Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

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Bericht Lebenshaus-Tagung 2019 “We shall overcome!”

Von Michael Schmid - Einleitung (aus: Lebenshaus Schwäbische Alb, Rundbrief Nr. 103, Dez. 2019 Der gesamte Rundbrief Nr. 103 kann hier heruntergeladen werden: PDF-Datei , 611 KB. Den gedruckten Rundbrief schicken wir Ihnen/Dir gerne kostenlos zu. Bitte einfach per Mail abonnieren .)

Die von von "Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie" am 19./20. Oktober organisierte siebte Tagung "’We shall overcome!’ Gewaltfrei für die Vision einer Welt ohne Gewalt und Unrecht" fand ein sehr gutes Echo. 50 Menschen nahmen daran teil und reisten dafür zum Teil von weit her nach Gammertingen an.

Die Veranstaltung am Samstag im Evangelischen Gemeindehaus fand großes Lob seitens der Teilnehmenden. In deren Mittelpunkt standen die Vorträge von Eva-Maria Willkomm aus Villingen, Andreas Linder aus Tübingen und Nirit Sommerfeld aus Grafing bei München. Alle drei Referierenden schilderten ausführlich ihren jeweils ganz eigenen Weg zu einem Engagement für Frieden, Gerechtigkeit und Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen. Axel Pfaff-Schneider hat ausführliche Zusammenfassungen davon angefertigt (siehe unten).

Nach dem intensiven Zuhören wurden beim "Bunten Programm" abends andere Sinne angesprochen. Die Kreistänze mit Gudrun Scheuerle und Dorothee Vöhringer sowie die von Hubert Rothfeld angeleiteten Spiele brachten alle in Bewegung, und abschließend begleitete Hans Landenberger auf der Gitarre das gemeinsame Singen von Friedensliedern.

Bei traumhaftem Herbstwetter rundete dann am Sonntag eine Wanderung mit einem Besuch der Nebelhöhle das Tagungswochenende ab.

Bei der Begrüßung hatte ich bereits darauf hingewiesen, dass die Vorbereitung auf unsere Tagung dieses Jahr einigen Aufwand mehr als sonst bedeutet hat, weil wir verhindern wollten, dass wir aufgrund eines möglicherweise erhobenen "Antisemitsmus"-Vorwurfs plötzlich ohne Tagungsräumlichkeiten dastehen würden. Leider muss man inzwischen auf so etwas eingestellt sein, wenn man Menschen als Referierende einlädt, die Kritik an der völkerrechtswidrigen israelischen Besatzungs- und Siedlungspolitik üben und sich für Gleichheit und Gerechtigkeit zwischen Israelis und PalästinenserInnen einsetzen. Das ist jedenfalls unserer Referentin Nirit Sommerfeld schon mehrmals passiert, indem ihr als jüdische Referentin durch deutsche Regionalpolitiker eine Veranstaltung wegen des Verdachts auf Antisemitismus verboten wurde! Wir hatten sie zu unserer Tagung eingeladen, damit sie uns von ihrem Engagement berichten konnte. Mit unserer Einladung wollten wir aber auch unsere Solidarität gegenüber einer Frau zum Ausdruck bringen, die genau wegen diesem Engagement hier in unserem Land Probleme bekommt, bis hin zum absurden Vorwurf des "Antisemitismus" - garniert mit Veranstaltungsverbot und anderem.

Um auf etwaige Angriffe vorbereitet zu sein, haben wir u.a. frühzeitige Gespräche mit dem Pfarrer der Evangelischen Kirchengemeinde Gammertingen, Ulrich Deißinger, geführt. Er hat uns versichert, dass wir unsere Tagung auf jeden Fall im Gemeindehaus durchführen können und hat dazu auch den Kirchengemeinderat eingebunden. Das war ein Stück weit beruhigend für uns. Allerdings waren wir uns dennoch nicht so ganz sicher, ob dann nicht - etwa nach einer entsprechenden Verleumdung eines Rechtsanwalts aus Wien oder einer Vorsitzenden der Deutsch-Israelischen Gesellschaft aus Stuttgart - im letzten Moment noch z.B. der Dekan intervenieren könnte, wie das ja in Karlsruhe bei einer Veranstaltung mit unserem letztjährigen Referenten Andreas Zumach der Fall war. Letztlich war es dann so, dass wir unsere Tagung ohne jegliche Störung abhalten konnten. Bei der Evangelischen Kirchengemeinde Gammertingen bedanken wir uns aber ausdrücklich für ihre Unterstützung.

Wie wir uns überhaupt nochmals bei allen herzlich bedanken möchten, die diese Veranstaltung ermöglicht und zu ihrem Gelingen beigetragen haben.

Schriftliche Zusammenfassungen der Vorträge von Eva-Maria Willkomm, Andreas Linder und Nirit Sommerfeld durch Axel Pfaff-Schneider

Von Axel Pfaff-Schneider

Eva-Maria Willkomm: "Alles wirkliche Leben ist Begegnung"

Wir waren froh, dass sich Eva-Maria bereit erklärt hat, zu referieren, obwohl sie erkältet war und ihr das Sprechen schwer fiel. Worum es ihr in ihrem friedensbewegten Leben geht, wurde schon in der Einleitung deutlich. Vorträge seien nicht so ihre Sache, erklärte sie. Was sie aber ganz gut könne und gerne mache, sind persönliche Begegnungen, Beratungen für kleine Gruppen, Übungen, Körper- und Theaterarbeit. Den Titel ihres Beitrags leitete sie aus einem Zitat von Martin Buber her: "Alles wirkliche Leben ist Begegnung", weil damit sehr gut zum Ausdruck komme, was ihr im Leben wichtig sei: Begegnung, Zuhören, Mitfühlen von Mensch zu Mensch. Das sei es, was wirkliches Leben ausmache! In diesem Satz sehe sie ihren persönlichen "Roten Faden" durchs Leben und auch für diesen Vortrag.

