sei er fast zu Tode geschlagen worden, bis ihm endlich die Flucht gelungen sei.

Er sagt: "Ich mache gerade ein Praktikum bei einem Bäcker. Ich sehe, dass der Chef und die Mitarbeiter mit diesem Beruf gut leben können. Brot brauchen alle Menschen. Wir brauchen keine Waffen." Mit schnellen Handbewegungen zeigt er mir, wie er eine Brezel schlingen gelernt hat. Vielleicht gelingt es ihm, einen Ausbildungsplatz als Bäcker zu erhalten.

Ein anderer junger Mann, der sich als Jugendlicher auf die Flucht gemacht hatte, erzählt ähnliches über seine Mutter, von der er schon früh getrennt worden sei. Sein Vater sei getötet worden, als er erst drei Jahre alt und sein Bruder gerade geboren war. Die Mutter hätte dann sehr schnell wiederverheiratet werden müssen, denn sonst wäre sie getötet worden. Er habe dann einen extrem strengen Stiefvater gehabt, der ihn täglich geschlagen habe, sein Kopf sei immer vollkommen verbeult gewesen, bis heute habe er davon Narben am Körper. Essen und Versorgung habe er nur erhalten, wenn er als Tagelöhner am Abend Geld nach Hause bringen konnte. Sein kleiner Bruder habe Epilepsie gehabt und er habe auch für dessen Essen arbeiten müssen. Deshalb kenne er Kinderarbeit auf allen denkbaren Baustellen, z.B. in giftigen Aluminiumdämpfen, von wo er immer vollkommen schwarz nach Hause gekommen sei. Heimlich habe er ca. ein Jahr lang eine kleine Schule besucht, während er trotzdem für sein tägliches Essen arbeiten gegangen sei. Als der Stiefvater herausgefunden habe, dass er zur Schule gegangen war und weiter lernen wollte, habe er ihn fast zu Tode geschlagen und habe ihn samt dem kleinen Bruder für immer aus seinem Haus geworfen. Da sei er ungefähr zwölf Jahre alt gewesen.

An seine Mutter jedoch habe er so gute Erinnerungen, dass ihm jedes Mal die Tränen kommen, wenn er an sie erinnert wird. Sie habe ihm immer am Abend die schmutzigen, aufgerissenen Füße mit dem Milchfett ihrer einzigen Kuh einmassiert. Er habe nie Schuhe besessen.

Seine Mutter habe der Stiefvater vor die Wahl gestellt, entweder zu ihren Söhnen zu halten und mit ihnen zusammen das Haus zu verlassen. Diese Schande hätte der Stiefvater nicht untätig geschehen lassen. Oder die Mutter müsse ohne ihre Kinder bei ihm bleiben, um als Zweitfrau seine erste, schon hilfsbedürftige Frau zu versorgen und den großen Haushalt zu führen. Unter unendlichen Tränen hätten sich Mutter und Söhne getrennt, vermutlich würden sie sich niemals wiedersehen. Es gäbe seit Jahren keinen Kontakt mehr.

Fuß fassen

Ein anderer junger Mann aus Afghanistan hat nach einem Schulpraktikum im Kindergarten, von dem er ganz begeistert war, nun auch im Altenpflegeheim ein weiteres Praktikum absolviert. Für ihn war es hilfreich, zwei soziale Berufe miteinander vergleichen zu dürfen. Vielleicht ermutigt es ihn, seinem Traum vom Erzieherberuf entgegenzugehen und sich nach dem Hauptschulabschluss auch die Mittlere Reife zuzutrauen.

Dieser junge Mann leidet nach einer Kriegsverletzung unter anderem an einer eingeschränkten Belastbarkeit seiner rechten Hand. Da er Rechtshänder ist, kommen Handwerksberufe nicht in Frage. Damit die fortschreitende Verschlechterung der Beweglichkeit der Finger aufgehalten werden kann, habe ich eine Ergotherapie angeregt und den Kontakt vermittelt. Zusammen mit seinem Ergotherapeuten, zu dem er ein Vertrauensverhältnis aufbauen konnte, haben wir überlegt, welche Berufsausbildungen in Frage kommen könnten. Auch bei der Berufsberatung der Agentur für Arbeit wird er ausführlich beraten.

Nach der Ablehnung seines Asylantrags haben wir gemeinsam darüber beraten und dann über unsern Rechtsanwalt Klage vor dem Verwaltungsgericht eingereicht. Gemeinsam haben wir eine schriftliche Klagebegründung ausgearbeitet und vor der Gerichtsverhandlung führten wir noch viele Gespräche. Die Klage war dann erfolgreich und er erhielt eine Aufenthaltserlaubnis.

Endlich darf er nun seine Zukunft in Deutschland planen. Die Erleichterung darüber hat ungeahnte Kräfte und Lebensmut in ihm freigesetzt. Seit vielen Jahren kann er endlich wieder ohne Schlafmittel einschlafen.

Die meisten der geflüchteten Männer, die in unserer Stadt zu Beginn des Jahres 2016 angekommen waren, haben nun inzwischen Arbeit, machen eine Ausbildung oder gehen noch zur Schule, um ihre Chancen auf einen Ausbildungsplatz zu erhöhen. Ihre Sprachkenntnisse und -fertigkeiten sind inzwischen soweit angewachsen, dass sie eine Unterhaltung alleine führen können, wenn der schwäbische Dialekt, auf den sie hier vielfach treffen, auch nach wie vor nicht barrierefrei ist. Die allermeisten sagen, dass sie am liebsten auf Dauer in unserer Stadt wohnen und arbeiten möchten, weil sie hier ihre Anlaufpunkte, freundliche Menschen und Entgegenkommen gefunden hätten.

Trotz dieser positiven Entwicklungen bleibt bei allen Geflüchteten die Sehnsucht nach ihren verlorenen Familien als mindestens unterschwellig vorhandene Grundstimmung spürbar. Sie bleiben gezeichnet von der Entwurzelung und Flucht. Das Bemühen, sich im neuen Leben gerne einzufinden, ist ja ursprünglich nicht freiwillig, sondern wegen der Fluchtgründe erzwungenermaßen notwendig. Sobald sie eine offizielle Erlaubnis zum Aufenthalt erhalten haben, kann sich endlich Erleichterung einstellen. Die Angehörigen können jedoch in den meisten Fällen nicht nachkommen und das Heimatland kann niemals mehr besucht werden.

Europa und die Grenzen

Wenn allerdings eine endgültige Ablehnung eines dauerhaften Aufenthaltsrechtes in Deutschland und damit in Europa erteilt wird, nimmt die innere Zerrissenheit massiv zu. Manche zerbrechen und fliehen weiter, in der irrenden Annahme, woanders in Europa könnte es besser sein.

Nein, Europa macht für Flüchtende die Grenzen nach außen wie nach innen dicht. Menschen mit endgültig abgelehntem Asylverfahren müssen es dem "Zufall" überlassen, ob sie weiter unbehelligt in Deutschland geduldet werden und wie lange. Ein unsichtbares Rad dreht sich, in dessen Abschiebemechanismus sie unmerklich gezogen werden. Während die Ursachen für ihre Flucht aus ihrer Heimat in den allermeisten Fällen nicht in den nächsten Jahren wegfallen werden.

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Fußnoten

Veröffentlicht am

14. Juni 2019

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