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Hildegard Goss-Mayr: “Größter Wunsch, dass wir nie die Hoffnung und die Haltung der Gewaltfreiheit verlieren”

Interview mit Hildegard Goss-Mayr zu ihrem 90. Geburtstag

Fr. Dr. Goss-Mayr, Sie sind Ehrenpräsidentin des Internationalen Versöhnungsbundes und blicken auf ein sehr, sehr langes intensives Wirken im Dienste von Versöhnung und Frieden zurück. Sie feiern dieser Tage ihren 90. Geburtstag. Wie werden Sie denn Ihren Geburtstag feiern?

Es ist nicht so einfach einen Geburtstag mit 90 Jahren zu feiern. Ich werde gefeiert. Von einigen Freunden und auch von einer Gruppe des Versöhnungsbundes wird eine gemeinsame Veranstaltung vorbereitet. Wir werden auf die verschiedenen Etappen meines Lebens eingehen, aber auch auf die Aufgaben in der Friedensbewegung heute.

Sie verfolgen das Zeitgeschehen nach wie vor mit viel Interesse und Engagement?

Wir müssen in Österreich, gerade auch heute, die Friedensfrage stark in den Vordergrund stellen. Österreich hat diesbezüglich eine große Aufgabe, sowohl im eigenen Land als auch international. Als ein immer noch neutrales Land ist es unsere Aufgabe, Brücken zu bauen zwischen Staaten und Konfliktparteien. Der Internationale Versöhnungsbund hat auch immer mitgeholfen, Menschen vorzubereiten, damit sie fähig sind, solche Aufgaben zu übernehmen.

Die neue Bundesregierung möchte einen zivilen Friedensdienst einführen. Das würde ja genau in diese Richtung gehen, dass junge oder auch nicht mehr ganz so junge Menschen aus Österreich sich in aller Welt für Frieden und Versöhnung engagieren.

Es wäre ganz wichtig, dass diese Friedensdienste sowohl in Österreich als auch international durchgeführt werden; überall dort, wo es Konflikte gibt und wo man eingeladen wird mitzuhelfen und eine Basis zu schaffen, damit ein Dialog in Gang kommen kann.

Sie waren über viele Jahrzehnt in allen Teilen der Welt aktiv und haben im Dienst am Frieden auch sehr viel erreicht. Und trotzdem: Wenn man sich aktuell die vielen Konflikte in aller Welt ansieht, ist das für Sie nicht auch sehr entmutigend?

Meine Einstellung war immer die: Man sollte nicht darauf warten welchen Erfolg man sieht, sondern die Tatsache, dass am Frieden gearbeitet wird, dass man nicht nachgibt, dass man beharrlich dran bleibt, das ist entscheidend. Das schien mir immer eine ganz wesentliche Sache. Es war dann schön, dass wir hie und da Erfolge gesehen haben wie z.B. auf den Philippinen, wo wir mithelfen konnten, die Marcos-Diktatur zu überwinden. Und auch in der Ost-West-Arbeit konnten wir etwas bewirken. Aber wichtig ist einfach, dass man zu seinen Überzeugungen steht und auch dann weitermacht, wenn es Schwierigkeiten gibt.

Sie haben Ihre Friedensinitiativen im Hinblick auf den Ost-West-Konflikt angesprochen. In der Zeit des Kalten Krieges in den 1950er und 1960er Jahren waren sie hier vor allem sehr aktiv. Wie schwierig oder einfach war es denn, im Vergleich zu Konflikten in anderen Gebieten der Welt, in diesem Konflikt etwas zu erreichen?

Im Ost-West-Konflikt war es vor allem wichtig zu zeigen, dass man weder dem Westen unbedingt verbunden ist mit seiner Politik, noch dem Osten. Dass man also weder die kommunistische Seite noch die westlich kapitalistische Seite unterstützt, sondern bemüht ist, Punkte aufzuarbeiten, wo ein Miteinander möglich ist und wo man über die Spannungen hinweg erste Brücken bauen kann, damit es zu Veränderungen kommt. Das, glaube ich, schien mir unsere wesentliche Aufgabe: den Dialog zu fördern, den Dialog möglich zu machen. Und deshalb waren wir in dieser Zeit immer bemüht, Besuche in Osteuropa durchzuführen; zunächst in Polen, aber dann auch bei den kommunistischen Weltjugendspielen. Wir haben Gruppen organisiert die sich mit dem Thema Abrüstung beschäftigten und für Gewaltfreiheit interessierten. Dann haben wir Möglichkeiten gefunden, Menschen von Ost und West zusammenzubringen zu Gesprächen. Dabei ging es um die grundsätzlichen Haltungen von Humanität, gegenseitiger Achtung, Abrüstung und wie man Friedensschritte setzen kann.