Um uns ein wenig davon unmittelbar zu vermitteln, startete sie mit drei praktischen Übungen. Diese sollten helfen, sich der eigenen Ambivalenzen bewusster zu werden. Knapp und präzise leitete sie uns an, aufzustehen, so dass wir die Körperhaltungen für "Ich bin bei mir - ich öffne mich" mit Gesten von Händen und Armen zum Ausdruck bringen konnten. Ja, so leicht kann man auch anspruchsvolle Inhalte erlebbar machen!

Ihre Biografie gliederte Eva-Maria in zehn Punkte, die sowohl lebensgeschichtliche Stationen berührten als auch inhaltliche Themen betrafen.

Natur und Schöpfungsbewahrung: Eva-Maria wurde 1953 in Uelzen als fünfte Tochter in die Familie eines Gartenbauarchitekten und Landschaftsgärtners geboren. Dort beobachtete sie und lernte schnell das Hegen und Pflegen von Pflanzen und Bäumen und wie wichtig es ihrem Vater gewesen war, gerade kleine und mickrige Pflänzchen besonders zu betreuen. So wurde ihr die Bewunderung für die Schöpfung und Verantwortung für deren Erhalt sozusagen in die Wiege gelegt.

Gerechtigkeit: Da Eva-Marias Vater ein größeres Gartenbau-Unternehmen führte, begegnete sie schon früh auch gesellschaftlichen Unterschieden und ganz anderen Lebensstilen. Sie schilderte uns eindrücklich, wie sie zu Besuch bei einer Klassenkameradin gewesen war, deren Mutter für die Firma des Vaters tätig war. Zu Ehren der "Tochter des Chefs" hatte diese ein Kaninchen geschlachtet. Es hatte ihrer Freundin gehört, die mit Tränen in den Augen nichts davon essen konnte. Von da an entwickelte Eva-Maria ein starkes Empfinden gegen Ungerechtigkeiten und versuchte seitdem, so gut sie konnte, dagegen anzugehen.

Friedensarbeit und eigene Familie: Eva-Maria sieht "Frieden" als das Stichwort, welches sie am stärksten geprägt habe. Sie glaube, dass ihr starkes Engagement für Frieden auch aus vielfältigen Berührungen mit Tod und Sterben erwachsen ist. So lässt sie uns - innerlich spürbar bewegt - offen und ehrlich daran teilhaben, wie sie bereits mit 19 Jahren heiratete, u.a. weil sie es "musste", sprich weil sie ungewollt schwanger geworden war. Das Kind sei in ihrem Bauch einen Tag vor seiner Geburt gestorben. So habe sie während der Geburt und danach erlebt, was Tod und Abschied bedeuten. Leider habe damals niemand Verständnis für ihre Trauer gehabt, und so sei diese für lange Zeit unbearbeitet geblieben. Für sie sei es ein Glück, dass sie danach noch zwei wunderbare Söhne geboren hatte. Während der Elternzeit in Hannover konnte sie sich in ihrem Wohnviertel, einer neu erbauten Hochhaussiedlung, in die Stadtteilarbeit aktiv einbringen: im selbst organisierten Kindergarten, bei der Gründung einer Bürgergemeinschaft und einer Friedensgruppe. Besonders am Herzen lag ihr ein Café, welches von Frauen getragen wurde und heute noch eine wichtige Anlaufstelle im Stadtteil sei.

Mit 30 Jahren erlebte sie das Scheitern ihrer Ehe. Die ganz unterschiedlichen Einstellungen und Überzeugungen hätten nicht mehr getragen. So sei sie zur (weitgehend) alleinerziehenden Mutter geworden, die parallel zur herausfordernden Alltagsbewältigung ein Studium der Sonderpädagogik aufnahm und als Diplom-Pädagogin erfolgreich abschloss. Während dieser Zeit engagierte sie sich in der Friedensarbeit und lernte dort auch einen neuen Lebensgefährten kennen. Ihr Partner war französischer Fremdenlegionär gewesen und hatte dort nicht nur sein Augenlicht verloren, sondern auch den Glauben an die Macht der Gewalt. Dadurch sei er zum überzeugten Friedenskämpfer geworden. Mit ihm zusammen gründete sie in dieser intensiven und ereignisreichen Zeit eine Friedensgruppe, die besonders mit Bundeswehrsoldaten zusammengearbeitet habe und - für diese Zeit ungewöhnlich - erste Kontakte zu einer Gruppe aus der Sowjetunion aufgebaut habe.

Der plötzliche und unerwartete Tod ihres Lebensgefährten sei für sie und die Familie ein furchtbarer Schlag gewesen. Auch diesen Tod habe sie zunächst zu verdrängen versucht, doch mit ihren neuen Erfahrungen sei ihr das nicht mehr möglich gewesen. Sie habe dann stimmige Formen die Trauerbewältigung gesucht und gefunden.

