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Rudi Dutschke (1940-1979) Teil I: Der Mensch

Erinnerung an einen deutschen Linken. 

Von Elmar Klink

Es ist vielleicht kein reiner Zufall, dass zwei bedeutende Ereignisse in der deutschen Nachkriegsgeschichte von Menschen beeinflusst und bestimmt wurden, die aus der DDR kamen bzw. in der DDR gegen Ende ihres Bestehens auftraten. Gemeint ist die Person des westdeutschen Studentenführers Rudi Dutschke und sind die Bürger*innen und Bürgerrechtsbewegung, die 1989 die "friedliche Revolution" in der DDR initiierten und einleiteten. Es war der kleinere Teil Deutschlands, aus dem sie kamen, der von einem System und Regime des "realen Sozialismus" geprägt und beherrscht wurde. Dutschke und die Köpfe der DDR-Opposition hatten in ihrer Kindheit und Jugend eine andere Sozialisation erfahren und durchlaufen als die Menschen im größeren kapitalistisch-demokratischen Teil Deutschlands. Das war für ihre politische Einstellung nicht unwesentlich und machte den entscheidenden Unterschied aus. Wäre der junge Rudi Dutschke nicht sozusagen im letzten Moment 1961 in den Westsektor des geteilten Berlin gelangt, wenige Tage vor dem Mauerbau, wäre aus ihm vielleicht ein erfolgreicher Leistungssportler der DDR geworden, der es in der Sparte Leichtathletik, etwa im Zehnkampf (Dritter der DDR-Jugend), hätte weit bringen können oder er wäre als erfolgreicher Boxer, Ringer oder Fußballer hervorgetreten. Denn all diese Sportarten waren die großen Leidenschaften Dutschkes in seinen frühen Jahren, in denen es der gerade mal etwa 1,70 Meter große Dutschke zu beachtlichen Leistungen brachte.

Seine hervorragende körperliche Kondition sollte ihn noch manches Mal bei turbulenten Straßendemonstrationen vor dem Zugriff der Berliner Polizei retten, dem er sich im Laufen und Überspringen von Hürden mehr als einmal mit Erfolg entziehen konnte. .Es könnte aber auch sein, er wäre in einem DDR-Staatsgefängnis gelandet, denn der von der evangelischen Jungen Gemeinde beeinflusste Dutschke war als junger Mann schon regimekritisch, bekannte sich dazu und rief in einer Schülerrede dazu auf, den Dienst in der Nationalen Volksarmee zu verweigern und vermasselte sich damit den Schulbesuch bis zum Abitur und ein beabsichtigtes Sportstudium. Der Grund, weshalb er ins damals noch über die Sektorenübergänge frei zugängliche West-Berlin pendelte, um ein West-Abitur zu bekommen. Noch in der DDR hatte er 1958 eine Industriekaufmannslehre begonnen. Die trennende Mauer, die der Staatsratsvorsitzende Ulbricht angeblich nie die Absicht hatte zu errichten, verwehrte ihm dann die gewohnte Rückkehr in seine brandenburgische Heimatstadt. Dutschke, einer der ersten unfreiwillig "Ausgebürgerten".

Dutschke war im deutschen Protestjahr 1968 und auch schon davor die anerkannte Führungsgestalt der Student*innenbewegung und er war zugleich für einen nicht unerheblichen Teil der Deutschen in Westberlin und Westdeutschland sowas wie die meist gehassteste Person aus dem linken politischen Spektrum. Über ihn empörte und publizistisch aufgehetzte deutsche Arbeiter wünschten ihn zurück nach "drüben", das war noch die harmloseste Variante der Anfeindung. Viele andere hätten ihn am liebsten am nächsten Baum aufgehängt, "vergast" oder zu Tode geprügelt, wären sie seiner im passenden Moment habhaft geworden. Doch meist bewegte sich der drahtig Durchtrainierte gut geschützt im Kreis seiner Freunde und politischen Weggenossen, die mit auf ihn aufpassten. Bei Demonstrationen sah man ihn zumeist jedoch in der vordersten Reihe seine Parolen rufen. Da war er exponiert und exponierte sich, griff Absperrungen der Polizei an und ging mit Körpereinsatz und Motorradhelm untergehakt gegen geschlossene Reihen von bewaffneten Bereitschaftspolizisten vor, enthielt sich aber jeglicher Gewalt gegen Personen. Anders als die emporkommende RAF machten die demonstrierenden Student*innen einen Unterschied zwischen Gewalt gegen Sachen und Personen. Es hält sich die Anekdote, Dutschke und seine Frau Gretchen Klotz hätten mit dem Kinderwagen, in dem ihr erster Sohn Hosea Che oben auflag, eine unter dem Baby versteckte Ladung Dynamit irgendwo in Berlins Kanälen entsorgt, die der italienische Verleger Feltrinelli noch im Winter Anfang 1968 in seinem VW nach Berlin geschleust hatte, damit die deutschen Studenten ihre Argumente explosiv unterstreichen könnten.

