Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

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Eva-Maria Willkomm: “Alles wirkliche Leben ist Begegnung”

Vortrag von Eva-Maria Willkomm bei der 7.Tagung des Lebenshauses Schwäbische Alb "’We shall overcome!’. Gewaltfrei für die Vision einer Welt ohne Gewalt und Unrecht. Drei biographische Zugänge" am 19.10.2019 in Gammertingen

Von Eva-Maria Willkomm

A: Einleitung

Guten Tag und willkommen zu meinem Vortrag! Leider bin ich heute krank, aber ich wollte trotzdem kommen. Sollte mein Husten so stark werden, dass ich nicht mehr weiterreden kann, dann hat sich Ullrich schon bereit erklärt, meinen Text vorzulesen, aber ich probiere es erstmal!

Eigentlich sind Vorträge gar nicht meine Sache, ich kann das nicht so gut. Ebenso wenig bin ich in der Lage, gute Bücher zu schreiben oder gar Menschen zu missionieren. Aber nun bin ich hier und werde versuchen, das Beste daraus zu machen.

Was ich ganz gut kann und auch sehr gerne mache, sind persönliche Begegnungen, Beratungen für kleine Gruppen, Übungen, Körper- und Theaterarbeit. Das "Theater der Unterdrückten" von Augusto Boal begleitet mich schon seit dem Studium.

Ich sage das, weil ich euch und Ihnen ankündigen will, dass ich heute hier 2-3 kleine Übungen machen möchte. Aber: keine Angst, es wird nicht schlimm oder schwer!

Mein Prinzip ist, dass ich das, was ich vermitteln will, selber praktizieren und leben will - soweit ich es kann.

B: Programmvorstellung

"Alles wirkliche Leben ist Begegnung" - diesen Satz von Martin Buber habe ich über den Bericht von meinem Engagement gestellt. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass Begegnungen, Zuhören, Mitfühlen von Mensch zu Mensch das wirkliche Leben ausmachen. Das habe ich selber oft beidseitig erlebt. Dieser Satz und seine Bedeutung sowie die Auswirkung auf die Bildungsarbeit zieht sich als roter Faden durch das, was ich heute sagen will.

Ich werde meine Biografie in 10 Punkten vorstellen (das habe ich mir von Ullrich abgeguckt) und dann noch zusätzlich auf einzelne Fragen im Ankündigungs-Flyer eingehen, nämlich die nach Niederlagen und Erfolgen, sowie meine Visionen und Chancen für eine andere Welt beschreiben.

Der Abschluss wird wieder ein Buber-Gedanke sein.

1. Übung zu unseren Ambivalenzen: Ich bin bei mir - ich öffne mich

Bevor ich damit beginne, möchte ich euch und Sie mit einer kleinen Übung in eine Stimmung bringen, die zu dem, was ich zu sagen habe, passt.

Ich bitte alle, mal aufzustehen und sich so hinzustellen, dass die Arme ausgebreitet werden können.

Die Übung geht so, dass die Hände vor der Brust gekreuzt werden: "Ich bin bei mir" - spürt mal dahin.

Und dann die Hände öffnen und die Arme ausbreiten: "Ich öffne mich" - auch das spüren. Ein paarmal wechseln im eigenen Rhythmus und die unterschiedlichen Haltungen erleben.

Dann zum Ende kommen, die Arme hängen lassen und nachspüren, anschließend wieder hinsetzen.

Mein Part ist heute, mich zu öffnen. An euch und Ihnen liegt es, sich zu öffnen oder bei sich zu bleiben, wenn es zu viel oder zu schwer wird.

C: Meine Biografie in 10 Punkten:

1. Natur und Schöpfungsbewahrung

Geboren wurde ich in Uelzen in Niedersachsen als 5. Tochter in die Familie eines Gartenarchitekten und Landschaftsgärtners. Dort beobachtete und lernte ich früh das Hegen und Pflegen der Pflanzen und Bäume. Besonders kleine und mickrige Pflänzchen wurden von meinem Vater mit Aufopferung gepflegt. Ihnen wurde der schönste Platz, der beste Kompost und die liebevollste Betreuung zuteil, bis sie wieder heil und gesund waren. So ist die Bewunderung der Schöpfung und die Verantwortung für ihren Erhalt mir schon sozusagen in die Wiege gelegt.

