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150 Jahre nach Gandhis Geburt muss Widerstand gegen das autoritäre Regierungssystem geleistet werden

Wenn wir Gandhis Vermächtnis feiern, müssen wir uns solidarisch gegen die fortschreitende Unterdrückung in Kaschmir und Manipur wenden.

Von Matt Meyer und Binalakshmi Nepram

Ela Gandhi bereitete eine Feier zum Gedenken an den 150. Geburtstag ihres Großvaters vor. Dazu versammelte sie Gemeindemitglieder in KwaZulu-Natal, das die historische Phoenix-Siedlung umgibt. Diese war Gandhis Lebenszentrum, als er in Südafrika lebte. Elas Arbeit steht in scharfem Kontrast zu Plakaten in der Universität, auf denen steht: "Nein zum Rassisten Gandhi!". Dieser Slogan ist auf dem afrikanischen Kontinent nur allzu allgemein geworden, da sich Berichte über die sich entwickelnden Ansichten Gandhis über Rassenbeziehungen (darunter seine bedeutsamen frühen Vorurteile) zuspitzen.

Für viele von uns gilt jedoch: Wir müssen vor allem mit der Absicht auf die Geschichte zurückblicken, dass sie uns durch gegenwärtige und künftige Kämpfe führen möge. Das muss eher ins Blickfeld rücken als Fragen nach dem Vermächtnis einer Legende der Vergangenheit. Wenn die diesjährigen Geburtstagsfeiern zu Ende gehen, beschäftigt uns weniger die Frage, wie wir am besten über den Menschen Gandhi nachdenken können. Stattdessen geht es um die Frage: Wie ist es möglich, dass die Friedens-, pazifistischen und Menschenrechts-Gemeinschaften weiterhin versäumen, sich, was dringend notwendig wäre, mit der fast drei Monate anhaltenden Besetzung Kaschmirs zu befassen? Das ist umso dringender, als 2019 das sechzigste Jahr bezeichnet, nachdem den Gebieten der Indigenen von Manipur und dem ganzen Nordosten Indiens das Indian Armed Forces (Special Powers) Act aufgezwungen wurde.

Seit spätestens 1989 beraubt die indische Regierung die Bewohner von Kaschmir durch Abriegelung und Übermilitarisierung ihrer Rechte: der Menschenrechte, Landrechte, religiöser, kultureller, politischer, wirtschaftlicher und natürlicher Rechte. Alles das geschieht, während sich Indien zur "größten Demokratie der Welt" ausrufen darf, ohne dass die in Indiens historischen Zentren abgehaltenen Menschenrechtskonferenzen diesen Ausdruck ironisieren oder Indiens Ruf schmälern. 

Es geht nicht darum, ob der Mann, der meist "Mahatma: die große Seele" genannt wurde, die fortgesetzten imperialen Machenschaften der Regierung stillschweigend akzeptiert oder die Führung des Widerstandes gegen die jahrzehntelange Besetzung übernommen hätte. Wichtiger ist es, die Frage zu stellen, warum Friedens- und Gerechtigkeitsaktivisten, von denen man annimmt, dass sie in seine Fußstapfen treten, nicht größere Anstrengungen unternommen haben, um den Verbrechen ein Ende zu bereiten, die von der zunehmend autoritären indischen Regierung begangenen werden.

In der westlichen Presse wurde ungewöhnlich gut dokumentiert, wie quälend die extremen Repressionen der letzten Monate für die kolonisierte Bevölkerung sind. Die New York Times gab zu, dass das "tägliche Leben" der mehr als zwölf Millionen Bürger des umstrittenen Gebietes "leidet". Nicht ebenso gut dokumentiert ist die Tatsache, dass die offensichtlich neue Politik, die die Regierung in Delhi am 5. August 2019 angekündigt hat, viel mehr als nur eine Kehrtwendung der rechtsgerichteten Regierung der BJP und des Ministerpräsidenten Modi ist. Einfach ausgedrückt heißt das: Sie sind die neuesten Maßnahmen und der kulminierende Terrorismus der weitreichenden indischen Vereinbarung, festzuschreiben, dass die Kaschmiris in ihrem eigenen Land bestenfalls als Quasi-Bürger zweiter Klasse behandelt werden dürfen.