Dutschke war ein Straßenkämpfer, glänzender Agitator (dabei rhetorisch kein besonders geschulter Redner), politischer Denker des Augenblicks, aber auch der strategischen Perspektive. Kurz: er war ein Radikaler, ein Revolutionär und Sozialist. Ein Staats- und Volksfeind Nr. 1 in jenen Tagen. Feindbild der reaktionären Springer-Presse, gegen die er mit scharfen Argumenten zu Felde zog. Die wiederum in Hassparolen gegen ihn hetzte. Er konnte Menschen agitieren und hinter sich einen. Dutschke hatte ein seltenes Charisma als Mensch und politisches Idol. Er war für die Herrschenden eine Gefahr und ständiges Ärgernis. Hängt Dutschke! - wünschten sich nicht wenige. Ein solchermaßen von rechter Presse und "Volksstimmung" Aufgehetzter, der 23-jährige Arbeiter Josef Bachmann, tat es dann: Er lauerte ihm heimtückisch vor dem SDS-Büro auf und gab in der Osterwoche 1968 aus seiner Pistole drei Schüsse aus nächster Nähe auf ihn ab, dabei auf den Kopf zielend. Es war für den lebensgefährlich Getroffenen das politische Aus für viele Jahre. Es kostete ihn am Ende an Heiligabend 1979 als physische Langzeitfolge das Leben, als Dutschke während eines epileptischen Anfalls in der eigenen Badewanne ertrank. Gleich daneben war in der Küche seine Frau, Gretchen Klotz, damit beschäftigt, das Weihnachtsessen vorzubereiten. Dutschkes Leben endete ähnlich grotesk und banal wie das des französischen Revolutionärs Jean Paul Marat, den man allerdings in der Badewanne erstach.

Dabei hatte der politisch-physisch aus dem eigenen Land vertriebene, ehemalige Studentenführer gerade wieder neue Pläne gefasst. Man bereitete den Umzug von der dänischen Universitätsstadt Aarhus ins norddeutsche Bremen vor. Dutschke betätigte sich schon seit einer Reihe von Jahren im Hintergrund der sich neu bildenden grün-bunt-alternativen Listen, die häufig schon bei Kommunal- und Landtagswahlen antraten und erste Erfolge mit errungenen Mandaten erzielten. Es war ein etwas anderer Parteiaufbau, vielversprechend im Verlauf. Keiner mehr zu einer kommunistischen oder sozialistischen Partei, sondern zu einer grün-ökologischen Formation. Dutschke stand dabei repräsentativ für einen öko-sozialistischen Flügel und er war für den geplanten Gründungskongress 1980 einer bundesweiten Grünen Partei als einer der Bremer Delegierten vorgesehen. Seine Reden, die man vom ihm dazu erwarten durfte, blieben nun ungehalten. Noch einmal schlug das politische Schicksal gegen ihn zu, ein letztes Mal. Zuversichtlich notierte er für eine Silvester-Umfrage unter Prominenten der "Süddeutschen Zeitung": "Ich hoffe … in den 80ern zu denjenigen zu gehören, die eine erste Wende in der zunehmenden Atomisierung und Chemisierung in der Gesellschaft erkämpfen. Freiheit, Frieden und Sicherheit in einem sozialen befreienden Sinne, d. h. Demokratie und Sozialismus ist weiterhin meine Grundhoffnung" (zit. nach J. Miermeister: "Rudi Dutschke", S. 125). Alles, was in biografischen und selbstbiografischen Werken zum Kontext Ökologie und Sozialismus verstreut von ihm bekannt ist und geäußert wurde, blieb systematisch ungeordnet und kaum ausformuliert. Einen festgehaltenen Anhaltspunkt als "Öko-Exzerpt" bietet der Beitrag "Rudi und die Grünen - Das Naturproblem als christliche, soziale und ökologische Frage" von Dutschkes Witwe Gretchen Dutschke-Klotz, einer u. a. bei Helmut Gollwitzer ausgebildeten Theologin mit US-amerikanischer Staatsbürgerinschaft (siehe Peter Bernhardi/Arbeitskreis Karl Liebknecht, Hrsg.: Rudi Dutschke. Frankfurt/M. 1987, S. 68-73).