2. Gerechtigkeit

Mein Vater war Unternehmer, sein Betrieb florierte und vergrößerte sich, er hatte zeitweise bis zu 20 Mitarbeiter. Er war ein guter und liebenswerter Chef (mit allem, was zu einem Chef dazu gehört).

Dass es nicht selbstverständlich ist, so zu leben, wie unsere Familie es tat, merkte ich so im Alter von 7 oder 8 Jahren in der Grundschulzeit. Ich besuchte die Familie eines Arbeiters meines Vaters. Seine Frau half meiner Mutter einmal in der Woche, wenn sie "große Wäsche" hatte. Die Tochter ging in meine Klasse. Sie wohnten in einer Behelfsheimsiedlung, denn sie waren nach dem Krieg aus Russland geflüchtet. Diese ärmliche Baracke mit der - für mich ungewohnten Einrichtung - z.B. Marienbilder an der Wand, war gemütlich und warm, aber so schlicht und so einfach - völlig anders als unser für damalige Verhältnisse "luxuriöses" Haus. Entsetzt war ich, als ich den mir merkwürdig schmeckenden Braten aß und ahnte, dass ein Kaninchen sein Leben lassen musste, weil die "Tochter des Chefs" zu Besuch war. Noch nie hatte ich Kaninchen gegessen - und dieses hatte meiner Klassenkameradin Irmgard gehört. Sie hatte Tränen in den Augen und rührte das Fleisch nicht an.

Von da an begriff ich, dass es verschiedene Lebensweisen, ja sogar Gesellschaftsklassen - auch in unserem Lande - gibt und ich entwickelte ein starkes Empfinden gegen Ungerechtigkeiten. So gut ich konnte und kann, versuche ich seitdem, dagegen an zu gehen.

Vielleicht als kleinen Einschub noch eine Beschreibung, wie zu der Zeit die Berufswahl für Frauen lief: meine vier älteren Schwestern hatten alle das Gymnasium besucht, aber nur eine hatte Abitur gemacht. Deshalb beschlossen meine Eltern, dass ich als Jüngste auf die Realschule gehen sollte, das reicht. Es war mir damals auch ganz recht. Nach der "Mittleren Reife" hatte mein Vater schon eine Lehrstelle für mich. Er legte gerade bei dem Direktor der "Uelzena-Milchwerke" einen Garten an und fragte den, ob er nicht seine Tochter unterbringen könne. Eigentlich wolle sie nach Hannover, um chemisch-technische Assistentin zu werden, aber er hätte doch ein großes Haus und das sei die letzte Tochter, die sollte lieber noch länger zu Hause bleiben. Und so machte ich eine Lehre als "Milchwirtschaftliche Laborantin" und wohnte weiterhin bei den Eltern, ob mir das passte oder nicht. Heute würde ich da wohl anders reagieren.

3. Friedensarbeit und eigene Familie

Frieden ist wohl das Stichwort, was mich am meisten geprägt hat. Ich glaube, das mein starkes Engagement für Frieden auch aus den vielfältigen Erfahrungen mit Tod und Sterben erwachsen ist.

Mit 19 Jahren habe ich geheiratet, u.a. weil ich "musste" - wie damals so eine gängige Redewendung war - denn ich war schwanger. Dieses Kind starb in meinem Bauch einen Tag vor seiner Geburt - bei der Entbindung und danach erlebte ich leibhaftig und hautnah, was Tod und Abschied bedeutet. Leider hatte damals niemand Verständnis für die Trauer einer so jungen Mutter. "Du kannst doch noch so viele Kinder kriegen", wurde mir gesagt und damit war das Thema beendet.

Der kleine Jesco wurde anonym auf dem Friedhof beerdigt. "Es ist besser so" - diese Aussage passte zur allgemeinen Tabuisierung des Themas. Dass ich auch noch "schuld" war am Tod meines Kindes, weil ich vorehelichen Geschlechtsverkehr hatte, wollte meine Mutter mir vermitteln - schlimmer geht es nicht!

