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Afghanistan: Fortschritte ins Nichts und Nirgends

medico-Partner dokumentieren das bittere Schicksal Abgeschobener in Afghanistan.

Von Thomas Seibert

Der Vertrag, in dem sich die Europäische Union und die afghanische Regierung auf eine "Lösung" des Problems der Migration aus Afghanistan einigten, trägt den wohlklingenden Namen Joint Way Forward: "gemeinsamer Weg voran". Zustande gekommen ist er 2016 aufgrund massiven Drucks aus Brüssel und Berlin: Hätte die Regierung in Kabul nicht unterschrieben, wären aus Europa und Deutschland deutlich weniger Finanzhilfen und die Order zum beschleunigten Truppenrückzug gekommen. Doch auch unabhängig vom Druck aus Europa will Präsident Aschraf Ghani verhindern, dass Menschen aus Afghanistan fliehen, weil sie damit die Schwäche des Staates offenbaren. In seinen Augen sind diese Menschen  "unpatriotisch" und begehen "Landesverrat".

Der euro-afghanische "Weg voran" basiert auf drei Säulen: Kabul verpflichtet sich, zwangsweise zurückgeschaffte Geflüchtete und "freiwillige" Rückkehrer*innen aufzunehmen; Kabul und Brüssel kooperieren in der Eindämmung weiterer Fluchten und Ausreisen; Brüssel leistet Hilfen zur "Integration" der Deportierten. Grundlage des Deals ist die Unterstellung, dass es im kriegsverheerten Afghanistan "interne Schutzalternativen" gäbe. Eine schamlose Lüge wider besseres öffentliches Wissen. Es ist nirgends sicher in Afghanistan, seit 2014 herrscht wieder offener Krieg, verlieren Regierung und Sicherheitskräfte zunehmend die Kontrolle über das Land, kommen die Taliban Zug um Zug voran. Das gilt vor allem für Kabul: in der Hauptstadt folgt nahezu im Monatsrhythmus ein blutiger Anschlag dem nächsten.

Es geht voran

Den von Brüssel, Berlin und dem Regime in Kabul gemeinsam beschrittenen "Weg voran" hat die Ausbreitung der Gewalt nicht aufhalten können. Seit Abschluss des Vertrags sind aus Europa 19.390 afghanische Geflüchtete "heimgekehrt" - gezwungenermaßen oder "freiwillig". Die erschreckend hohe Zahl wird durch die Zahl anderer "Heimkehrer*innen" weit übertroffen: Iran und Pakistan haben zuletzt jeweils eine halbe Million geflüchteter Afghaninnen und Afghanen zurückgezwungen - darunter viele, die in Iran oder Pakistan geboren wurden. Dasselbe ist Menschen auch in Deutschland widerfahren. "Voran" geht es auch im gewaltsamen Versperren der Fluchtwege nach Europa: Die Zahl afghanischer Geflüchteter hat seit Abschluss des Vertrages massiv abgenommen.

Grund genug für medico und die medico-Partnerin Afghanistan Human Rights and Democracy Organisation (AHRDO), den Preis dieses Fortschritts zu ermitteln. Dazu interviewten unsere Partner*innen in Kabul, Balkh, Herat und Nangarhar 50 "Heimkehrer", allesamt Männer, und sprachen mit Regierungsvertreter*innen und Mitarbeiter*innen von NGOs. Ihr jetzt vorliegender Report vermerkt als erstes, dass 46 Prozent der aus Europa Deportierten mit Gewalt zurückgeschafft wurden, also über 8.000 Menschen. Alle Befragten berichteten von den Schrecken der Flucht. Es sind Geschichten, die von der finanziellen Auspressung durch Schleuser und deren Brutalität handeln, vom Kidnapping durch Banditen, von der Brutalität der Grenzschützer, von tödlichen Schüssen und Folterungen und von entwürdigenden Beleidigungen; von tagelangen Fußmärschen bei glühender Hitze und von Nächten, in denen die Kälte ihnen den Schlaf raubte, von nicht endendem Hunger und Durst: "Wir waren auf dem Weg von Bulgarien nach Ungarn, 25 Leute zusammengepfercht in einem Bus ohne Ventilation. Bald ging uns die Luft aus. Zwei von uns starben. In Ungarn ließen uns die Fahrer an irgendeiner Straße raus und warfen uns die Leichname der beiden Somalier einfach hinterher."