Mittlerweile hatte sie ihr Studium erfolgreich abgeschlossen und in der Bildungsstätte "Kurve Wustrow" eine Ausbildung zur Trainerin für gewaltfreies Handeln und Konfliktbearbeitung absolviert. Ihren Lebensunterhalt verdiente sie sich mühsam mit verschiedenen Honoraraufträgen, wie "Alphabetisierungskurse für geistig Behinderte", Unterricht in Sonderpädagogik sowie mit der Leitung von zahlreichen Trainings für gewaltfreie Aktionen, zum Beispiel gegen Atommülllagerung oder für den Schutz von Flüchtlingsunterkünften.

Ihren "Traumjob" habe sie 1996 als Bildungsreferentin beim Oekumenischen Dienst Schalomdiakonat in der Nähe von Kassel bekommen. Zum ersten Mal konnte sie so politisches Engagement und Erwerbsarbeit zusammenbringen. Die Einrichtung heißt heute "gewaltfrei handeln" und sie selbst sei inzwischen "Freifrau", d.h. seit einem Jahr in Rente.

Der Vorsitzende dieses Vereins sei Herbert Froehlich gewesen, ein katholischer Priester. Es sei zwischen ihnen eine sehr besondere und tiefe Verbindung entstanden, die siebeneinhalb Jahre gedauert habe, bis Herbert an den Folgen seines Magenkrebses gestorben sei. Sie habe ihn bis zum Tod intensiv begleiten dürfen und er sei in ihrer Wohnung in Kassel gestorben - eine "schrecklich-schöne" Erfahrung.

Gemeinschaft: Eva-Maria ist überzeugt, dass ein Leben in Gemeinschaft sinnvoller, einfacher und erfüllter ist, als allein zu leben. Ihr sei auch klar geworden, dass gewaltfreies Handeln in Gemeinschaft leichter möglich ist, vielleicht sogar nur so funktioniert. Auch bei diesem Aspekt sehe sie die Wurzel in ihrer Kindheit, da ihre Familie einer evangelischen Freikirche angehört habe, in der gelebte Gemeinschaft ganz wesentlich war.

Widerstand: Eva-Maria schilderte uns diese religiöse Gemeinschaft als für die damalige Zeit fortschrittlich, gewissermaßen im Widerstand gegen eingefahrene kirchliche Strukturen. Mit der Zeit jedoch habe sie das immer mehr als dogmatisch erlebt und so sei es ihr bald zu eng dort geworden. Sie sei aus dieser Freikirche ausgetreten, und habe damit früh gelernt, sich aufzulehnen. Später habe ihr das geholfen, unterschiedliche Formen des Widerstands besser zu verstehen.

Nachfolge Jesu: Ihr Glaube ist Eva-Maria sehr wichtig. Sie sehe sich als Nachfolgerin Jesu. Seine Absage an Gewalt sei für sie so überzeugend, dass Jesu Leben und Handeln ihr Vorbild und Wegweisung seien. Seine klare Absage an Gewalt in allen ihren verletzenden Formen würde sie überzeugen.

Konfliktbearbeitung: "In der Mitte des Konfliktes liegt die Kraft" wurde zu ihrem Lieblingssatz und erkläre, auf den Punkt gebracht, ihr Verständnis von Konflikten und Gewalt. Konflikte unter den Teppich zu kehren, könne fatale Folgen haben, wenn die ungelösten Probleme im Inneren brodeln, sich verstärken und irgendwann sich mit Gewalt Bahn brechen. Eva-Maria ist überzeugt, dass es nicht zu Gewalt kommen muss, wenn die zugrunde liegenden Konflikte erkannt und rechtzeitig ernsthaft bearbeitet werden.

Gewaltfreiheit: Nur der Verzicht auf Gewalt könne dauerhaften Frieden und Gerechtigkeit bringen. Allerdings dauerten gewaltfreie Prozesse deutlich länger als der vermeintlich schnellere Weg der Gewalt. Für sie sei Gewaltfreiheit eine Haltung und ebenso ein aktives Zugehen auf Konflikte, um diese zu bearbeiten.

Solidarität mit den Armen und Unterdrückten: Auch das gehöre zu dem, was Eva-Maria von Jesus und aus verschiedenen Erfahrungen in ihrem Leben gelernt habe. In ihrem persönlichen Bereich versuche sie, ihre eigenen Anteile an der Not und Armut in der Welt zu verringern, indem sie sich bemühe, möglichst wenig zu verbrauchen.

Gastfreundschaft: Erneut bezog sich Eva-Maria auf ihre Herkunftsfamilie. Dort sei es selbstverständlich gewesen, aus tiefem Mitgefühl und Liebe zu den Menschen nach dem Gottesdienst auch Fremde zum Essen einzuladen. Gastfrei zu sein, sei in ihrer Familie selbstverständlich gewesen, was schon ihrem Namen Willkomm geschuldet sei.

Ergänzend zu diesen Stichpunkten benannte sie zwei weitere für sie wichtige Punkte:

Sie sei glücklich darüber, dass sie in späteren Jahren einen Mann treffen konnte, Ullrich Hahn, mit dem sie sehr viel an Gedanken und Einstellungen teilen könne (Anmerkung: Ullrich gehörte 2013 zu den Referenten unserer ersten Tagung). Seit vier Jahren seien sie verheiratet und lebten gemeinsam in Villingen.

Zu den schwersten Ereignissen im Leben von Eva-Maria gehörte der unerwartete Tod ihres jüngeren Sohnes vor fünf Jahren, der in der Folge einer Epilepsieerkrankung plötzlich verstorben sei.