Die Schüsse am Gründonnerstag auf Dutschke waren "Schüsse auf die Revolution", ein öffentliches Fanal und eine radikale politische Zäsur auf dem Höhepunkt der Student*innenproteste nicht nur in bedeutenden deutschen Universitätsstädten wie Berlin, Hamburg, Göttingen, Frankfurt, Heidelberg, Tübingen, München. Auch im Pariser Mai oder an amerikanischen Universitäten wie in Berkley-San Francisco und, Chicago, oder in London, Barcelona, Mailand und Rom. Es war ein in der westlichen Hemisphäre weltweites Aufbegehren vor allem der studentischen Jugend, verbunden aber auch mit einem allgemeinen kulturellen Auf- und Umbruch, der ganze Lebensbereiche, nicht nur den der Bildung erfasste. "Unter den Talaren Muff von tausend Jahren", war ein schreiendes Protest-Motto dieser sozialen Bewegung gegen das verknöcherte Nachkriegsestablishment in Westdeutschland. Bis weit in die 1960er Jahre waren Justiz, Hochschulen, Schulen, Verwaltung, Polizei und Politik durchdrungen von den "alten Kräften" und Eliten, die sich noch aus der Nazi-Ära in die Zeit nach 1945 hinübergerettet hatten. Über acht Millionen Mitglieder der NSDAP Hitlers mussten ja irgendwo abgeblieben sein, die häufig in der "Etappe" der Heimat überlebten, nicht an den Kriegsfronten starben. Die von den alliierten Siegern betriebene "Säuberung" durch Kriegsverbrecherprozesse und "Entnazifizierung" hielt nicht lange an. Ein in den westlichen Einflussbereich reintegriertes, antikommunistisches Westdeutschland wurde im aufziehenden Kalten Krieg der Blockkonfrontation als zuverlässiger Partner bald wieder wichtiger als historische Aufarbeitung, Wahrheitsfindung, Straf- und Sühnejustiz. Häufig existierten in vielen gesellschaftlichen Bereichen noch die Seilschaften früherer NS-Solidaritäten. Der Frankfurter Oberstaatsanwalt Fritz Bauer, maßgeblicher Initiator der erst in den sechziger Jahren angestrengten Auschwitz-Prozesse, starb unter mysteriösen, nie aufgeklärten Umständen durch Tod in der Badewanne. Er hatte seine Erkenntnisse über den Verbleib des Kriegsverbrechers Adolf Eichmann zuerst an den israelischen Staat und dessen Geheimdienst Mossad weitergegeben, weil er den deutschen Justiz- und Ermittlungsinstanzen zutiefst misstraute. Adenauer und sein Staatssekretär Globke, ein gewendeter Alt-Nazi, versuchten Bauers Anstrengungen zu hintertreiben. .

