Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

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Offener Brief der “Jüdischen Stimme” an Michael Blume, Antisemitismusbeauftragter von Baden-Württemberg

Von Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost

Sehr geehrte Herr Blume,

Sie haben die Wanderausstellung "Die Nakba - Flucht und Vertreibung der Palästinenser 1948" im 1. Antisemitismusbericht des Landes-Baden-Württemberg unter der Überschrift "Handlungsempfehlungen - Was tun im Kampf gegen Antisemitismus?" im Absatz "Israelfeindlichen Antisemitismus stoppen" genannt. Auch wenn sie von Ihnen nicht ausdrücklich als antisemitisch bezeichnet wird, so empfehlen Sie, Herr Blume:

"…die Überarbeitung oder Erneuerung der "Nakba"-Ausstellung, damit neben der damaligen Flucht und Vertreibung arabischer Menschen gleichberechtigt auch die Vertreibung jüdischer Menschen aus fast allen arabischen Staaten - zum Beispiel dem Irak - gezeigt wird."

Es mag sein, dass Sie diese Aussage reproduzieren, weil Sie ohne zu überprüfen, der Nicht-auf-Hebräisch-Propaganda der israelischen Regierung folgen (auf Hebräisch wird Juden aus arabischen und muslimischen Ländern Zionismus als Motivation zur Migration nach Israel zugeschrieben).

Eine andere Möglichkeit wäre, dass Sie von Ignoranz geleitet sind. In dem Fall können wir den offenen Brief mehrerer Israelis und Juden an die Heinrich-Böll-Stiftung empfehlen. Nach Veröffentlichung dieses Briefes sowie dem Boykott israelischer Filmmachern des Festivals, hat die Stiftung zugegeben, dass das Festivalprogramm vom israelischen Staat finanziert und mitgestaltet wurde. Nach dieser Kritik wurde das Programm geändert.

Die Heinrich-Böll-Stiftung begeht leider eine Geschichtsfälschung / Offener Brief kritischer Juden und Israelis

Berlin, den 9.1.2011

Sehr geehrte Damen und Herren der Heinrich-Böll-Stiftung,

Wir, Jüdinnen, Juden und Israelis, haben mit großer Freude vernommen, dass Sie ein Filmfestival über Israel Ende Januar 2011 in Berlin veranstalten. Dabei soll die Auseinandersetzung mit der Geschichte und sozialen Lage der Misrachi, also Jüdinnen und Juden, die aus arabischen bzw. muslimischen Ländern stammen, im Fokus stehen. Umso größer war unsere Entsetzen, als wir das Programm zu sehen bekamen.

Nicht nur, dass viele äußerst problematische Formulierungen in ihrem Flyer enthalten sind, wie beispielsweise "Orient"/"orientalisch", oder dass der von Misrachi zur Selbstidentifikation selbst genutzte Begriff Misrachi in Anführungszeichen gesetzt wird. Auch fehlt das Wort Rassismus in ihrem Einführungstext gänzlich, obwohl der Rassismus gegen Araber, jüdisch wie nicht-jüdisch, die gesamte Debatte der Misrachi in Israel markiert. Ihre Wahrnehmung spiegelt sich auch in Ihrem Programm wider, indem beispielsweise ein Film, wie "Sallah Shabati" (Regie: Ephraim Kishon) gänzlich ohne Diskussion gezeigt wird und damit rassistische Stereotype von (jüdischen) Arabern im Raum stehen gelassen werden.

Besonders signifikant ist zudem Ihre Aussage, Misrachi in arabischen Ländern wären "entweder von staatlicher Seite aus vertrieben oder von der muslimischen Bevölkerung bedrängt (worden), das Land zu verlassen". Mit diesem Satz begehen Sie nichts weniger als eine Geschichtsfälschung -  mit der drastischen Folge, dass Sie Verbrechen gegen die Menschlichkeit verleugnen.