Glücklicherweise habe ich danach noch zwei wunderbare Söhne Nils und Till geboren und glaubte, den Tod von Jesco verarbeitet zu haben, bis es mir an dem Tag, als er seinen 18 Geburtstag gehabt hätte, sehr schlecht ging und ich gezwungen war, mich dem Thema Tod zu stellen - bis dahin hatte ich nur verdrängt.

Übrigens würde Jesco heute, am 19. Oktober, 47 Jahre alt, wenn er hätte leben können.

In Hannover konnte ich mich während der Kinderbetreuungsphase in die Soziale Arbeit im Stadtteil Roderbruch einbringen. In einer neu gebauten Hochhaussiedlung mit viel Sozialwohnungen entstanden "Spielarkaden" - Räume für Kinder und ein selbstorganisierter Kindergarten bei dem die Eltern mitarbeiteten. Wir gründeten eine Bürgergemeinschaft, eine Friedensgruppe und mein liebstes Projekt war ein Café, in dem nur Frauen bedienten und es auch Kinderbetreuung für gestresste Mütter (damals leider noch keine Väter) gab. Dieses Café gibt es heute noch, es hat inzwischen einige feste Arbeitsstellen eingerichtet. Die beschriebenen Aktivitäten und ein jährliches Straßenfest machten den Stadtteil bunt und friedlich. Leider hat sich das inzwischen verändert und er wird die "Bronx" genannt.

Mit 30 Jahren erlebte ich die Trennung, den Abschied von der Ehe mit dem Vater meiner Kinder, die ursprünglich ein Leben lang halten sollte. Das haben wir nicht geschafft. Wir sind gescheitert, unsere Einstellungen und Überzeugungen waren zu verschieden, so unterschiedlich wurden dann auch unsere Lebenswege. Unsere Kinder waren damals 7 und 8 Jahre alt und lebten mit mir zusammen. Etwa alle 14 Tage verbrachten sie ein Wochenende mit ihrem Vater und im Sommer machten sie zusammen 3 Wochen Ferien.

Alleinerziehende Mutter zu sein, ist in unserer Gesellschaft nicht einfach - schon die Wohnungssuche ist ein Problem! Trotzdem hatten wir drei eine schöne Zeit miteinander. Ich studierte in der Zeit, was meine Kinder toll fanden: Mutter auf der Schulbank und immer viele Studies bei uns zu Hause für Arbeitsgruppen, aber auch für Spiel und Spaß - schließlich alles Pädagogik-Student*innen - die konnten gleich üben an meinen Kindern.

Till war ein sogenanntes "Sorgenkind", eine angeborene Gaumensegellähmung, Entwicklungsverzögerung und starke Kurzsichtigkeit waren die ersten Schwierigkeiten, ab der Pubertät kam noch Epilepsie dazu. Auch das Leben mit dieser Behinderung und den damit verbundenen Ängsten war nicht leicht.

Mein damaliger Lebenspartner Günter, der mit mir zusammen in der Friedensarbeit engagiert war, hatte eine "Karriere" als Fremdenlegionär für die Franzosen in Vietnam hinter sich, die ihn nicht nur sein Augenlicht gekostet hatte, sondern auch den Glauben an die Macht der Gewalt, er war zum Friedenskämpfer geworden. Unsere gemeinsame Zeit war sehr intensiv und voller politischer und gesellschaftlicher Aktivitäten, auch in der Kirchengemeinde Wettbergen, wo alle 4 Kinder (meine beiden Söhne Nils und Till und Günters zwei Söhne Olli und Andy) konfirmiert wurden und im Kinderzirkus aktiv waren (der Start für Nils’ Karriere als Artist). Wir gründeten eine Friedensgruppe, in der wir mit Bundeswehroffizieren und dem Darmstädter Signal zusammenarbeiteten, die Gruppe "Neuer Lebensstil" und hatten erste Kontakte zu einer Gruppe aus der Sowjetunion (vor der Wende). So viele Erlebnisse und Erfahrungen in so kurzer Zeit!

Günter starb ganz plötzlich, als ich knapp 35 Jahre alt war. Das war ein furchtbarer Schlag für uns, seine beiden Söhne, meine Kinder und mich. Günter war "aus dem vollen Leben herausgerissen worden".

