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Gewaltfreiheit von einem Ort, wo ihr Auftreten am unwahrscheinlichsten zu sein schien

Von Nathan Schneider

Was ist die Voraussetzung dafür, sich vorstellen zu können, dass gewaltfreie Ansätze zur Konfliktbewältigung möglich sind? Jahrtausendealte religiöse Traditionen? Ein Prophet? Gesunder Menschenverstand? Ganz sicher ist der letzte Ort, an dem man Gewaltfreiheit zu finden erwartet, das harte Land einer Volksgruppe harter Krieger, ein Land, in dem die Schusswaffe zur Tracht gehört und Stammesfehden Generationen überdauern.

Gestern Abend hat die Musikakademie Brooklyn den Film The Frontier Gandhi: Badshah Khan, a Torch for Peace, 2008, gezeigtOktober 2019: http://thefrontiergandhimovie.com/about.html ., an dem T.C. McLuhan jahrzentelang gearbeitet hat. Der Film erzählt eine Geschichte, die unbedingt erzählt werden muss: die Lebensgeschichte Khan Abdul Ghaffar Khans, des überragenden paschtunischen Führers, der mit Gandhi im gewaltfreien Kampf am Abschütteln der britischen Kolonialherrschaft zusammengearbeitet hat. Danach arbeitete er daran, die brandstiftenden Bedingungen kultureller und religiöser Identität zu beseitigen, die Pakistan von Anfang an gekennzeichnet haben. Im Ganzen verbrachte er ein Drittel seiner 98jährigen Lebenszeit im Gefängnis.

Die Interviewpartner im Film sprechen immer wieder von dem "Wunder", dass Khan, der in der chaotischen Stammesregion im gegenwärtigen Pakistan und Afghanistan geboren wurde und aufwuchs, zu einem Badshah, einem König, des Friedens werden konnte und dass er eine hunderttausend Mann starke gewaltfreie Armee, die Khudai Khidmatgaran, mobilisieren konnte. Diese Soldaten trugen rote Kleider aus im Hause gesponnenem und gewebtem Garn. Diese Kleider symbolisierten ihre Selbstverpflichtung dazu, ihr Blut für die Sache von Frieden und Freiheit zu vergießen. Mitten in einer mutmaßlichen Kultur des Tötens wurde Khan klar, dass Gewalt nur zur Niederlage führen könne und dass der einzige lohnende Sieg der sei, der gewaltfrei gewonnen worden sei.

Die stärksten Teile des Films sind die Interviews mit den 82 Khudai-Khidmatgar-Soldaten, darunter 5 Frauen, die McLuhan zusammenzubringen gelungen ist, indem er durch abgelegene Dörfer Pakistans und Afghanistans reiste. Alle waren wenigstens in ihren Neunzigern. Sie sprachen stolz von ihrem Dienst und ihrer Hingabe an die Ideale, die Khan sie gelehrt hatte. Khan war der Sohn wohlhabender Landbesitzer und er war britisch erzogen worden. Das waren im Großen und Ganzen diese Männer und Frauen nicht. Aber irgendwie agierten sie nicht das Klischee aus, das alle - im In- und Ausland - von ihrer Gesellschaft zu haben scheinen. Ihre Zeugenschaft erinnert uns daran, dass Spuren von Gewaltfreiheit tief in jeder menschlichen Gesellschaft verwurzelt sind, ganz gleich wie kriegsbereit sie ist. Wir vergessen das nur allzu leicht, wenn uns fast ausschließlich Gewalttaten so sehr erregen, dass sie Schlagzeilen machen können.