Sie werfen Misrachi auf eine undifferenzierte Art und Weise in einem Topf zusammen, obwohl jede Gemeinde ein anderes Schicksal erlebte:

Die irakischen Jüdinnen und Juden mussten wegen eines Abkommens zwischen israelischer und irakischer Regierung ihr Land innerhalb eines Jahres verlassen, und nicht, weil sie vertrieben wurden. Noch während die israelische Regierung das Abkommen plante, wurde das Eigentum der irakischen Jüdinnen und Juden als Eigentum des Staates Israels betrachtet, mit der Absicht dieses mit dem Eigentum der vertriebenen Palästinenserinnen und Palästinenser, "die sich nicht dem jüdischen Staat angepasst haben", wie es ein israelischer Geheimdienstagent berichtete , zu verrechnen. Diese Informationen hätten Sie im Vorfeld aus dem in Ihrem Programm aufgeführten Film "Forget Baghdad" entnehmen können.

Die Jüdinnen und Juden aus Marokko, die größte Gruppe der Misrachi in Israel, wurden ebensowenig aus ihrer Heimat vertrieben. Sie verließen Marokko, nachdem zionistische "Aliya"-Gesandte, die den staatlichen Auftrag hatten, die jüdische Bevölkerung dazu zu bringen, ihre Heimat zu verlassen und nach Israel auszuwandern, die jüdischen Gemeinden auseinanderbrachten. So wurden marokkanische jüdische Kinder in staatlichem Auftrag Israels entführt. Ihren Eltern wurde erzählt, die Kinder führen zum Urlaub in die Schweiz, stattdessen wurden sie nach Israel verschleppt. Die Eltern konnten ihre Kinder nur unter der Bedingung wiedersehen, dass die Eltern nach Israel emigrierten. In der Zwischenzeit wurden die Kinder in einem Kibbutz umerzogen. Der Dokumentarfilm "Mural Operation", der in Ihrem Festivalprogramm nicht aufgeführt wird,  interviewt sowohl die israelischen Geheimagenten, die gegen die marokkanische Regierung agiert haben, sowie die Kinder, die Opfer dieser Entführungen aus ihrem Elternhaus und ihrer Heimat wurden. Die israelische Regierung bezahlte zudem dem marokkanischen König Kopfgeld, so dass es unzulässig ist zu unterstellen, dass die Migration durch repressive Politiken seitens des marokkanischen Staates verursacht wurde. Vielmehr setzte der Staat Israel alles daran, die marokkanisch-jüdische Bevölkerung zu entwurzeln. Die marokkanischen Juden verließen ihre Heimat über einen Zeitraum von mehr als 20 Jahren und in der Regel durfte jedes einzelne Familienmitglied hundert Kilogramm Gepäck mitnehmen. Damit kann von einer Vertreibung auch im Fall Marokkos nicht gesprochen werden. In Israel angekommen, wurden Tausende der marokkanisch-jüdischen Kinder wegen eines harmlosen Pilzbefalls der Haut mit den Röntgenstrahlen bestrahlt, die bei vielen Nebenwirkungen bis hin zum Tod verursachten, alles im Rahmen einer staatlichenen "Behandlung" seitens israelischer Ärzte mit eugenischen Einstellungen, Beamte der "Abteilung der sozialen Medizin" im Gesundheitsministerium. Dies dokumentiert eindrücklich der Film "Die Ringworm-Kinder" .

Ein Großteil der jemenitischen Jüdinnen und Juden kamen nach Palästina noch vor der Gründung Israels. In Israel angekommen erfuhren viele von ihnen großes Leid, nachdem ihre Kinder entführt wurden und vermutlich ashkenasischen Familien zur Adoption gegeben wurden. Bis heute verweigern die staatlichen Stellen Auskunft über diese Entführungen, trotz Zeugenaussagen der Familien und der Mitarbeiter der staatlichen Gesundheitsinstitutionen, die in diese Verbrechen involviert waren. Neben einer Reihe wissenschaftlicher Literatur empfehlen wir das Buch von Batya Gur , welches diese furchtbare Geschichte literarisch nachzeichnet.