Auch diesen Tod versuchte ich zu verdrängen, aber das ging nicht so leicht. Immerhin konnte ich für eine würdige und schöne Beerdigung sorgen und jeden Tag zum Grab gehen. Mit einem Freund (ehemaliger Soldat, jetzt Kriegsdienstverweigerer) stellte ich Texte von Günter zusammen und beschrieb sein Leben in einem Buch - eine gute Form der Trauerbewältigung.

Schwer war es dann auch für mich, als beide Kinder fast gleichzeitig auszogen und ihre eigenen Wege gingen, plötzlich war ich allein. Die Lösung fanden die Kinder: ich solle doch zur auch alleinstehenden Mutter ihrer beiden Freunde ziehen. Das tat ich und hatte mit meiner Freundin Gitti eine tolle Zeit. Till kam dann nochmal zurück, denn es war für ihn nicht leicht, selbstständig zu leben, aber er hat es immer wieder geschafft.

Inzwischen hatte ich - als "Spätberufene" - mein fachgebundenes Abitur für den Zugang zur Hochschule und mein Studium als Diplom-Pädagogin abgeschlossen, eine Ausbildung als Trainerin für gewaltfreies Handeln und Konfliktbearbeitung hinter mir und verdiente mühsam als Freiberuflerin mit vielen verschiedenen Aufträgen unseren Lebensunterhalt. Ich gab ‚Alphabetisierungskurse für geistig Behinderte’, unterrichtete ‚Sonderpädagogik für Logopäd*innen’, ‚Familienpolitik’ an der Fachschule für Sozialpädagogik im Rauhen Haus in Hamburg, ‚Deutsch für Ausländer*innen’ und leitete viele ‚Gewaltfreie Aktions-trainings’ gegen die Atommülllagerung oder für den Schutz von Flüchtlingswohnheimen etc.

1996 bekam ich meinen "Traumjob" als Bildungsreferentin beim "Oekumenischen Dienst Schalomdiakonat". Dort konnte ich mein politisches Engagement und meine Erwerbsarbeit zusammenbringen. Das empfand ich als ein Privileg.

Inzwischen heißt der Verein "gewaltfrei handeln" und ich bin "Freifrau", d.h. in Rente.

Der Vorsitzende dieses Vereins war Herbert Froehlich, katholischer Priester. Es entstand zwischen uns eine sehr besondere und tiefe Verbindung. Sie dauerte sieben einhalb Jahre - bis Herbert an den Folgen seines Magenkrebses starb. Ich war 52 Jahre alt und durfte ihn bis zum Tod intensiv begleiten, er starb in meiner Wohnung in Kassel - eine "schrecklich-schöne" Erfahrung.

Meine pazifistische Überzeugung kommt wohl vor allem aus diesen Erfahrungen mit Tod und Sterben. Die Ablehnung von jeglicher verletzenden und zerstörenden Gewalt sitzt ganz tief in meiner Seele und ist nicht nur aus vernünftigen Gründen entstanden. Die kamen erst später dazu.

4. Gemeinschaft

Meine Ursprungsfamilie war sehr fromm. Sie gehörte einer kleinen selbstständigen ev. luth. Kirche an (SELK). Meine beiden Großväter waren dort Pastoren und sogar noch Missionare in Indien. Jeden Sonntag gingen wir als komplette Familie zur Kirche, wir beteten vor dem Essen und hielten Andacht am Morgen und am Abend. Die morgentlichen Gebete im Hausflur, wenn draußen die Freund*innen schon warteten, waren mir sehr peinlich, aber es war meiner Mutter sehr wichtig, mir einen Segen mitzugeben.

Die Gemeinschaft dieser Gläubigen spielte eine große Rolle. Es war selbstverständlich, sich gegenseitig zu helfen, bei Krankheit zu besuchen und viele Dinge des täglichen Lebens gemeinsam zu regeln. Durch diese Erfahrungen, die ich seit der Kindheit gemacht habe, lernte ich, dass ein Leben in Gemeinschaft sinnvoller, einfacher und erfüllter ist, als allein zu leben. Inzwischen ist mir klar, dass gewaltfreies Handeln in Gemeinschaft leichter ist - ja, vielleicht sogar nur so funktioniert.

