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Konstantin Wecker: “Noch ein Herz zu haben, ist heutzutage schon ein Akt des Widerstands”

Ungehaltene Rede Konstantin Weckers zur Verleihung der Albert-Schweitzer-Medaille 2019. Diese Rede ist nicht nur "ungehalten", weil sie viel Zorn über Kriegspolitik und Naturzerstörung zum Ausdruck bringt - Konstantin Wecker hat sie auch tatsächlich nicht gehalten. Zu fortgeschrittener Stunde, bei der Verleihung der Preises, entschied er, sich angesichts vieler kluger Reden, die er zuvor gehört hatte, lieber mit ein paar Liedern zu bedanken. Interessant sind seine Gedanken zum Zeitgeschehen allemal. Konstantin Wecker beschreibt, was ihn an Albert Schweitzer besonders fasziniert: dass er "im Denken wie im humanen Tun gleichermaßen sattelfest" war. Und er wendet sich leidenschaftlich gegen eine Politik, die vielfach das glatte Gegenteil der viel gelobten Ethik Schweitzers repräsentiert: "Denn wenn man unsere Epoche mit einem einzigen Merkmal beschreiben will, so ist dies das tragische Fehlen jener Ehrfurcht vor dem Leben, die Albert Schweitzer wieder und wieder angemahnt hat."

Von Konstantin Wecker

Liebe Jury, liebe Anwesende,

ich freue mich natürlich ungemein, dass mir der Albert-Schweitzer-Preis 2019 zuerkannt wurde. Ich gebe aber zu, dass ich mich eine Zeit lang mit dem Gedanken getragen habe, ob da nicht ein Irrtum vorliegen könnte. Ob das Preiskomitee wirklich mich meinen kann. Zu meinem Glück wurden mir in meinem Leben schon eine ganze Reihe sehr ehrenvoller Preise verliehen. Und immer war es ganz offensichtlich, in welcher Beziehung ich zu dem illustren Namensgeber des betreffenden Preises stand. War es eine historische Persönlichkeit auf dem Gebiet der Musik, der Philosophie oder des politischen Engagements, so fühlte ich mich in der geistigen Atmosphäre dieses Preises sogleich zu Hause. Ich konnte sagen: "Ja, das passt zu mir!"

Jedoch Albert Schweitzer… Wer sich mit einem nach ihm benannten Preis schmücken will, so dachte ich, der müsste gütig sein, edel, geradezu selbstlos und einzig dem Dienst an anderen Menschen verpflichtet. Bin ich das? Kann ich in diese sehr großen Fußstapfen guten Gewissens treten? Es könnte sein, dass ich nicht der einzige bin, der da seine Zweifel hat.

Wir müssen uns jedoch bewusst machen, was das bedeutet: sich ein Vorbild zu wählen. Es ist mit Vorbildern wie mit Utopien, jene in die Zukunft projizierten, prinzipiell durchaus erreichbaren Wunschbilder, von denen ich mir in unsrer völlig fantasie- und perspektivlosen politischen Landschaft viel mehr wünschen würde. Eine Utopie ist der größere Rahmen, nach dem man sich strecken kann. Denn wenn jemand schon bezüglich seiner Wünsche und Entwicklungsperspektiven klein denkt, um wie viel kleiner wird dann seine Realität sein?

Albert Schweitzer war einer jener Personen, deren menschliche Größe dazu verführen kann, ihn zu verklären und unverbindlich in die Geschichte wegzuloben. "So ist einem, um den Vergleich gebracht, das schlechte Gewissen genommen", habe ich in meinem Lied über die Widerstandsbewegung "Weiße Rose" geschrieben. Man kann einen Menschen nicht gleichzeitig auf ein unerreichbares Podest heben und ihm nachfolgen. Letzteres ist viel unbequemer, aber auch weitaus wertvoller.

Albert Schweitzer ist keine Figur, der wir quasi nebenbei nachfolgen können. Er war ein Mensch im umfassendsten Sinn dieses Wortes, jemand der uns vorausgegangen ist und die Richtung zeigt. Und zwar nicht, weil er uns eine von unzähligen, letztlich sehr beliebigen Weltanschauungen aufgezeigt hätte - vielmehr stellen Leben und Denken Albert Schweitzers ein Modell dessen dar, was dieser gebeutelten und fehlgeleiteten Menschheit heute Not täte und woran sie gesunden könnte. Denn wenn man unsere Epoche mit einem einzigen Merkmal beschreiben will, so ist dies das tragische Fehlen jener Ehrfurcht vor dem Leben, die Albert Schweitzer wieder und wieder angemahnt hat.

Diese fehlende Ehrfurcht, ja Verachtung gegenüber dem Lebendigen ist es, die hinter der furchtbaren Leichtfertigkeit steht, mit der immer noch und heute wieder verstärkt Kriege vom Zaun gebrochen werden. Von verblendeten Politikerinnen und Politikern, die in einer stärkeren Präsenz der Bundeswehr im öffentlichen Raum, in der vermehrten Anschaffung von immer perfekteren Bomben, Drohnen und Gewehren ihre oberste Priorität sehen. In unserem gewalttätigen System haben Bienen keine Zukunft mehr, wohl aber Drohnen, jene schwirrenden, ferngelenkten Werkzeuge feigen Mordes.