Mit all dem bis hierhin Gehörten lud uns Eva-Maria zu einer weiteren Übung ein: "Ich brauche Schutz - ich bin auf mich gestellt". Sie ermöglichte uns auch mit dieser Übung, die eigenen Ambivalenzen besser zu erspüren.

Im Weiteren ging Eva-Maria auf die Frage nach Erfolgen und Niederlagen, sowie auf ihre Visionen ein. Als Niederlagen erlebte sie es, wenn in ihren Veranstaltungen die Teilnehmenden nicht aus freien Stücken dabei waren. Gewaltfreiheit könne nicht mit Zwang vermittelt werden. Sie habe in solchen Fällen viel Widerstand erlebt. Genauso frustrierend sei es, wenn in Diskussionen um Gewaltfreiheit immer wieder Gewalt als Ultima Ratio benannt werde.

Erfolge ihrer Arbeit, insbesondere als Bildungsreferentin, sehe sie nicht in einer möglichst hohen Zahl an Teilnehmenden in ihren Kursen, sondern in der Qualität ihrer Arbeit. Ihr sei jeder Mensch wichtig und jede Begegnung zähle. Es sei beeindruckend, wie sich Menschen durch Kurse oder Ausbildungen verändern. Sie schilderte mit erkennbarer Freude einige Geschichten, wie Menschen danach ihr Leben neu gestaltet hätten.

Was ihre Visionen und Chancen für eine andere Welt betrifft, so sei ihr in der Bildungsarbeit die Begegnung auf Augenhöhe am wichtigsten. Im Sinne von "Der Weg ist das Ziel" sehe sie es als ihre Aufgabe, das zu entdecken, zu heben und zu aktivieren, was in den Menschen stecke und was sie dann selbst wachsen lassen könnten. Dazu brauche es gegenseitiges Vertrauen, das sie nur mit Offenheit und Transparenz erreichen könnten. Alles, was sie anderen vermitteln wolle, versuche sie selbst vorzuleben, und sie bemühe sich um größtmögliche Toleranz, soweit damit nicht Gewaltstrukturen unterstützt würden. Herausforderung und Freude zugleich sehe sie auch in ihrer aktuellen Mitarbeit in zwei verschiedenen christlich-muslimischen Gruppen.

Nach einem kurzen, angeleiteten Austausch jeweils zu zweit unter uns Zuhörenden, verwies Eva-Maria zum Schluss erneut auf Martin Buber. Sie erlebe "Alles wirkliche Leben ist Begegnung" in den wunderbaren Begegnungen mit ihren Lieben, Verwandten und Freund*innen, und mit den vielen Menschen, die sie in ihrer Arbeit und in ihrem friedenspolitischen Engagement kennengelernt habe. Aber auch die schweren Begegnungen mit Menschen, die anders denken und handeln würden als sie, und die schmerzlichen Begegnungen mit Tod und Sterben, seien für sie - so paradox es klingen mag - das wirkliche Leben!

Andreas Linder: "Es gibt nichts Gutes, außer man tut es"

Als jemand, der 1965 in der Nähe von Saulgau in Oberschwaben geboren wurde, in Tübingen studierte, dort lebt und aktiv ist, hatte Andreas gewissermaßen ein "Heimspiel". Ich stellte ihn vor als jemand, der zum Thema Flucht, Migration und Rassismus sicher zu den Spezialisten im Lande zählt. Und zwar sowohl, was das Asylrecht betrifft, als auch die praktische Solidaritätsarbeit mit einzelnen Flüchtlingen. Und ich stelle ihn vor als einen Menschen der Tat, als der er tatsächlich in seinem Vortrag zu erkennen war. Den Vortrag gliederte er in "Biografisches", in "Was mich geprägt hat" und "Was mich heute aktuell bewegt" und unterstützte das mit einer reich bebilderten, originellen und zum Teil auch witzigen PowerPoint-Präsentation.

Andreas schilderte uns, dass er in einer ehemals bäuerlichen Arbeiterfamilie aufgewachsen sei. Seine Kindheit und Jugend seien ganz normal und unbeschwert gewesen. Wobei er von der deutschen Vergangenheit nicht ganz unberührt geblieben sei. Seine Mutter sei 1933 unehelich geboren worden, und da deren Mutter, also Andreas Großmutter, den Vater des Kindes nicht nennen wollte, sei ihr das Kind weggenommen und sie zwangssterilisiert worden. Das habe sie nie verkraftet und sei psychisch krank geworden. In der Familie sei dies lange tabuisiert worden.

Andreas berichtete weiter, er habe 1981 als 15-jähriger an der Großdemo der Friedensbewegung in Bonn gegen die geplante "Nachrüstung" mit Atomwaffen teilgenommen, habe sich während seiner Gymnasialzeit kritisch mit vielen Fragen auseinandergesetzt und sei so in der regionalen Friedensgruppe aktiv geworden. 1983 sei er in der Menschenkette gegen den Nato-Doppelbeschluss gestanden und habe selbst beim Organisieren mitgemacht. 1985 habe er den Zivildienst abgebrochen und sei zum Totalverweigerer geworden mit allen Konsequenzen: den Gerichtsprozess nutzte er als Rahmen für sein friedenspolitisches Engagement. Er habe sich lange Zeit erfolgreich geweigert, die verhängte Geldstrafe zu zahlen; erst als er inhaftiert werden sollte, sei er dazu bereit gewesen.