5. Widerstand

In gewisser Weise hat diese SELK eine Form des Widerstandes gelebt. Widerstand gegen eingefahrene Kirchenstrukturen - hin zu selbstständigen Gemeinden, die sich selber verwalten, finanzieren und tragen. Nach meiner Meinung hat sich in dieser Kirche aber ein falscher Widerstand entwickelt: nicht gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung, sondern z.B. gegen das gemeinsame Abendmahl mit Andersgläubigen oder gegen die Frauenordination.

Mir wurde es in dieser Kirche bald zu eng und zu dogmatisch. Mein persönlicher Widerstand ging viel weiter - bis zum Austritt aus dieser Kirche. Das war für meine Eltern sehr schmerzlich.

Aber so hatte ich schon sehr früh das Auflehnen gelernt, was mir später in der politischen Arbeit half, die unterschiedlichen Widerstandsformen zu verstehen, einzuüben und zu nutzen.

6. Nachfolge Jesu

Meine Eltern sind bestimmt auf ihre Weise selig geworden. Ihr fester Glaube hat ihnen im Sterben unterschiedlich gut geholfen. Wie würden sie sich freuen, wenn sie wüssten, dass ich mich als Jesu Nachfolgerin bezeichne. Jesu Leben und Handeln ist mir Vorbild und Wegweisung geworden. Seine klare Absage an Gewalt in allen ihren verletzenden Formen ist für mich überzeugend.

7. Konfliktbearbeitung

"In der Mitte des Konfliktes liegt die Kraft" - mein Lieblingssatz - ist mir in jungen Jahres noch nicht geläufig gewesen. Ich hatte gelernt, Konflikte unter den Teppich zu kehren. Es gab sie nicht, sie wurden verdrängt und bestenfalls mit "dem Mantel der Liebe" zugehängt. Dass die innewohnende Kraft sich dadurch meistens verstärkt und zu indirekter oder direkter Gewalt führen kann, habe ich erst später wahrgenommen und verstanden.

Jetzt bin ich der Überzeugung, dass es nicht zu Gewalt - in welcher Form auch immer - kommen muss, wenn die Konflikte rechtzeitig ernsthaft bearbeitet werden. So kann die Kraft in der Mitte des Konfliktes genutzt werden - für Begegnung und Transformation. Es ist immer wieder beeindruckend, wie sich die Kraft, die durch einen Konflikt gebunden ist, in positive Stärke zur Veränderung wandeln kann.

8. Gewaltfreiheit

Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass nur der Verzicht auf Gewalt dauerhaften Frieden und Gerechtigkeit in die Welt bringen kann. Der gewaltfreie Weg ist lang, anstrengend und immer wieder auch steinig. Gewaltfreie Prozesse dauern viel länger als ein massiver Gewaltschlag. Aber es bleibt auch mehr übrig. Nicht alles wird vernichtet und zerstört, sondern langsam wird Vertrauen, Verbindung und Beziehung aufgebaut, bis Verständnis und Versöhnung möglich ist.

Gewaltfreiheit besteht nicht aus Tipps und Tricks, um die Gegenseite doch noch hinten herum zu vernichten. Sie meint auch nicht so etwas wie eine oberflächliche Harmonie oder sich alles gefallen lassen. Gewaltfreiheit ist eine Haltung, ebenso ein aktives Zugehen auf Konflikte, anstatt sie zu verdrängen. Ich werde mein ganzes Leben lang daran zu arbeiten haben.

Ein positives Menschen- und Gottesbild ist unerlässlich für den Glauben daran, dass Gewaltfreiheit richtig ist.

Ich habe als Kind gelernt, an Schuld und Sünde zu glauben: Die Erbsünde soll dazu führen, dass schon Neugeborene in Sünde leben und verdammt sind, wenn sie nicht ganz schnell getauft werden - das war und ist für mich bis heute völlig unbegreiflich. Diese Vorstellung in Verbindung mit dem strafenden Gott hat mich viele schlaflose Nächte und teure Therapiestunden gekostet. Wie froh bin ich, dass ich schon lange ein humanistisches Menschenbild habe, in dem Menschen von Geburt an gut sind und bedingungslos angenommen werden. Am neuen Bild eines annehmenden Gottes (oder Göttin) arbeite ich noch, das alte sitzt sehr tief!