Der Protest der studentischen Jugend richtete sich zunächst gegen das Schweige- und Verdrängungskartell der Generation der Täter und Mitläufer. Derer, die aktiv mitwirkten und passiv schwiegen darüber, was sie wissen konnten, wissen mussten. Erst in einer zweiten Welle richteten sich die Proteste dann gegen den imperialistischen Krieg der USA in Vietnam und verband sich mit ersterem. Für viele war Revolte angesagt, für nicht wenige gleich eine ganze Revolution. An Schulen und Gymnasien fürchtete man bis in die tiefste Provinz einen studentisch gelenkten "Kinderkreuzzug". Das politische Kartell brach auf und zeitweise zusammen, nachdem Adenauer abgetreten war und die erste Große Koalition von Union und SPD antrat, die eher ungewollt Denk- und Aktionsräume eröffnete. Protest wurde möglich und auch "Widerstand" auf der Straße, obwohl gerade in West-Berlin ein SPD-geführter Senat zum Teil hart gegen die Demonstrierenden vorging. Der von der SPD losgelöste Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) wurde zum organisatorischen und ideologischen Dreh- und Angelpunkt der Proteste und dieses Widerstands. Rudi Dutschke, der im letzten Moment "Rübergemachte" aus Luckenwalde südlich von Berlin in der DDR, avancierte bald zur Gallionsfigur des SDS, zum "Lautsprecher", wie es Daniel Cohn-Bendit, der Weggenosse, einmal nüchtern nannte.

Dieser Rudi Dutschke war nun mit lebensgefährlichen Kopfverletzungen "aus dem Verkehr" gezogen, was sicher nicht wenigen sehr recht war, die ihm gerne einen Denkzettel verpassen wollten. Stundenlang rangen die Ärzte operativ um sein Leben. Am Ende, so ein Bulletin, fehlten ihm gut zehn Zentimeter an Umfang seines Gehirns, das zerstört entfernt werden musste. Zentrale Nerven waren betroffen, das Sehvermögen (auf einem Auge erblindete er fast ganz), die Sprachfähigkeit, die Erinnerung. Zwei Kugeln waren direkt und tief in das Gehirn gedrungen, verrichteten ihr Zerstörungswerk, hinterließen Splitter, die nicht alle entfernt werden konnten. Wie durch ein Wunder und dank nicht zuletzt seiner starken Kondition, überstand Dutschke das Gröbste und begann bald zu genesen, war noch 1968 schon wieder auf den Beinen und spielte Tischtennis zum Reflextraining. Dennoch sollte die Rekonvaleszens Monate und Jahre dauern. In einem Abschnitt von "Aufrecht gehen" notierte er: "Mein Gehirn war schwer angeschossen. Der restliche Körper ‚leichter’. Aber weder das eine noch das andere war zerstört. Darum allein konnte der in die Tiefe versunkene, aber nicht wirklich beseitigte Inhalt meiner Geschichts-, Lebens-, Kampf- und Denkerfahrung wieder durch tägliche Arbeit hochgeholt und prozeßhaft rekonstruiert, neu gefestigt und schließlich weiterentwickelt werden. Die schwere Aphasie (Sprachstörung) war bis 1970 mit schweren epileptischen Anfällen verbunden, direktes Resultat der Schüsse und meines Kampfes gegen die mich behindernden und mich bedrückenden Sprachschwächen und Leseschwierigkeiten" (S. 96). Teile aus Lenins "Staat und Revolution" und Marcuses "Der eindimensionale Mensch" gehörten zu Dutschkes erster wieder aufgenommener politischer Re-Lektüre nach dem Attentat.

Dutschke verschwand aus Deutschland ohne zunächst bekannten Verbleib, hielt sich mit befristetem Aufenthalt vorübergehend in einem Schweizer Sanatorium auf. Noch in der Klinik begann ein guter Freund und Psychologe, Thomas Ehleiter, damit, die wunderbare Eigenschaft des Gehirns, ausgefallene Funktionen analog zu ersetzen nutzend, die langwierige Rehabilitation mit konsequenten Sprach- und Wahrnehmungsübungen und Training des verlorenen Gedächtnisses, ja auch der Rekonstruktion der zum Teil verlorenen Identität. Dutschkes eiserne Willenskraft half dabei. Psyche, Nervengeflecht und angeschlagene Physis mussten wieder neu integriert werden. Eines der ersten Bedürfnisse des Rehabilitanden soll es gewesen sein, zu erfahren, wie die Welt um ihn herum aussah und man brachte ihm einen Globus. Zu Hilfe kam ihm, dass er wie sein Anfang 1968 geborener erster Sohn Hosea Che wieder sprechen lernen musste, lernen durfte. Kognitiv musste er wieder im Kleinkindstadium beginnen, das ABC lernen, lesen, schreiben und die Grundrechenarten einüben. Das tat er mit großen Fortschritten in der größtmöglichen Abgeschiedenheit eines Domizils in Mittelitalien, das ihm der Komponist Hans Werner Henze in Gestalt seines Hauses in der Nähe von Rom zur Verfügung stellte. Bis eine findige Paperazzi-Journaille auch dieses Refugium aufstöberte und gnadenlos publik machte.