Mit der Zeit habe er es in der provinziellen Enge und Engstirnigkeit seiner Heimatgemeinde nicht länger ausgehalten. Es zog ihn in die Ferne, wobei er "aber nicht weiter als ins "Weltdorf Tübingen" gekommen sei. Andreas studierte dort Politik und empirische Kulturwissenschaften. Da er während dieser Zeit politisch sehr aktiv war, zähle er sich in seiner Rückschau zur "aussterbenden Spezies der Langzeitstudenten" (1987 - 1997). Zu seinen Aktivitäten gehörte die Mitwirkung in der Kampagne "Ziviler Ungehorsam bis zur Abrüstung" mit der Teilnahme an etwa 30 gewaltfreien Blockadeaktionen, vor allem an der Atomraketenstellung in Mutlangen. Mit Strafen sei er jeweils glimpflich davon gekommen. Es hatte sogar einige Freisprüche gegeben, aber auch 20 Tage Haft für nicht gezahlte Geldstrafen. In dieser Zeit kam in erster Ehe in Tübingen sein Sohn zur Welt.

In den folgenden Jahren wurde Andreas in der Anti-AKW-Bewegung vor allem mit diversen gewaltfreien Aktionen aktiv. Zum Beispiel bestieg er aus Protest gegen die Atomenergie zusammen mit einigen Mitstreitern den Kühlturm des AKW Neckarwestheim und musste von dort aufwändig heruntergeholt werden. Während des Golfkriegs 1991 habe er sich für desertierte US-Soldaten eingesetzt und einmal innerhalb eines Tages 25.000 Euro Spenden eingesammelt. Er habe aber auch ganz konkret Deserteuren dabei geholfen, Deutschland verlassen zu können. So sei es auch dazu gekommen, dass er 1991 über dieses Thema vor 10.000 Menschen auf dem Tübinger Marktplatz gesprochen habe.

Ein für ihn neuer Schwerpunkt entstand, als 1992 in der damaligen "Flüchtlingskrise" das grundgesetzlich verbriefte Asylrecht massiv eingeschränkt worden war. Ein Schlüsselerlebnis war hierbei die Besetzung der Tübinger Stiftskirche durch eine Gruppe von 300 Roma die sich selbst gegen ihre Abschiebungen mit politischen Aktionen organisiert hatte. In seinem Engagement muss er damals manchmal auch jugendlich ungestüm gewesen sein. So bekam er 1993 Hausverbot in der Bezirksstelle für Asyl in Reutlingen, weil er sich dort an Anhörungen beteiligte und weil er dabei, wie er uns in der Rückschau nachdenklich erklärte, einige "unpassende Äußerungen" getätigt habe.

Was ihn bewegte, sei auch heute noch die konkrete Arbeit mit Geflüchteten, vor allem in Form von Beratung. Er und seine Mitstreiter verstünden ihre Art der Unterstützung als "Empowerment" der Geflüchteten, nämlich sie zu ermutigen, sich selbst soweit möglich zu organisieren und aktiv zu werden. Besonders motivierend sei es gewesen, nach langem Gerichtsverfahren 1994 die erste Anerkennung eines Asylantrags mit einem Geflüchteten feiern zu können.

1997 erstellte Andreas eine Dokumentation über die Abschiebehaft in Rottenburg. Später engagierte er sich - mittlerweile hatte er sein Studium abgeschlossen - in der Kampagne "kein Mensch ist illegal" und kämpfte um das Bleiberecht von Flüchtlingen in Deutschland.

In den Folgejahren übte er mehrere Tätigkeiten aus, um neben dem politischen Engagement seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Endlich fand er 2008 nach verschiedenen Umwegen einen bezahlten Job im Flüchtlingsrat Baden-Württemberg. Dort war er acht Jahre beschäftigt, davon sechs Jahre als Geschäftsführer. Seit 2016 sei er bei der Arbeiterwohlfahrt in Esslingen tätig, wo er asylrechtliche Fortbildungen leite und Sozialarbeiter*innen berate.

Im Vortrag wurde deutlich, dass ein Aktivist wie Andreas selbst dann, wenn er seine Leidenschaft zum Beruf machen kann, auch ehrenamtlich weiter mobil bleiben muss. 2018 erschien über ihn in der regionalen Presse ein Artikel, in dem er als "Kämpfer für die Menschenrechte" bezeichnet wurde, obwohl er sich selbst weiter nur als "kleinen Don Quichote der Kreisklasse, der zwischen Resignation und Weiterkämpfen schwankt" sähe. Damit meinte er, dass es in seinem Arbeitsfeld der Flüchtlingshilfe viele Niederlagen zu bewältigen gäbe, und man mit den Geflüchteten ständig in einer Art Abwehrkampf stecke. Vom Bundesamt für Migration kämen sehr viele Ablehnungen, die verkraftet und bearbeitet werden müssten. Dass trotzdem immer wieder Geflüchtete in ihren Verfahren vor Gericht Recht bekommen, lasse ihn weiter an den Rechtsstaat glauben. Motivation und Kraft gewinne er aus kleinen Erfolgen, wobei ihm klar sei, dass man als gesellschaftliche Minderheit auch eine gewisse Demut brauche.

Zum Abschluss der biografischen Phase berichtete er uns von einem für ihn neuen Engagement, nämlich als gewählter Mandatsträger der "Linken" im Tübinger Kreistag, in dem doch einige Menschen mit Themen wie Flucht und Migration zu tun haben, z.B. zum Stichwort "Seebrücke". Selbstironisch, wie so manche seiner "Sponti Sprüche", meinte er, dass damit für ihn "der Marsch durch die Institutionen beginne". Privat wohne er heute zusammen mit seiner Frau in einem "linksgrünalternativversifften Wohnprojekt" in Tübingen.