Das einzig "Neue" an der Ankündigung vom August, war, dass sie formell den seit Langem bestehenden Artikel 370 der indischen Gesetzgebung aufhob. In diesem wurde - wenigstens auf dem Papier - anerkannt, dass der endgültige Status Kaschmirs noch nicht feststehe. Indem Indien den Artikel 370 abschaffte, erklärte es einseitig einen endgültigen und dauerhaften Ausschluss aller künftigen Verhandlungen oder Gespräche über Kaschmirs kolonialen Status: Kaschmir wird ein besetzter Teil des "demokratischen Indiens" bleiben, und zwar gegen den Willen des Volkes, trotz der Geschichte und dem Völkerrecht, und wenn auch noch so viel gewaltfreier Protest zum Verstummen gebracht werden muss.

Die drakonischen Maßnahmen von 2019 kann man am ehesten als eine Methode verstehen, durch die Indien hofft, jedes letzte bisschen Hoffnung auf eine Möglichkeit der Selbstbestimmung, die Kaschmiris hegen könnten, für immer zu ersticken. Das Thema vollkommene Souveränität, die streng gewaltfreie und legale Organisationen wie Jammu und Kashmir Coalition of Civil Society (JKCCS) jahrelang stark befürwortet haben, scheint vom Tisch zu sein, und zwar sowohl für die indischen Beamten aller großen Parteien als auch für die globale Friedensbewegung. Diese hat offenbar wenig Kenntnis von der fortgesetzten Krise und zeigt sich wenig betroffen. Die JKCCS dokumentiert weiterhin unter schwierigsten Bedingungen die Todesopfer, zu denen auch Kinder gehören, und die Ausgangssperre, die Menschen dazu zwingt, den ganzen Tag im Haus zu bleiben, was logisch nicht nachzuvollziehen ist. Von beiden Seiten wird vielfach Gewalt ausgeübt, denn nicht nur wird positiver Wandel vereitelt, sondern auf der anderen Seite sehen viele junge Leute keine Möglichkeit mehr für einen friedlichen Wandel.

Kaschmir ist nicht Indiens einziges "Problemgebiet". In Manipur, einem Staat in der gegenwärtigen Nordostregion Indiens, der an Myanmar grenzt, leben zurzeit 2,2 Millionen Menschen, die zu 39 indigenen Gemeinschaften gehören, unter dem Armed Forces Special Powers Act (AFSPA). AFSPA garantiert allen Armeeangehörigen, die in der Region operieren, vollkommene Straflosigkeit. Jeder Bewohner kann auf bloßen Verdacht hin ohne Haftbefehl oder Begründung verhaftet, ins Gefängnis gesperrt oder getötet werden. Die Betroffenen können sich nicht an die Gerichte wenden, denn diese dienen ausschließlich den indischen Behörden. Manipur war einmal ein unabhängiger asiatischer Nationalstaat, der seit dem 18. Jahrhundert als wirtschaftlicher und kultureller Knotenpunkt fungierte.

AFSPA wurde von der britischen Kolonialregierung eingeführt, um Gandhis "Quit India"-Bewegung zu durchkreuzen. Nachdem die Briten 1947 aus Indien abgezogen waren, erlegte die neue unabhängige Regierung das Gesetz der Nordostregion Indiens auf, mit dem Manipur von 1956-58 als "Unionsterritorium" in die Republik einverleibt wurde. 1989 und 90 wurde das Gesetz auch Kaschmir auferlegt. Manipur, Nordostindien und Kaschmir sind die einzigen Regionen auf dem indischen Subkontinent, in denen das Kriegsrecht als Landesrecht gilt. Aber weder innerhalb Indiens noch sonst irgendwo in der Welt wird das weder ein wenig noch überhaupt verurteilt. Jeder sorgfältige Blick auf AFSPA offenbart jedoch eine eindeutige Verletzung nicht nur der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, sondern auch der indischen Verfassung. 