Dutschkes und seiner wachsenden Familie Weg war zum Teil der einer Odyssee durch mehrere Länder in Europa. In England (London), wohin auch Marx einst emigriert war, versuchte er nach befristeten Aufenthalten zweimal Asyl zu bekommen, was ihm jedoch verweigert und er endgültig ausgewiesen wurde. Nach Zwischenaufenthalt in Irland bot ihm die Universität der norddänischen Stadt Aarhus schließlich eine wissenschaftliche Mitarbeiterstelle an, damit die Möglichkeit, systematisch zu forschen und politikwissenschaftlich in begrenztem Rahmen als Lehrbeauftragter zu dozieren. Es entstand sein einziges zusammenhängendes wissenschaftliches Werk: "Versuch, Lenin auf die Füße zu stellen. Über den halbasiatischen und westeuropäischen Weg zum Sozialismus…" (1974), mit dem er an der FU Berlin den Doktortitel erwarb. Konzentriertes wissenschaftliches Arbeiten bereitete ihm von jeher Mühe, nicht nur seiner Hirnschäden wegen. Nun setzten auch wieder gelegentliche Besuche in Westdeutschland und West-Berlin ein, er war wieder recherchierend aktiv an der Freien Universität, besuchte alte Freunde nach mehreren Jahren. Enthielt sich aber jeglicher politischer und öffentlicher Auftritte. Mal vereinzelt ein Interview oder ein Artikel, mehr nicht. Dutschke war für die neue Generation nach 68 an den Universitäten "out", ein Unbekannter.

Die Politikformen hatten sich geändert. Der SDS war nach dem Attentat ohne ihn bald zerfallen in mehrere Rest-Ausgänge. Kommunistischer Parteiaufbau nach Lenin-/Stalin-/Trotzki-Muster, konspirative ML-Zirkel, wieder zugelassene DKP waren für viele angesagt. Einerseits. Andererseits gab es die undogmatischen Ansätze, Spontis, Anarchos, Langer Marsch, Sozialistisches Büro. Und natürlich die bewaffnete RAF, ihre nihilistischen Attentate, gewaltsamen Entführungen und menschenverachtenden Kommando-Hinrichtungen. Nicht zuletzt Kommune I-, II- und WG-Bewegung, ein Neue-Kultur-Aufbruch, der sich zur Alternativökonomie-Nische und Ökodorfkultur erweiterte mit "Unterabteilung" Esoterik und Spiritualität. Intellektuelle Teile der 68er drifteten ab nach Indien und wurden Anhänger*innen von Psycho-Gurus wie der Bhagwan-Osho-Kommune. Andere konvertierten zum Buddhismus, oder wandten sich obskuren schamanischen Praktiken und Stadtindianertum zu. Statt Marx-Lektüre wurden Tarot-, Runen- und I-Ging-Weissagung wichtig. Man tauchte ein in keltische Weisheiten, geomantische Rutengängerei und deep ecology. Erdenergie statt revolutionärer Energie.