Ausgeliefert und allein

Die Dokumentation listet auch die Fluchtgründe auf, voran die Angst vor der außer Kontrolle geratenen Gewalt der Taliban, des IS, der kriminellen Banden, auch der Armee, der Polizei und der ausländischen "Schutztruppen". In vielen Fällen gründet diese Angst auf persönlicher Bedrohung im Zusammenhang etwa von Landkonflikten, von Dorf- oder Familienfehden, von ethnischer und religiöser Verfolgung. Gründe zur Flucht liefert aber auch die absolute Aussichtslosigkeit der politischen und der ökonomischen Lage: Seit Beginn des Rückzugs der ausländischen Streitkräfte tendiert die Zahl der Jobs gegen Null. Fluchtgrund ist in jedem einzelnen Fall das Fehlen jeglicher Zukunftsperspektive: So wie die Dinge liegen, kann es absehbar nur schlimmer werden. Deshalb überrascht auch nicht, dass nahezu alle Befragten trotz der zurückliegenden Torturen nur auf die nächste Gelegenheit warten, sich noch einmal auf den Weg nach Europa zu machen.

29 der 50 befragten Rückkehrer sind nicht an den Ort ihrer Herkunft zurückgekehrt. Weil sie dort niemand aufnehmen kann oder weil sie gerade dort um Leib und Leben fürchten müssen. Die meisten blieben in Kabul oder irren ständig zwischen verschiedenen Verstecken hin und her. Ausnahmslos alle sind völlig überschuldet und unfähig, ihre Schulden jemals zurückzuzahlen. 42 der 50 Befragten haben kein Einkommen, auch keine Aussicht auf ein solches Einkommen. Abgesehen von im Handumdrehen aufgebrauchten Taschengeldern kam bisher niemand in den Genuss der "Integrationshilfen" des "Joint Way Forward"-Abkommens.

Hoffnungslose Wahlen

Die überwiegende Mehrheit der Befragten macht den afghanischen Staat für ihre Lage verantwortlich. Aus Angst aber wird sich fast die Hälfte der Rückkehrer trotzdem nicht an politischen Protesten beteiligen. Weitere 17 würden zwar protestieren, glauben aber nicht, damit irgendetwas erreichen zu können. Vier der Befragten suchen deshalb Kontakt zur demokratischen Opposition, sechs zu bewaffneten Gruppen oder kriminellen Netzwerken. Ganze drei haben die Hoffnung auf die von der afghanischen Regierung und den Regierungen der EU versprochenen "Integrationshilfen" noch nicht völlig aufgegeben. Gemeinsam aber, so heißt es im AHRDO-Bericht, bilden die zwangsweise oder "freiwillig" Zurückgekehrten samt ihren Leidensgenoss*innen aus dem verlorenen Exil im Irak oder in Pakistan "einen Pol von destabilisierender Kraft" in Bezug auf die sowieso extrem instabile politische Lage.

Am 28. September 2019 soll in Afghanistan ein neuer Präsident gewählt werden. Für die medico-Partner von AHRDO liefert keiner der 18 Bewerber auch nur den geringsten Anlass zur Hoffnung. Völlig unklar bleibt obendrein, ob die Wahlen überhaupt stattfinden werden. Unter Umgehung der afghanischen Regierung verhandeln die USA seit längerem direkt mit den Taliban. Gut möglich, dass sie ihnen das Land einfach überlassen. Zurück auf Anfang.

medico hat die Erstellung der AHRDO-Studie über die Situation Abgeschobener aus Deutschland und Europa gefördert. Eine aktualisierte Fassung wird demnächst auf www. medico.de veröffentlicht.

Quelle: medico international - Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 3/2019.

Veröffentlicht am

17. Oktober 2019

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