Wie waren denn Ihre Erfahrungen damals? Hatten die Menschen auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs die gleichen Sehnsüchte nach Frieden und einfach einem guten Leben?

Es war unter der einfachen Bevölkerung natürlich der entsprechende Wille und Wunsch da. Wenn wir zum Beispiel in Russland bei den Weltjugendspielen Kontakt hatten mit der Bevölkerung, dann war der Wunsch nach Begegnung sehr stark. Und es ist mir damals auch gelungen in einem ganz spezifischen Ausschuss der sowjetischen Jugendbewegung zu sprechen und für gegenseitige Achtung und Wertschätzung zu plädieren. Und ich glaube, das wurde dann auch auf kommunistischer Seite von den Menschen mit großer Freude angenommen.

Sie waren beim Zweiten Vatikanischen Konzil engagiert und haben sich gemeinsam mit ihrem Mann Jean Goss und einigen anderen Theologen sehr massiv dafür eingesetzt, dass das Prinzip der Gewaltlosigkeit - das ja biblisch verankert ist, aber zumindest zum damaligen Zeitpunkt, so scheint es, in der katholischen Kirche noch nicht ganz durchgedrungen war - stärkeres Gewicht bekommt. Jetzt ist das für Leute wie mich, die nach dem Konzil geboren sind, eigentlich eine Selbstverständlichkeit, dass man den Militärdienst zum Beispiel aus Gewissensgründen verweigern und stattdessen Zivildienst machen kann. Wie schwierig war es denn aber beim Konzil, die Bischöfe von so etwas zu überzeugen?

Sehr schwierig. Vor allem weil wir mitten im Kalten Krieg waren und die Kirche sich doch sehr stark mit dem Westen identifizierte. Wir haben dann einerseits versucht, eine Gruppe von Theologen zu gewinnen, die mit Karl Rahner gearbeitet haben, und die vor allem auch über die damals vorherrschende Theologie des gerechten Krieges hinausgegangen sind und bereit waren, sich für Gewaltfreiheit einzusetzen. Es ist dann gelungen, eine Gruppe von Bischöfen zusammenzubringen, die im Konzil diese Fragen eingebracht hat. So kam, vielleicht auch ein bisschen am Rande aber doch, die Frage der Gewaltfreiheit ins Konzil und auch die Legitimität der Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen.

Dass man den Kriegsdienst aus Gewissensgründen verweigern kann, wäre vor dem Konzil in der katholischen Kirche nicht legitim gewesen?

Kriegsdienstverweigerer wurden eher als eine Art Sekte angesehen. Die Theologie betonte den Gehorsam gegenüber dem Staat und die Frage der Gewissensfreiheit musste im Konzil erst wirklich erarbeitet und bestätigt werden. Und dazu konnten wir Beiträge und Vorschläge erstellen und sie mit Theologen und Bischöfe einbringen.

Heute spricht niemand mehr davon, dass er einen gerechten oder auch ungerechten Krieg führt. Heute wird Gewalt mit der Floskel vom Kampf gegen den Terror zu legitimieren versucht. Wie sehen Sie diese Entwicklung?

Ich bin überzeugt, dass wir die Frage des Terrorismus grundlegend untersuchen müssen. Warum gibt es diesen Terrorismus? Welche Menschen sind involviert? Welche Bedürfnisse wurden nicht erfüllt, sodass sie zu Terroristen geworden sind? Und dann muss man versuchen, die Konfliktparteien einander näher zu bringen, mit vielen kleinen Schritten. Das haben wir oft und sehr intensiv gemacht, in vielen Kursen und Seminaren. Wir haben uns bemüht, Menschen in dieser Bereitschaft, sich gewaltfrei einzusetzen, zu schulen, damit sie dann auch bei größeren Konflikten einsatzbereit waren, wie etwa auf den Philippinen.