Mein Vater war im Zweiten Weltkrieg Soldat, zuletzt in Italien an der Adria in Gefangenschaft. Er erzählte nichts vom Grauen des Krieges, aber von der Kameradschaft, von Beutezügen und wie er in der Gefangenschaft Gruppen für Bibelarbeit, Zeichnen und Englischunterricht gegründet hat oder wie er sich eine Höhle mit Kekskartons eingerichtet hat.

Ich habe ihm von meiner gewaltfreien Haltung erzählt, die er eigentlich nicht verstehen konnte. Kurz vor seinem Tod bat er mich, ihm zu glauben, dass er keinen Menschen (direkt) getötet hat.

9. Solidarität mit den Armen und Unterdrückten

Auch dieser Punkt gehört zu dem, was ich von Jesus gelernt habe (und von meiner Klassenkameradin aus der Behelfsheimsiedlung). Die Scham gegenüber den Menschen, die in Not und Armut leben, lässt mich manchmal demütig werden. Wie viel davon geht auf meine Kosten? Wem habe ich meinen Wohlstand zu verdanken? Ich denke z.B. an ungerechte Löhne, Hierarchien und unterdrückende Macht, aber auch an Lebensmittel, die extra produziert werden, um dann vernichtet zu werden oder Geldmanipulationen rund um den Erdball und Zinsgeschäfte, die unrecht sind.

In meinem persönlichen Bereich versuche ich deshalb immer mehr los zu lassen und weniger zu (ver)brauchen - das ist nicht so einfach, aber ich erlebe es meistens als Befreiung.

10. Gastfreundschaft

Mit diesem letzten Punkt schließt sich der Kreis zu meinem Elternhaus. Nach dem sonntäglichen Gottesdienst brachte meine Mutter fast immer irgendeinen armen Menschen mit nach Hause. Das Essen reichte nicht nur für uns, es war so reichlich, dass wir Gäste einladen konnten. Gastfrei zu sein war selbstverständlich - das schuldeten wir schon dem Namen "Willkomm". Es kam aber wohl auch aus einem tiefen Mitgefühl, aus Liebe zu den Menschen. Das gebe ich gern und mit großer Freude weiter - wie viele wunderbare Begegnungen hatte ich auf diese Weise schon!

"7 sind geladen, 10 sind gekommen - gieß Wasser zur Suppe, heiß alle willkommen" war der Spruch an unserer Küchentür.

Mit diesen 10 Stichpunkten lässt sich mein Leben in groben Zügen beschreiben und vielleicht etwas verstehen?

Mehr noch: die Motivation und die Hintergründe meines so vollen, reichen und erfüllten Lebens haben ihren Ursprung in meiner Herkunft, aber auch in meinen - oft schmerzlichen - Lebenserfahrungen. Ich möchte sie deshalb nicht missen!

Zwei wichtige Teile gehören noch dazu:

Ganz besonders dankbar und glücklich bin ich darüber, dass ich im Alter von 58 Jahren noch einen Mann getroffen habe, der ganz viele meiner Gedanken und Einstellungen teilt. In dieser Liebesbeziehung von zwei Menschen, die schon viel mitbringen an Lebensprägungen gelingt es, die vielen Facetten unserer Überzeugungen und Haltungen miteinander zu beleuchten und zu teilen. Und dazu noch viel Schönes zu erleben und einander und das Leben zu entdecken und zu genießen - auch unsere Kinder und Enkelkinder.

Wir haben vor fast 4 Jahren in Kassel geheiratet und ich bin danach nach Villingen gezogen und seit Beginn meiner Rente vor einem knappen Jahr ganz dort. Mit Ullrich möchte ich den restlichen Lebensweg gehen, solange er uns denn noch geschenkt sein wird.

Zu den schwersten Ereignissen meines Lebens gehört der Tod meines Sohnes Till vor fast 5 Jahren. Er starb an Sudep (sudden unexpected death for epileptic patients - plötzlicher unerwarteter Tod epileptischer Patienten) - vergleichbar mit dem "Plötzlichen Kindstod".

Wir fanden ihn in seinem Bett, es war ein schneller Tod, Till hat sich nicht quälen müssen. Sein Leben war wohl auch zu Ende gelebt und es ist ihm möglicherweise einiges erspart geblieben. Aber er hat eine große Lücke hinterlassen.