Und bald gab es auch den Widerstand gegen AKWs, die Bürgerinitiativen und Massendemonstrationen gegen Atomkraftwerke. Dutschke besuchte auf Einladung des badischen Protestsängers und Freundes Walter Mossmann die rebellischen Weinbauern in Wyhl am Kaiserstuhl, die gegen ein AKW nur wenige Kilometer entfernt angingen. Man verstand sich nicht auf Anhieb, redete eine unterschiedliche politische Sprache, die Bauern waren von Haus aus eher christlich-konservativ. Aber beide Seiten waren geduldig und lernfähig und es kam zu Annäherungen. Die selbstorganisierte Volkshochschule Wyhler Wald von linken Aktivisten und einheimischen Bauern in den Rheinauen imponierte Dutschke, es kam seiner Vorstellung von Basisorganisation von unten nahe. Das war so um die Mitte der 70er Jahre. Zugleich die Jahre der "bleiernen Zeit" der Anschläge und Entführungsaktionen einer schießwütigen zweiten RAF-Generation. Heinrich Böll verfasste dazu den Politroman "Die verlorene Ehre der Katharina Blum" und Bernward Vesper, erster Partner von Gudrun Ensslin, den politischen Schlüsselroman jener Zeit "Die Reise". Manchmal mischte Dutschke sich unerkannt mit Vollbart, Langhaarmähne und Baskenmütze bei politischen Kongressen und Veranstaltungen in der BRD jener Jahre unter die Zuhörenden und lauschte den Argumentationen und Ansprachen. Er sah und erkannte früh, dass sich Tendenzen auf eine Art neue Parteigründung zubewegten. Er trat damals dem Sozialistischen Büro Offenbach (SB) bei, einer lockeren Sammlungs-, Initiativ- und Aktionsbewegung mit etwa 1.000 Förder-Mitgliedern, die sich nach Interessen und Berufsfeldern organsierte und auf hohem Niveau die Monatszeitschriften "links" und Gewerkschaftszeitung "express" herausgab. Er schrieb auch kritisch-theoretische Beiträge in der Zeitschrift "Langer Marsch - für eine neue Linke", mit der er eng verbunden war und die ideologisch dem SB nahestand.

Das "Professoren"-SB war der wichtigste, undogmatische politische "Durchlauferhitzer" der 70er-Dekade bis Mitte der 80er, der sozialistische Kontinuität bot und verkörperte. Theoretisch breit gefächert und positioniert: von Karl Marx, Bakunin, Kropotkin, Rudolf Rocker über Rosa Luxemburg, Nikolai Bucharin, die holländischen Rätekommunisten Anton Pannekoek und Henriette Roland-Holst, Georg Lukacs, Karl Korsch, Alfred Sohn-Rethel bis zu Isaac Deutscher, Agnes Heller, Hannah Arendt, Leo Kofler, der Frankfurter Schule (Kritische Theorie) und den Eurokommunisten - jenseits verstaubter Dogmen und überkommener Organisationsansätze wie der westdeutschen ML-Zirkel und K-Gruppen mit ihrer aufgesetzten Arbeiteragitprop-Sprache. Ohne die "Geburtshilfe" des SB und mehrere geführte Organisationsdebatten hätte es politisch die Grünen so schnell nicht gegeben. Oskar Negt, Arno Klönne, Klaus und Hanne Vack, Andreas Buro, Hansgeorg Conert, Joachim Hirsch, Dan Diner, Micha Brumlik, Edgar Weick, Wolf-Dieter Narr, Ekkehard Krippendorff, Egbert Jahn, Frank Deppe, Willi Hoss u. v. a. sind Namen, die unauslöschlich mit dem SB verbunden sind. Noch heute existieren in SB-Nachfolge und -Nachwirkung das Komitee für Grundrechte und Demokratie (Grundrechte-Report), die Polit-Magazine "Widersprüche" und "Prokla" und monatlich die Zeitschrift "express" für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit. Grundlagen, Analysen, Strategien und Modelle waren formuliert worden in den "Thesen des SB" (1975) und in einem Taschenbuchband "Für eine neue sozialistische Linke" (1973). Oskar Negt brachte 1972 in einem Referat das Grundmotto auf den Punkt: Nicht nach Köpfen, sondern nach Interessen organisieren! Am ehesten konnte man das SB vergleichen mit den italienischen Gruppierungen "il manifesto" (Rossana Rossanda, Lucio Magri) und "lotta continua". Wie überhaupt italienische marxistisch-sozialistische Theoretiker wie Antonio Gramsci und marxistische Philosophen wie Althusser, Castoriadis und Poulantzas für die SB-Theoriebildung und seine Staats- und Gesellschaftsanalyse eine nicht unbedeutende Rolle spielten.