Die Liste der jüdischen Gemeinden in muslimischen bzw. arabischen Ländern, die nicht vertrieben wurden, lässt sich erweitern: Auf die Jüdinnen und Juden der Türkei, einem Land, das Juden aus Deutschland aufnahm, als ihnen dort die Vernichtung drohte. Oder auf die jüdische Bevölkerung Algeriens, die durch die israelische Premierministerin Golda Meir auf dem Altar der israelischen Interessen mit Frankreich geopfert werden sollten, als sich die französische Kolonialmacht aus Algerien zurückzog. Auch jüdische Iranerinnen und Iraner lehnen es bis heute trotz israelischer finanzieller Anreize ab , nach Israel auszuwandern.

Es ließe sich noch viel über die "westlichen" Verwaltungsstrukturen sagen, die laut Ihrem Programmtext von der Aschkenasi-Hegemonie nach dem osteuropäischen Modell mitgebracht wurden und an die sich Misrachi angeblich anpassen sollten. Wie kann es sein, dass Jüdinnen und Juden, die während der Kolonialzeit im ganzen Maghreb und Irak für die Engländer bzw. Franzosen gearbeitet haben, sich an "westliche" Strukturen von Ostjuden anpassen sollten?! Glauben Sie wirklich, dass nur, weil Menschen unter Muslimen bzw. Arabern leben, diese deshalb nicht "westlich" genug sein können, um ein Formular auszufüllen?! Und was ist so "westlich" an der Histadrut, der israelischen Gewerkschaft, die auch als Arbeitsgeber dient?!

Der Respekt für die Menschenrechte gebietet es, abschließend ein Verbrechen beim Namen zu nennen: die Vertreibung der in Ägypten übrig gebliebenen Jüdinnen und Juden. Diese kleine jüdische Gemeinde ist die einzige Gemeinde eines arabischen bzw. muslimischen Landes, deren Mitglieder in der Tat vertrieben wurden.

Mit der falschen Behauptung, Misrachi seien aus ihren Ländern vertrieben wurden, leugnen Sie also diese lange Liste an Verbrechen der aschkenasischen Staatshegemonie gegen die Menschlichkeit: die Entführung von Kindern, ihre eugenische ärztliche "Behandlung" mit Todesfolgen, ihre Umerziehung und Zwangssäkularisierung.

Die Heinrich-Böll-Stiftung sieht also Verbrechen, wo sie nicht statt gefunden haben, und leugnet sie, wo sie in der Tat verübt wurden.

Es ist angebracht, nicht nur die historische Inkonsistenz Ihrer falschen Behauptung darzulegen, sondern sie auch vor dem Hintergrund der Nakba (der systematischen Vertreibung der Palästinenser 1948) zu lesen. Eine kritische Betrachtung ergibt, dass diese hegemoniale Aschkenasi-Erzählung der israelischen politischen Klasse nichts anderes als eine Ausblendung bzw. Relativierung der völkerrechtswidrigen Vertreibung von Palästinenserinnen und Palästinensern darstellt. Damit kooperieren Sie mit dem israelisch-hegemonialen weitverbreiteten Versuch, Misrachi als Flüchtlinge darzustellen und ihr Eigentum und ihren Status mit denen der palästinensischen Bevölkerung zu verrechnen und damit als abgeschlossen zu betrachten. Palästinensern und Palästinenserinnen soll damit jeder juristische Anspruch auf Rückgabe ihres Eigentums versagt werden. Der Heinrich-Böll-Stiftung dürfte aber bekannt sein, dass umgekehrt das Eigentum der NS-geschädigten Jüdinnen und Juden zu Recht als privates und nicht als staatliches israelisches Eigentum betrachtet wird.