Im zweiten Teil seiner Präsentation ging Andreas auf einige Personen und Gedanken ein, die für ihn in seiner Entwicklung wichtig gewesen seien und ihm bis heute immer wieder Mut und Hoffnung geben würden. Gleichzeitig würden sich ihm, bezogen auf diese Gedanken, auch immer wieder neue Fragen angesichts der erlebten Realität stellen. Mit diesen Fragen wollte er auch uns zum Nachdenken anregen. Von Andreas wurden in diesem Zusammenhang Sophie Scholl, der "Schwur von Buchenwald", Bertolt Brecht, Martin Luther King, Kurt Tucholsky und die "Allgemeine Erklärung der Menschenrechte" zitiert.

Im dritten und letzten Teil der Präsentation stellte Andreas den Verein vor, der ihm aktuell besonders am Herzen liege, und für den er in seiner freien Zeit besonders engagiert sei: move on - menschen.rechte tübingen e.V. (gegründet 2016). Im Mittelpunkt der Vereinsarbeit stehe die ganz praktische Unterstützung von Flüchtlingen. Vieles davon würde von ehrenamtlichen "Pat*innen" geleistet, die durch den Verein vermittelt werden. Es handele sich dabei um das vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördertes Programm "Menschen stärken Menschen". Ein anderes Projekt des Vereins war das Café mondial, ein offener Treff für Geflüchtete und Unterstützer*innen in Tübingen. Wichtig seien auch immer wieder sachliche und rechtliche Informationen und bei Bedarf auch materielle Unterstützung durch einen Solidaritätsfonds. (Mehr zu move on - menschen.rechte tübingen e.V. findet sich im Internet unter: https://menschen-rechte-tue.org/ ).

Am Ende des Vortrags ging es nicht nur mir so, dass ich nur staunen konnte, was ein engagierter Mensch so alles bewegen kann und sich dabei doch, bei allem Ernst des Themas und vieler Schwierigkeiten, Humor und eine gewisse Selbstironie bewahren konnte.

Nirit Sommerfeld: "Daheim entfremdet"

Nirit berichtete zu Beginn ihres Vortrags kurz über Vorgänge im Zusammenhang mit ihrem Jubiläumskonzert am 5. Oktober im Münchner Kulturzentrum Gasteig. Dort, am Ort ihres ersten Auftritts, hatte sie mit ihrem Orchester "Shlomo Geistreich" ihr Bühnenjubiläum gefeiert: "20 Jahre KlezMeschugge". Der Raum sei schon lange reserviert gewesen, doch zehn Tage vor dem Konzert sei sie von der Münchner Stadtverwaltung aufgefordert worden, schriftlich zu bestätigen, dass sie sich während ihres Konzerts nicht antisemitisch äußern würde. Zudem sei die Anwesenheit von Aufpassern angedroht worden, die im Auftrag der Stadt München beobachten würden, ob während der Veranstaltung "antisemitische Inhalte tangiert werden" und sie in diesem Fall die Veranstaltung abbrechen würden. Nirit berichtete, dass sie ihre Empörung mit einem Brief an die Stadtverwaltung zum Ausdruck gebracht und diesen Vorgang öffentlich gemacht habe. Es sei für sie nicht hinnehmbar, dass sie als deutsch-israelische Jüdin sich über 70 Jahre nach dem großen Menschheitsverbrechen in Deutschland rechtfertigen müsse, keine Antisemitin zu sein. Das sei an Absurdität, Hohn und ehrverletzender Verleumdung nicht zu übertreffen. Letztlich habe ihr die Stadt München insofern einen großen Gefallen getan, weil durch internationale Onlinemedien diese Geschichte in die Welt hinausgegangen sei. Ihr Konzert sei ausverkauft und das Publikum begeistert gewesen. Und sie habe alles gesagt und gesungen, was ihr am Herzen liege.

Nach den Erläuterungen zu diesem Vorgang betonte Nirit, dass sie dieses Thema heute nicht weiter vertiefen wolle. Wobei klar wurde, dass sie das nachhaltig belastet und in ihrer beruflichen Existenz bedroht.

Nirit erzählte, dass sie 1961 in der Stadt Eilat/Israel am Roten Meer geboren worden sei. An einer Flipchart skizierte sie eine Karte von Palästina und Israel, in die sie nach und nach neben den großen Städten der Region, das Gebiet des historischen Palästina, des heutigen Staates Israel, die Anrainerstaaten und die besetzten Gebiete eintrug. Schon an dieser Stelle wurde deutlich, wie sehr die Grenzen der verschiedenen Gebiete über die Jahrzehnte verändert worden waren.

Als ihr Vater Rolf 1937 als junger Mann von dessen Vater Julius zum Schutz vor den Nazis nach Haifa in Palästina gebracht worden war, habe es den Staat Israel noch gar nicht gegeben. Das Gebiet sei unter britischer Verwaltung gewesen, viele Araber hätten dort gelebt und zunehmend auch Juden, die neu dort auch aus dem nationalsozialistischen Deutschland angekommen seien. Nirits Großvater Julius stammte aus einer gutbürgerlichen Familie aus Chemnitz und habe sich, wie viele deutsche Juden, als Deutscher und als gleichberechtigter Bürger gesehen. Selbstverständlich hatte er als Soldat für das kaiserliche Deutsche Reich gekämpft. Trotz der absehbaren Entwicklungen und zunehmenden Judenfeindlichkeit in Deutschland war er aber bewusst in seiner Heimat geblieben und 1941 im KZ Sachsenhausen ermordet worden. Nirits Großmutter väterlicherseits starb bereits 1935 an einer Krankheit. Nirits Vater fand es schrecklich in Palästina und wollte lieber wieder zurück nach Deutschland. Als linksliberaler junger Mann habe er sich im zionistischen Untergrund durchgeschlagen und für einen jüdischen Staat gekämpft.