Zurzeit gibt es wenigstens 600.000 Angehörige der indischen Armee, die in Jammu und Kaschmir operieren, und 100.000 indische Sicherheitskräfte und paramilitärische Einheiten in Manipur. Manipur ist eines der am meisten militarisierten Gebiete der Welt; es wird berichtet, dass ein Militärangehöriger auf zwanzig Manipuris kommt. In Manipur sind infolge des sich hinziehenden Konflikts in den letzten Jahrzehnen 20.000 Menschen gestorben und es wird von mehr als 1.500 außergerichtlichen Tötungen im Staat berichtet. Außer vielen Fällen von ungeklärtem Verschwinden wurden in Manipur und der Nordostregion mehr als fünfhundert Kinder als Kindersoldaten rekrutiert, darunter sehr junge Mädchen. Konflikt und Unterdrückung in Manipur und Kaschmir sind klassische Fälle von vergessenen Konflikten in der Welt.

Für einen, der mit Ela Gandhi im einen halben Kontinent entfernten Phoenix steht, war es eine Herausforderung und eine Ehre, über die dringenden Bedürfnisse und die Arbeit nachzudenken, die vor den vereinten Gruppen von Afrikanern, Asiaten, Europäern und Süd- und Nordamerikanern liegt. Elas jahrzehntelange Arbeit als lokale Organisatorin, Angehörige der United Democratic Front, Parlamentsabgeordnete für den African National Congress nach dem Ende der Apartheid und jetzt als Leiterin des South Africa’s Gandhi Development Trust hat weder ihr unveränderbares Lächeln vermindert, noch ihrem hoffnungsvollen Geist etwas anhaben können. Sie arbeitet beständig daran, Menschen aller Glaubensbekenntnisse und Traditionen zusammenzubringen, damit sie gemeinsam weiter für Gerechtigkeit kämpfen. Unter ihrer Leitung wird Phoenix ein Ort für die lokale afrikanische Jugend, ein Ort zum Lernen und Forschen, an dem es kostenlos WIFI gibt und man gemeinsam Kaffee trinkt, ein Ort, an dem sie ihre Gesellschaft wiederaufbauen können, was so sehr notwendig ist. Hier stellt der Name Gandhi Folgendes dar: eine besondere Art, nach vorn zu sehen, einen auf Gerechtigkeit gegründeten fortwährenden sozialen Wandel, der sich auf Kritik, den Aufbau von Bündnissen und Widerstand gründet.

Wenn man kritisch über die zahllosen Feiern für Elas Großvater und im Namen der jungen Asiaten und Afrikaner nachdenkt, die immer noch nach dem Ende von Kolonialismus, wirtschaftlicher Apartheid und struktureller Gewalt streben, die von Ungerechtigkeit verursacht werden, ist es höchste Zeit, sich für ein neues Engagement zu entscheiden. Für die nächsten 150 Jahre müssen Friedensforscher, Professoren, Studenten und Praktiker versprechen: keine weiteren Feiern, keine Geburtstagsfeier ohne Freiheit, Entkolonialisierung und Frieden in Kaschmir, in Manipur und in der Welt.

Matt Meyer und Binalakshmi Nepram sind sowohl associated scholars als auch fellows bei der Resistance Studies Initiative of the University of Massachusetts/Amherst. Um mehr zu erfahren, sehen Sie bitte Teil I und Teil II eines Vortrages, den die Koautorin Binalakshmi Nepram am 12. November in der Columbia University gehalten hat. Der Titel war "Südasiens zerbrochene Grenze".

Der Text wurde im Rahmen der Resistance Studies geschrieben.

Matt Meyer ist Ko-Generalsekretär der International Peace Research Association , Vorsitzender des Finanzberatungs-Komitees von International Fellowship of Reconcilitation (Internationaler Versöhnungsbund) und Koordinator des Africa Support Network von War Resister’s International .

Binalakshmi Nepram ist Gründerin des Netzwerks Waffen überlebender Frauen in Manipur (Manipur Women Gun Survivors Network), Generalsekretärin der  Waffenkontrollorganisation Indiens ( Control Arms Foundation of India )* und Personalratsvorsitzende der Northeast India Women Initiative for Peace .

Aus dem Englischen von Ingrid von Heiseler

Quelle: Waging Nonviolence . Originalartikel: 150 years after Gandhi’s birth, authoritarianism in India must be met with resistance . Eine Vervielfältigung oder Verwendung des Textes in anderen elektronischen oder gedruckten Publikationen ist unter Berücksichtigung der Regeln von Creative Commons Attribution 4.0 International (CC BY 4.0) möglich.

Veröffentlicht am

25. Dezember 2019

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