Hier wurde bewusst Dutschkes Wirken, Wirkung und Chronologie in der Student*innen-bewegung weitgehend ausgeklammert. Es wäre ein eigener Text, der als Teil II (Theorie) noch zu schreiben wäre. Es liegt zudem weit zurück und vieles ist hervorragend nachlesbar in gut aufbereiteten Quellen. Nicht zuletzt existieren mehrere Biografien über Dutschke, von denen man die neue von Ulrich Chaussy ("Rudi Dutschke. Die Biographie"; 2018) als die vielleicht gelungenste ansehen darf, neben dem aufschlussreichen Dutschke-Buch von Gretchen Klotz ("Wir hatten ein barbarisches, schönes Leben") und einem Band "Tagebücher" (1963-1979). Mehrere Taschenbuch-Bände versammeln Dutschkes zahlreiche Artikel, Schriften, Reden, Tagebuchnotizen. Als Dokument nach wie vor interessant ist seine kommentierte Liste "Zur Literatur des revolutionären Sozialismus. Von Karl Marx bis in die Gegenwart" (sds korrespondenz, sondernummer 1966). Als Anleitung geeignet zum politischen Studium noch heute. Mit "Aufrecht gehen" existiert das Fragment einer Dutschke-Autobiografie. Neu hinzugekommen sind zwei interessante Publikationen, die hier noch genannt werden sollen: Carsten Prien: "Dutschkismus. Rudi Dutschkes politische Theorie" (2015). und ders.: "Rätepartei. Zur Kritik des Sozialistischen Büros. Oskar Negt und Rudi Dutschke…" (2019).

Dutschke vermochte zu faszinieren, ein Highlight, das ihm Achtung und Sympathie einbrachte, war sein Auftritt im TV-Gespräch mit dem Journalisten Günter Gaus, der auch textlich als Voltaire Flugschrift Nr. 17 (Edition Voltaire 1968) vorliegt. In diesem Gespräch stellte Gaus u. a. die provozierende Frage: "Warum treten Sie aus der Politik nicht aus? … Warum sagen Sie nicht: Wir können es nicht ändern, laß es doch laufen!" Worauf Dutschke erwiderte: "Wir können es ändern. Wir sind nicht hoffnungslose Idioten der Geschichte, die unfähig sind, ihr eigenes Schicksal in die Hand zu nehmen. Das haben sie uns jahrhundertelang eingeredet … Wir können eine Welt gestalten, wie sie die Welt noch nie gesehen hat, eine Welt, die sich auszeichnet, keine Kriege mehr zu kennen, keinen Hunger mehr zu haben, und zwar in der ganzen Welt. Das ist unsere geschichtliche Möglichkeit - und da aussteigen? Ich bin kein Berufsrevolutionär, aber wir sind Menschen, die nicht wollen, dass diese Welt diesen Weg geht, darum werden wir kämpfen und haben wir angefangen zu kämpfen" ("Zu Protokoll: Rudi Dutschke im Gespräch mit Günter Gaus", 3.12.1967).

Dutschke rezipierte und reflektierte kritisch den gesamten Sozialismus, nicht nur selektiv Teile davon. Das hebt ihn von den ideologischen Spezialisten und ihren jeweiligen Präferenzen ab. Bekannt sind seine Beziehungen und engen Freundschaften zu Herbert Marcuse, zu dem Philosophen des "Prinzips Hoffnung", Ernst Bloch, und zum linken Theologen Helmut Gollwitzer. Dies spricht für seinen offenen Geist und auch eine Brücke seines Denkens zu Religion und Christentum. In mehreren Briefen nahm er Kontakt auf zu seinem Attentäter Bachmann im Gefängnis. Er vergab ihm in christlicher Geste sogar die Tat, wollte ihm jedoch auch klar machen, sich selbst als Opfer von reaktionären Kräften zu erkennen und dagegen zu wehren. Bachmann antwortete ihm und bekannte, dass ihm sein Handeln leid täte. Einige Zeit später nahm er sich in seiner Zelle das Leben durch Erhängen. Dutschke war nicht nur ein Phänomen, er war in gewissem Sinn eine Instanz. Ein Glücksfall für die politische Linke, die das viel zu wenig schätzte und bis heute wenig nutzt. Seine Gedanken waren aufrichtig und klar, sein Ziel eindeutig, sein Antiimperialismus sprichwörtlich - und in leichter Abwandlung seines eigenen Ausspruchs bei der Beerdigung des im Hungerstreik umgekommenen RAF-Aktivisten Holger Meins soll hier im 40. Todesjahr mit den Worten geendet werden: Rudi, der Kampf geht weiter!

(c) Elmar Klink, Bremen, 21.12.2019

Veröffentlicht am

26. Dezember 2019

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