Haben Sie auch die Erfahrung gemacht, dass es einfach Menschen gibt, wo man mit allen Bemühungen um Gewaltfreiheit einfach nichts ausrichten kann?

Naja, die Haltung, Ungerechtigkeit gegenüber Gewalt anzuwenden, ist schon stark verwurzelt in den Kulturen. Aber man hat auch gesehen, dass es in den verschiedenen Kulturen und Religionen bei den Wurzeln immer auch Aspekte von alternativen Ansätzen zu Gewalt gibt. Und das war uns auch sehr wichtig, diese Ansätze zum Beispiel im Buddhismus herauszuarbeiten. Oder auch in unserer Arbeit mit den vielen christlichen Kirchen, aber dann auch in der Auseinandersetzung mit dem Islam. Immer galt und gilt es, diese Kräfte zu stärken, die die Wurzeln der Gewaltfreiheit in sich tragen. Und das ist schon auch immer wieder gelungen.

Gerade dem Islam wird ja immer vorgeworfen, dass er von Grund auf eine Religion mit sehr viel Gewaltpotenzial ist. Können Sie das von Ihren Erfahrungen her bestätigen oder widerlegen?

Da gibt es einfach verschiedene Richtungen bzw. Orientierungen innerhalb des Islam. Es ist aber durchaus möglich, innerhalb des Islam jene Kräfte zu stärken, die den gewaltfreien Weg suchen und auch bereit sind ihn zu beschreiten. Auch mit muslimischen Partnern ist es uns immer wieder gelungen, gemeinsame Initiativen in Konfliktsituationen zu ergreifen; etwa im Balkankrieg. Hier ist es dem Versöhnungsbund gelungen, Menschen verschiedener religiöser und kultureller Traditionen zusammenzubringen und mit ihnen gemeinsame Versöhnungsschritte zu erarbeiten. Auch in Algerien gab es muslimische Gruppen, die ansprechbar waren für die Haltung der Gewaltfreiheit.

Sie sind ja eine tief gläubige Christin, Katholikin, und das ist immer ein ganz wesentliches Element ihrer Arbeit gewesen und ist es bis heute. Wenn man im Versöhnungsbund mitarbeiten will, muss man dann Christ sein oder kann man irgendeiner Religion oder auch gar keiner Religion angehören? Genügt es, sich "nur" für den Frieden einsetzen? Welche Bedeutung spielt die Religion in Ihrer Arbeit?

Für mich bedeutet sie viel, sie ist schon sehr wesentlich. Aber ich respektiere alle, die aus rein humanitären Gründen zur Haltung der Gewaltfreiheit gelangen. Und ich glaube, es ist auch sehr wichtig, dass wir diese Zusammenarbeit fördern und im Versöhnungsbund die Möglichkeit bieten, Menschen mit Glauben und Menschen ohne religiösen Glauben für die Gewaltfreiheit zu motivieren, sie darin zu schulen und in ihrer Praxis unterstützen.

Gewaltfreiheit bedeutet ja nicht, dass man einfach nur den Kopf einzieht und Unrecht über sich ergehen lässt, sondern dass man sehr deutlich dagegen auftritt, aber eben ohne Gewalt. Welche sind die wesentlichen Prinzipien, die sie in Lateinamerika, in Afrika oder wo auch immer den Menschen zu vermitteln versuchten?

Ein wesentlicher Punkt ist natürlich zunächst die Achtung vor dem einzelnen Menschen, gleichgültig welcher Religion oder welcher Überzeugung er angehört. Und das zweite ist dann, dass wir uns schulen; selbst einmal persönlich schulen in der Haltung der Gewaltfreiheit in unserem eigenen Verhalten gegenüber anderen Menschen, in unserem Beruf und in der Ausbildung. Und dass wir das dann in die Gesellschaft einbringen. Hier hat der Versöhnungsbund Menschen vorbereitet, dass sie in der Gesellschaft fähig werden, die Haltung der Gewaltfreiheit voranzubringen; sowohl auf der Regierungsebene als auch im sozialen Bereich, in der Pädagogik und so weiter.

Vieles, was früher vielleicht in anderer Form in Gewalt Ausdruck gefunden hat, wird heute einfach über die sozialen Medien in Hasspostings verbreitet, mit teilweise wirklich desaströsen Auswirkungen. Wie sehen Sie dieses Problem?