Ich hatte in Ullrich und unserer tiefen Bindung einen wunderbaren Begleiter.

Die schwierige Beziehung zu Tills Vater wurde durch die Trauer um den Verlust des gemeinsamen Kindes entspannt und gelöst.

Wahrscheinlich hätte ich nicht den Schritt gemacht, von Kassel in den Schwarzwald zu ziehen, wenn Till noch in Hannover gelebt und mich gebraucht hätte.

2. Übung zu unseren Ambivalenzen: Ich brauche Schutz  - Ich bin auf mich gestellt

An dieser Stelle möchte ich gerne noch eine Übung machen. Das können wir wohl alle jetzt ganz gut gebrauchen.

Bitte wieder aufstehen und sich eine*n Partner*in suchen. Nun mit den Rücken gegeneinander lehnen (ich brauche Schutz) und das erspüren (und genießen?!). Danach wieder voneinander lösen, etwas Abstand lassen und allein stehen (ich bin auf mich gestellt). Das ein paar Mal wiederholen und auch versuchen, zu fühlen, was die andere Person gerade will oder braucht.

D: Niederlagen und Erfolge

Niederlagen:

Frustriert haben mich Veranstaltungen, zu denen die Teilnehmenden nicht freiwillig kamen, z.B. in der Schule oder im Predigerseminar. Gewaltfreiheit ist nicht missionarisch oder mit Zwang zu vermitteln. Auch, wenn die Teilnehmenden am Ende meistens ihren Widerstand aufgegeben hatten, blieb bei mir ein ungutes Gefühl.

Ebenso war ich sehr frustriert, wenn es Diskussionen um Gewaltfreiheit gab und die Ultima ratio als unabdinglich bezeichnet wurde. Absolute (kompromisslose) Gewaltfreiheit ist nur für wenige Menschen selbstverständlich und das ist für mich immer wieder schmerzlich.

Erfolge:

Die Perspektiven oder Erfolge messe ich nicht in Quantität, in den Kursen sind wenig Menschen und Zahlen von 100 oder 1000 werden nie erreicht.

Aber jeder einzelne Mensch ist so wichtig, jede Begegnung zählt und es ist beeindruckend, wie Menschen ihr Leben neu gestaltet haben nach so einem Kurs, nach einer Ausbildung, z.B.:

  • die Nonne aus dem Kloster, die nach der Ausbildung zur Friedensfachkraft erkannt hat, dass sie nicht mehr im Kloster bleiben kann und inzwischen als "Kleine Schwester Jesu" in Moskau mit den Armen lebt oder
  • der Student, der sich nach dem Kurs für einen Friedensdienst in Kolumbien entschließt (gerade gestern habe ich einen Rundbrief von ihm und seiner Familie bekommen, den habe ich dort hinten ausgelegt).
  • Auch die Studienrätin, die an den Strukturen in der Schule leidet und eine Ausbildung in GFK (Gewaltfreie Kommunikation) anschließt und danach freiberuflich arbeitet und damit sehr zufrieden ist.
  • Eine junge Doktorandin traut sich nach der Ausbildung zu, in den Zivilen Friedensdienst nach Malawi zu gehen und
  • ein Bauernsohn übernimmt den Hof seines Vaters - was er vorher nie wollte - und stellt diesen auf biologischen Landbau und "Demeter" um.

Ich spreche nicht von Erfolgen, sondern lieber von neuen Lebensperspektiven.

E) Visionen, Chancen für eine andere Welt

In meiner pädagogischen Arbeit, der Bildungsarbeit, ist mir die Begegnung auf Augenhöhe das Wichtigste. Nicht von oben nach unten oder womöglich mit dem Trichter in den Kopf soll Bildung vermittelt werden. Der Weg ist das Ziel (Gandhi)! Ich möchte gern das entdecken, heben und aktivieren, was in den Menschen steckt und was sie dann selber wachsen lassen können.

Dabei ist die Wertschätzung und Achtsamkeit den Menschen gegenüber die Voraussetzung.
Eine Grundbedingung, die zunächst geschaffen werden muss, ist gegenseitiges Vertrauen, das kann ich nur mit Offenheit und Transparenz erreichen. Ich kläre die Teilnehmenden über die Methoden und Ziele auf.