Nirits Mutter Ahuva stammte aus einer jüdisch-marokkanischen Familie, die Ende des 19. Jahrhunderts aus religiösen Gründen nach Palästina ausgewandert war. Geboren wurde die Mutter 1937 in Jerusalem als jüdische Palästinenserin. Aus Nirits Erklärung wurde schnell deutlich, wie verwirrend und widersprüchlich die Gleichsetzung von jüdisch als Religion und als Volk ist. Es gäbe in Palästina also nicht nur Juden und Araber, sondern auch jüdische Araber, die es bis heute besonders schwer hätten im damals neu entstehenden Staat Israel. Anhand einiger Bevölkerungsdaten erläuterte uns Nirit die Entwicklung der zahlenmäßigen Verhältnisse im Gebiet Palästina. Lebten dort um 1900 etwa 5 bis 7% Juden (zum Vergleich: in Deutschland 1933 waren es ca. 3%), so waren es in Palästina 1945 schon ca. 30%. Heute würden im Gebiet Palästinas insgesamt 12 Millionen Menschen leben, von denen etwa die Hälfte Juden seien.

Dass es heute einen Staat Israel gibt, hat nach Nirits Erläuterungen verschiedene Ursachen: z.B. die Ideen der zionistischen Bewegung, die Flucht vieler europäischer Juden während und nach dem 2. Weltkrieg, sowie die Überlegungen in den Vereinten Nationen zur staatlichen Gestaltung der Region. Parallel zu diesen Entwicklungen hätten sich in Palästina verschiedene paramilitärische Gruppen gebildet. Schließlich sei 1948 in Folge des "Unabhängigkeitskrieges" (wie die meisten Juden das sehen würden - Palästinenser sprächen von Vertreibung) der Staat Israel gegründet worden. Nirit erinnerte sich in diesem Zusammenhang, dass sie als Kind in Israel gelernt habe: "Wir Juden werden seit 2000 Jahren verfolgt" und "Wir kamen ursprünglich aus Palästina und wollen deshalb dorthin zurück. Wir kamen in ein leeres Land und gründeten dort den Staat Israel".

Warum ihre Familie schließlich 1970 nach Deutschland zog, erschließe sich ihr bis heute noch nicht so richtig. Sicher habe ihr Vater große Sehnsucht nach seiner Heimat Deutschland gehabt ("Wenn Du mal groß bist, wirst Du Goethe und Rilke lieben"). Aber sie hätten in Deutschland nichts mehr besessen. Der ursprüngliche Familienbesitz in Chemnitz war von den Nazis konfisziert worden und zu DDR-Zeiten - wie Nirit später recherchierte - sei das Haus der Familie abgerissen und überbaut worden. Außerdem habe es in Deutschland im Gegensatz zu Israel keinerlei Verwandte gegeben. Später sei ihr bewusst geworden, dass alle Angehörigen väterlicherseits in KZs ermordet worden seien. Als Kind von damals neun Jahren habe sie Deutschland "blöd" gefunden und die Menschen unfreundlich. Sie habe anfangs, wie auch ihre Mutter, kein Wort Deutsch gesprochen und ihre große Familie in Israel und das Klima dort vermisst. In Deutschland seien sie "Ausländer" gewesen, und ihre Mutter habe ihr verboten, in der Öffentlichkeit hebräisch zu sprechen. Nirit berichtete uns auch von ihren ersten Erfahrungen in der Grundschule. So seien z.B. die Aussagen des Lehrers über ihre jüdische Herkunft ("Was haben wir über die Juden in der Bibel gelernt?") einerseits erschreckend gewesen, wirkten aber andererseits heute glücklicherweise fast schon wieder kabarettistisch, zumindest dann, wenn Nirit sie in breitem bayrischen Akzent nachahmte. Im Laufe ihrer Schulzeit konnte Nirit den gesellschaftlichen Wandel der 70er Jahre miterleben, in dessen Zuge auch der Holocaust aufgearbeitet wurde.

Über die Jahre hinweg habe immer Kontakt zur Familie in Israel bestanden, berichtet Nirit, und die Sommerferien habe sie sehr gerne dort verbracht. So habe sie auch mit gewissen Widersprüchen leben gelernt: Beispielsweise habe sie hier als Jugendliche an Friedensdemonstrationen teilgenommen, gleichzeitig sei aber klar gewesen, dass sie als Bürgerin des Staates Israel (Nirit hat die deutsche und die israelische Staatsbürgerschaft) dort auch Militärdienst würde leisten müssen. Verwirrend sei für sie immer wieder gewesen, die massiven Konflikte zwischen Juden und Arabern zu erleben, wobei doch ihre eigene Familie mütterlicherseits arabische Juden seien.