Es ist immer wichtig, zunächst nach den Wurzeln für gewaltsames Verhalten zu fragen. Und das ist bei uns gegenwärtig die Frage der vielen Immigranten, der Zuwanderer, die andere Grundprinzipien vertreten. Wo können wir hier Ansätze schaffen, dass wir die gemeinsamen Faktoren stärken und dass wir auch weiterhin im Dialog bleiben? Es wird sehr schnell bei uns der Dialog abgebrochen und gesagt: "Da geht es nicht weiter". Aber wenn man lernt, einen Dialog wirklich zu führen, in dem zunächst die Persönlichkeit des anderen akzeptiert wird, und man jene Wurzeln aufdeckt, die wir gemeinsam haben, auf humanitärer oder religiöser Ebene, dann sind wir schon ein gutes Stück weiter und können auch zu gemeinsamen Lösungen kommen. Wir müssen den Kontakt zum Beispiel mit den Politikern halten und mit Gruppierungen, die Einfluss haben auf unsere Regierung, mit den Gewerkschaften, mit Jugendorganisationen und so weiter. Ich hoffe, dass mit den Grünen in der Regierung jetzt auch die dialogische Perspektive politisch in den Vordergrund gestellt wird.

Sie haben mehrere Auszeichnungen und auch Friedenspreise bekommen. Sie waren zweimal für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen. Den haben sie allerdings nicht bekommen. Sind Sie sehr traurig darüber?

(Lacht herzlich) Mir war es wichtiger, dass Adolfo Perez Esquivel in Lateinamerika den Nobelpreis bekommen hat.

Das war einer ihrer Mitstreiter …

Ja und der Preis war für seine Arbeit sehr, sehr wichtig. Der Niwano-Friedenspreis, den ich bekommen habe, der hat mich auch sehr gefreut und er hat uns auch ein bisschen finanzielle Unterstützung gebracht für unsere Arbeit.

Kann man gut leben von der Friedensarbeit? Wenn Sie Waffen verkauft hätten, hätten sie vermutlich mehr verdient? Wie haben Sie Ihre Arbeit finanziert?

Mein Mann und ich waren wirklich lange Zeit beim Internationalen Versöhnungsbund angestellt und da hatten wir doch ein mäßiges, aber immerhin gesichertes Einkommen. Und später hatten wir dann Unterstützungskreise, die wir aufgebaut haben.

Sie haben auch viele Jahre in verschiedenen Ländern Afrikas gewirkt …

Es gibt jetzt Gruppen in verschiedenen afrikanischen Staaten, die die Haltung der Gewaltfreiheit vertreten und sich für Versöhnung einsetzen. Vor allem ist die Bewegung in den anglophonen Ländern stark und aktiv, weniger in den frankophonen.

Wie sehen Sie denn die Entwicklung in Europa? In der Europäischen Union gibt es immer mehr Länder, die sich auf eigene nationalistische Interessen zurückziehen. Österreich ist da auch nicht wirklich die große löbliche Ausnahme.

Das ist wirklich eine große Gefahr, dass man immer wieder nationale Eigeninteressen in den Vordergrund spielen will.

Was wäre Ihr Wunsch für Europa, Ihre Vision?

Ich habe noch die Hoffnung, dass die Europäische Union wirklich gemeinsame Werte entwickelt und nicht auf Aufrüstung, sondern auf internationale Friedensarbeit setzt.

Und was wünschen Sie sich zum Geburtstag?

Mein größter Wunsch ist, und den möchte ich auch vielen jungen Menschen mitteilen, dass wir nie die Hoffnung verlieren, dass wir nie die Haltung der Gewaltfreiheit und die Gewissheit verlieren, dass die Haltung der Gewaltfreiheit diejenige ist, die wirklich den Menschen dient und die zutiefst verwurzelt ist in unserem Menschsein. Und dass wir sie nie aufgeben und immer fördern wollen. Das ist meine Hoffnung und mein Appell an die jungen Menschen.

Interview: Internationaler Versöhnungsbund, Georg Pulling

Quelle: Internationaler Versöhnungsbund - Österreichischer Zweig - Pressemappe vom 16.01.2020 zum 90. Geburtstag von Hildegard Goss-Mayr.

Veröffentlicht am

22. Januar 2020

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