Sie haben die Möglichkeit, bestimmte Übungen nicht mitzumachen, alles ist freiwillig. Sie entscheiden, wie weit sie gehen wollen in Bezug auf Selbsterfahrung, sie werden zu nichts gezwungen und nicht überrumpelt.

Wenn bei ihnen schwere und traumatische Dinge hochkommen, bin ich für sie da und fange sie auf. Die Bildungsarbeit ist aber keine Therapie.

Ich versuche, all das, was ich vermitteln will, selber vorzuleben. Und ich bemühe mich um ein höchstmögliches Maß an Toleranz, solange ich damit nicht Gewaltstrukturen unterstütze. Dagegen widersetze ich mich, wo ich kann.

Eine besondere Herausforderung sind mir da die christlich-muslimischen Gruppen, in denen ich arbeite - und es ist mir auch eine besondere Freude, was sich da z.B. im CMFD (christlich-muslimische Friedensinitiative Deutschland) und bei "Abrahams Töchtern" in Villingen tut.

3. Übung: - "Wo war Begegnung ganz schwer?" - Austausch zu zweit mit Nachbar*in

Die 3. Übung geht jetzt im Sitzen - suchen Sie sich/sucht euch eine Person, mit der Sie/ ihr euch gerne austauschen möchtet, um gegenseitig zu erzählen, wo Begegnung ganz schwer war - oder auch ganz leicht und was dabei geholfen hat.

Danach geht es weiter mit dem Abschluss.

F: Abschluss

Ich möchte mit einem Gedanken von Martin Buber schließen:

Wenn Buber nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zu Vorträgen nach Deutschland eingeladen wurde, lehnte er diese meist ab. Der antisemitische Geist, der ihm entgegenkomme, sei für ihn unerträglich. Aber er war bereit mit jedem Menschen im Zweiergespräch zu reden, auch wenn er antisemitische Gedanken äußern würde. Er sehe dann in dem Menschen nicht allein den Antisemiten, sondern auch den Menschen.

Und da schließt sich der Kreis zum Anfang: "Alles wirkliche Leben ist Begegnung" - so erlebe ich es:

  • die wunderbaren Begegnungen mit meine Lieben, Verwandten und Freund*innen und
  • mit den vielen Menschen, die ich in meiner Arbeit und meinem friedenspolitischen Engagement -   z.B. auch im Vorstand vom Internationalen Versöhnungsbund-Deutscher Zweig und auch hier im Lebenshaus - kennen gelernt habe.
  • Aber auch die schweren Begegnungen mit Menschen, die anders denken und handeln als ich und
  • die schmerzlichen Begegnungen mit Tod und Sterben.

So paradox es klingen mag: Das ist das wirkliche Leben!

Eva-Maria Willkomm, Jg. 1953, Diplom-Pädagogin und Trainerin für gewaltfreies Handeln und Konfliktbearbeitung. 1986-1992: Ausbildung zur Milchwirtschaftlichen Laborantin, Heirat, 3 Geburten, als Alleinerziehende Studium an der Uni Hannover, Fachbereich Erziehungswissenschaften mit Schwerpunkt: Sonderpädagogik und Erwachsenenbildung. Sie begann in den 80er Jahren ihr Engagement für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung als Reaktion auf den Nato-Doppelbeschluss, gründete zwei Friedensgruppen in Hannover und arbeitete im Friedensbüro Hannover mit; 1993 absolvierte sie eine Ausbildung zur Trainerin in gewaltfreiem Handeln in der KURVE Wustrow und arbeitete dort im Vorstand und als freie Mitarbeiterin. Von 1996 bis Oktober 2018 war sie Bildungsreferentin bei gewaltfrei handeln e.V., leitete Ausbildungen für Friedensfachkräfte, Fortbildungen in gewaltfreiem Handeln, Mediation und Konflikttransformation. Seit 2013 Vorstandsmitglied des Internationalen Versöhnungsbundes Deutscher Zweig, Mitarbeit in verschiedenen interreligiösen Gruppen, z.Zt. bei Abrahams Töchtern in Villingen und der Christlich-muslimischen Friedensinitiative CMFD.

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Veröffentlicht am

22. November 2019

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