Der Film The Frontier Gandhi hätte kaum zu einer passenderen Zeit kommen können. Und doch besteht die Gefahr, dass er sich in derselben sinnlosen Politik verläuft, die den Protagonisten an den Rand gedrängt und sein Leben lang verfolgt hat. Die Spannungen zwischen Indien und Pakistan wurden in den Äußerungen derjenigen greifbar, die gegenwärtig versuchen, Khan entweder für sich in Anspruch zu nehmen oder zu verleugnen. Pakistan hat Khans Gedächtnis aus den Lehrbüchern getilgt und der ehemalige Präsident Pervez Musharraf, der in dem Film zu Wort kommt, nennt Badshah einen Gegner der Sache Pakistans. Für Indien jedoch stellt er eine Ehrenrettung für Gandhis Erbe dar, auf das sie Anspruch erheben. Während der unglaublich gewalttätigen Zeit der Teilung Indiens in Indien und Pakistan, gegen die sowohl Gandhi als auch Khan waren, wachten die Khudai Khidmatgaran über Häuser und Eigentum der Hindus in Pakistan und schützen sie vor dem muslimischen Mob. Der Film zeigt einerseits Leute auf pakistanischen Straßen, denen der Name Khan nichts sagt, und andererseits zeigt er eine Schar indischer Schulmädchen, die begeistert von seinen Leistungen sprechen.

Besorgnis könnte der Film auch bei Soldaten aus dem Westen erregen, die jetzt genau da, wo Khan lebte und arbeitete, Krieg führen. Könnte das Bekanntmachen dieser Geschichte zu mehr "passivem" Widerstand anregen? Wenn die Taliban-Kämpfer ihre Waffen abgeben und zu sanftmütigen Friedensstiftern würden, könnte man sich vorstellen, dass es sehr viel leichter würde, einen prowestlichen Nationalstaat über den "gesetzlosen" Stammeskriegern zu errichten und damit das Universum des Terrorismus ein für alle Mal zu beseitigen. Hamid Karzai lobt in dem Film Khan übrigens. Man kann nur hoffen, dass die Überzeugung Gandhis und Khans wahr wird: die Überzeugung, dass es keine mächtigere Waffe als den gewaltfreien Kampf gibt und dass diejenigen, die ihn sogar gegen die amerikanische Kriegsmaschine führen, wahrhaftig und sinnvollerweise gewinnen werden.

Bei seinem Tod 1988 zeigte Badshah Khan ein letztes Mal seine Meisterschaft als Künstler des menschlichen Geistes. Zwar starb er in einem Krankenhaus in Pakistan, aber er hatte darauf bestanden, in Jalalabad in Afghanistan, jenseits des Khyber-Passes, begraben zu werden. Seine Familie war zwar dagegen, aber er hatte trotzdem darauf bestanden. Und so geschah es. Tausende überschritten die Grenze ohne Pässe oder andere Papiere. Der Bürgerkrieg in Afghanistan legte für ein paar Tage eine Pause ein. Das "Geschäft wie üblich", der Krieg wie üblich, wurde für eine Weile angehalten, damit die Menschen die Vision eines großen Mannes feierlich begehen konnten.

Aber dann explodierte eine Bombe. 15 Menschen von den Hunderttausenden, die in Frieden gekommen waren und Normalität ertrotzen wollten, starben. Eine Bombe explodierte und infolgedessen gelangte der Bericht über das Begräbnis in die Nachrichten .

Nathan Schneider (geb. 1984) ist Journalist und seit 2015 Professor für Medienwissenschaften an der Universität Colorado Boulder. Er schreibt Berichte über soziale Bewegungen in den Vereinigten Staaten. Er ist Mitbegründer von Waging Nonviolence und war früher Redakteur. Sein neuestes Buch ist Everything for Everyone: The Radical Tradition that Is Shaping the Next Economy . Seine Artikel sind in folgenden Druckmedien erschienen: Harper’s, The Nation, The New Republic, The Chronicle of Higher Education, The New York Times, The New Yorker, The Catholic Worker und anderen. Seine Arbeiten stellt er auf verschiedenen sozialen Medien und seiner Website http://nathanschneider.info/ vor.

Aus dem Englischen von Ingrid von Heiseler

Quelle: Waging Nonviolence . Originalartikel: Nonviolent from the unlikliest of places , 15. Juni 2009. Eine Vervielfältigung oder Verwendung des Textes in anderen elektronischen oder gedruckten Publikationen ist unter Berücksichtigung der Regeln von Creative Commons Attribution 4.0 International (CC BY 4.0) möglich.

Fußnoten

Veröffentlicht am

07. November 2019

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