Insgesamt ist es erschreckend, dass die Heinrich-Böll-Stiftung damit zu einer Relativierung von einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit, in diesem Fall dem Verbrechen gegenüber Palästinenserinnen und Palästinensern, beiträgt. Mit der "medialen Entdeckung" von Misrachi begibt sich die Stiftung in dieser Form auf einen zu verurteilenden Weg der Geschichtsfälschung, der imaginäre Verbrechen erfindet, um die Verleugnung von realen Verbrechen zu untermauern.Wenn Sie Interesse an weiteren Quellen zu Misrachi haben stehen Ihnen Misrachi Filmemacher und Intellektuelle, die in Berlin leben, gern zur Verfügung."

Sie verbreiten, in Ihrer Funktion als "Beauftragter für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus" Unwahrheiten über Juden, wenn Sie gegen jeden historischen Beweis über "die Vertreibung jüdischer Menschen aus fast allen arabischen Staaten" schreiben.

Aber auch wenn es der Wahrheit entsprochen hätte: was hätte das mit der Nakba zu tun? Haben Sie die Absicht "gleichberechtigt" zu argumentieren und ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit mit einem anderen auszutarieren, hätten Sie genug solche Verbrechen in der deutschen Geschichte gefunden: vor Ihrer Tür könnten Sie Vertreibung von Juden aus Deutschland, Osteuropa kehren. Dann hätten Sie Juden gegen Juden "gleichberechtigt" dargestellt, falls Sie einen historischen Zusammenhang herstellen wollen, denn die aus Europa geflüchteten Juden haben die Nakba verübt und PalästinenserInnen vertrieben. Zu der Zeit waren kaum Juden aus arabischen und muslimischen Ländern in Palästina, so dass sie nicht in diesem Verbrechen der Nakba beteiligt waren.

Sie wollen aber "Flucht und Vertreibung arabischer Menschen gleichberechtigt" behandeln, "Araber gegen Araber" also, wie die israelische Regierung es schon direkt nach ihrem Abkommen mit der irakischen Regierung zur Vertreibung der Juden aus dem Irak versuchte. Wieso verhandeln Sie mit einem Verbrechen, das andere Menschen erfahren haben?

Nach dem Völkerrecht hat jemand, der oder die aus seinem Haus vertrieben wurde, das Recht dieses zurück zu erhalten. Das stimmt genauso für eine deutsche oder ägyptische Jüdin. Wenn Sie dieses Recht als ein Recht eines Kollektivs stilisieren wollen, dann vielleicht aus Ignoranz. Wenn Sie dafür Araber einsetzen, dann ist es nichts anders als rassistisch.

Wir hoffen, dass Sie Ihre Fehler, sowohl auf der historischen Ebene als auch auf der menschlichen Ebene, erkennen können und Ihre Aussagen entsprechend korrigieren werden. Seit der Veröffentlichung des Briefes an die Heinrich-Böll-Stiftung ist noch mehr Material zugänglich geworden, das die o.g. Fakten untermauert und auch auf Englisch veröffentlicht wurde. Eine Geschichtsfälschung seitens eines Deutschen Beamten, die seinem Amt widerspricht ist inakzeptabel.

Es geht letztendlich um unsere Geschichte. Unter uns gibt es solche, deren Vorväter in der Vertreibung der Palästinenser beteiligt waren oder aus einem arabischen Land nach Israel emigriert sind. Viele von uns sind Israelis, die Nakba ist Teil unserer Geschichte, und es liegt an uns, die historische Verantwortung dafür zu übernehmen.

Machen Sie es im Namen des deutschen Staates, dann vereinnahmen Sie diese und bevormunden uns. Wenn Sie Antisemitismus bekämpfen wollen, suchen Sie es lieber in der deutschen Vergangenheit und Gegenwart. Hoffentlich bringt Sie der antisemitische und rassistische Anschlag in Halle zum Umdenken. Wie Sie sehen, Verleugnung und Relativierung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist ein Fatales Vorgehen für die Zukunft.

Quelle:  Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost - 15.10.2019.