Mit den Jahren merkte Nirit, dass es ihr am Ende der Ferien immer schwerer fiel, nach Deutschland zurück zu kommen, so groß sei ihre Sehnsucht nach Israel gewesen. Mit 17 Jahren habe sie schließlich eigenmächtig beschlossen, im Anschluss an die Ferien einfach dort zu bleiben. Es habe einigen Druck und Überredung ihrer Eltern gebraucht, wieder zurück nach Deutschland zu kommen, um ihre Schule zu Ende zu machen.

Viele Jahre und Besuche später, sie habe ihre Schauspielausbildung abgeschlossen gehabt, sei verheiratet gewesen und habe zwei Töchter gehabt, sei im Beruf in vielfältiger Weise engagiert gewesen, geschieden und wieder verheiratet -, sei ihre Sehnsucht nach dem Land Israel erneut so groß geworden, dass sie sich mit Unterstützung ihres Mannes dazu entschlossen habe, sich ihren größten Wunsch zu verwirklichen und mit ihrer Familie dorthin umzuziehen.

Dem vorausgegangen sei ein Projekt mit ihrem Orchester, in dessen Zusammenhang sie Kontakte zu einem palästinensischen evangelischen Pfarrer in Bethlehem hergestellt habe, um die arabische Seite ihrer alten Heimat vor Ort kennen zu lernen. Dieses Treffen bezeichnete sie heute als Augenöffner. Sie habe palästinensische Menschen kennen gelernt und deren Sicht auf die Geschichte. Nach zwei Jahren des Austauschs und des Lernens sei ihr bisheriges Fundament an Wissen über Israel wie weggebrochen, und damit all ihre Werte und Vorstellungen, mit denen sie bis dahin aufgewachsen sei und gelebt habe: "Wir, Israel, wir sind die Guten, und die anderen sind die Terroristen".

Trotzdem habe sie sich ihren Wunsch verwirklichen und in Israel leben wollen. In aller Offenheit berichtete Nirit uns, wie schwer sich das gestaltete, schwieriger als sie gedacht hatte. Ähnlich wie es ihr als Kind ergangen sei, so sei ihre jüngere Tochter auch nicht begeistert von dem Verlust ihrer bisherigen Heimat gewesen. Die ältere Tochter sei zum Studium in Deutschland geblieben. In Israel habe sie die staatlich organisierte "Integration" ihrer Tochter und die damit verbundene Vermittlung von Geschichte und Werten erlebt, wie sie für sie selbst nun nicht mehr stimmten. Je mehr Nirit Kontakte mit palästinensischen Freunden hatte, je mehr sie beobachtete und lernte, umso deutlicher habe sie gespürt, was alles und wie "nicht richtig" sei. Sie habe Ungerechtigkeiten in vielerlei Form erlebt, z.B. durch die völkerrechtswidrige Besatzung des Gaza-Streifens oder des Westjordanlandes, und wie sehr die Menschen dort darunter litten. Im Jahr 2009 habe sie an einer Demonstration gegen die militärischen Angriffe auf Gaza teilgenommen, denen immerhin 90% der Israelis zugestimmt hätten. Sie habe erlebt, wie Netanjahu Ministerpräsident geworden war und was dies für den Alltag und die Stimmung im Land bedeutete. Letztlich sei die Situation für sie einfach nicht mehr auszuhalten gewesen. Sie habe es auch nicht mehr verantworten können, wie ihre Tochter immer mehr vom Mainstream in Israel beeinflusst worden sei. Am schlimmsten war für sie jedoch gewesen, jeden Tag erleben zu müssen, wie wenig die Menschen in Israel von der illegalen Siedlungspolitik der Regierung und von der Geschichte der Vertreibung palästinensischer Menschen gewusst hätten. Und dass es, bei all den großen Problemen, keinerlei Vorstellungen für eine Lösung gegeben habe, die allen Menschen in Palästina gerecht werden könnte. Ende 2009 kehrte Nirit, "daheim entfremdet", und schweren Herzens mit der Familie nach Deutschland zurück.

Zurück in Deutschland habe sie angefangen, Reisen nach Palästina zu organisieren mit dem Anliegen, dass Interessierte sich selbst vor Ort ein Bild machen und erleben könnten, wie es dort tatsächlich sei. In der sich dem Vortrag anschließenden Fragerunde wurde die Bedeutung dieses Anliegens von einigen Zuhörer*innen bestätigt, die selbst in Palästina gewesen waren.

Nirit erzählte auch, dass sie 2016 zusammen mit Rupert Neudeck und einigen anderen Mitstreitern das "Bündnis zur Beendigung der israelischen Besatzung (BIB)" gegründet hat. Später sei es der Klarheit willen umbenannt worden in "Bündnis für Gerechtigkeit zwischen Israelis und Palästinensern (BIP) e.V.". Nirit war dort bis 2018 als Geschäftsführerin beschäftigt.

Am Ende ihrer Präsentation machte Nirit deutlich, dass für sie der Mensch im Mittelpunkt stehe, für den es gelte, Gerechtigkeit herzustellen. Konkret bedeute dies, dass in dem Gebiet von Palästina jeder dort lebende Mensch eine Stimme bei der Planung einer friedlichen und gerechten Zukunft haben sollte. Egal ob Jude oder Araber, egal welche Religion ein Mensch habe, für Nirit gilt "Mensch ist Mensch" und die Verwirklichung der allgemeinen Menschenrechte stehe für ihr Engagement im Vordergrund. Umso mehr verbitte sie sich den unsäglichen Vorwurf, Antisemitin zu sein und würde sich zukünftig, falls erforderlich, mit rechtlichen Mitteln dagegen wehren.

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Fußnoten

Veröffentlicht am

13. Dezember 2019

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