Diese Verachtung gegenüber dem Leben ist es auch, was uns fortfahren lässt, unser Ökosystem und damit die Existenz allen Lebens auf diesem Planeten fahrlässig und wider besseres Wissen aufs Spiel zu setzen. Genau deshalb gehören Friedens- und Umweltbewegung für mich zusammen: Beide sind sie Lebensschützer, die die furchtbare, nekrophile Logik der herrschenden Klasse durchschaut haben und entschlossen gegen sie ankämpfen. Und wo dieser patriarchalisch infizierte Kapitalismus nicht körperlich mordet, tötet er Lebendigkeit in den Seelen ab, vernichtet Lebensperspektiven durch aufgezwungene Existenznot, zerstört Lebensräume für Menschen, Tiere und Pflanzen. Er engt ein, beschneidet, versursacht im buchstäblichen wie im übertragenen Sinn Atemnot. Gegen diese umfassende, furchtbare Krankheit des Geistes ist die Besinnung auf Albert Schweitzer ein wirksames Heilmittel.

Stellen Sie sich einen Menschen vor, der nicht nur ein Urwald-Hospital für kranke Menschen in Afrika gegründet und sich ihnen als Arzt ausopferungsvoll gewidmet hat, sondern der die Natur und die Tiere liebte, Schriften über Mystik und Ethik verfasste, den Krieg zutiefst verabscheute und zugleich ein großer Liebhaber der Musik war, so dass er die Werke Johann Sebastian Bachs hingebungsvoll auf seiner Orgel spielen konnte. Ein solcher Reichtum der Charakteranlagen ist selten. Und man kann sich über Albert Schweitzer in der Tat wieder mit einem Christentum versöhnen, das Menschen nicht durch Schuld-Suggestion niederdrückt, sondern sie durch tätige Hilfe und Liebe aufrichtet.

Auch als ein Mensch, der mit der Kirche und sogar mit seinem Gott beizeiten gehadert hat, finde ich bei Schweitzer Gemeinsamkeiten. Etwa wenn er sagt: "Wer glaubt, ein Christ zu sein, weil er die Kirche besucht, irrt sich. Man wird ja auch kein Auto, wenn man in eine Garage geht." Daran können wir uns halten. Der Kern und Prüfstein jeder noch so gut gemeinten Weltanschauung ist immer die Tat. Und wenige historische Persönlichkeiten waren im Denken wie im humanen Tun gleichermaßen sattelfest. Deshalb begrüße ich es sehr, dass dieser Preis für "Verdienste um den Humanismus ausgeschrieben wurde." Albert Schweitzer versteht ihn ganz im Sinne der Ethik Kants: "Humanität besteht darin, dass niemals ein Mensch einem Zweck geopfert wird." Dieses "niemals" lässt keine Ausnahmen zu - egal ob es um den Wahlerfolg eines Politikers geht, um Profite für die Rüstungsindustrie oder generell um die Segnungen ökonomischer Effizienz.

Humanität - das Wort wirkt fast wie ein Anachronismus in einer Zeit, in der wieder ernsthaft die Frage diskutiert wird, ob man Menschen, die hilflos im Mittelmeer treiben, retten oder nicht doch lieber migrationsstrategisch smart ertrinken lassen sollte. Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, es ist doch pervers: Menschen wie Albert Schweitzer reisten nach Afrika an, um unter großen persönlichen Entbehrungen zu helfen - und unser modernes Europa bequemt sich nicht einmal dann zu helfen, wenn die Menschen direkt vor der eigenen Haustür stehen oder schon im eigenen Land sind. Es ist ja richtig, die Fluchtursachen zu bekämpfen - wenn man so will, hat Albert Schweitzer das ja getan, auch wenn man es damals noch nicht so nannte - aber das sollte doch nicht zu einer wohlfeilen Phrase verkommen, mit der zeitgenössische Politiker ihre empörende Untätigkeit angesichts menschlichen Leids zu überspielen versuchen.

Die Politik von Rechtsauslegern wie Salvini, Orban oder Seehofer bekämpft Flüchtlinge und schafft Fluchtursachen, indem sie dazu beiträgt, dass sich die Ursprungsländer der Flüchtenden - von Kriegen und Existenznot gebeutelt - in wahre Höllen verwandeln, vor denen jeder, der noch über einen gesunden Überlebensinstinkt verfügt, nur die Flucht ergreifen kann. Zieht doch erst mal die Ertrinkenden aus dem Wasser, bevor ihr langfristig wirksame strategische Konzepte entwickelt, damit künftig weniger Menschen hilflos im Mittelmeer treiben. Und nehmt doch - um ein Wort von Jean Ziegler abzuwandeln - den Menschen in der so genannten Dritten Welt erst mal weniger weg, bevor ihr darüber nachdenkt, ihnen großzügig ein paar Almosen zukommen zu lassen.

Diese vermeintlich altmodischen Werte - Humanität, Güte, Gastfreundschaft - sind in Wahrheit die einzigen, die für das menschliche Zusammenleben noch eine Zukunft verheißen. Wir müssen diesen unmittelbaren Impuls menschlicher Hilfe wieder erlernen, wie er uns z.B. in dem überaus erfreulichen Sommer der Willkommenskultur 2015 begegnet ist. Nur darauf kommt es ja letztlich an, abseits der kühlen Klügeleien über anbrandenden Ausländerfluten und einzuhaltende Obergrenzen, über zu wahrende Leitkultur und zu verteidigende kulturelle Identität. Wer auf diese Weise als vermeintlich religiöser Mensch das christliche Abendland retten will, der ist in der Tat wie ein Mensch in einer Garage, der sich einbildet, ein Auto zu sein.

Nein, wir müssen wieder erlernen, was uns offenbar so schwer geworden ist, weil es uns ständig mit vermeintlich rationalen Argumenten ausgeredet wird: dem Schutz Suchenden Schutz bieten, dem Hungrigen Nahrung, dem Vertriebenen Heimat. "Mit dem Herzen zu denken, ist die rechte Art für die Menschen", sagte Schweitzer, und ich finde es wunderbar, dass auch er - wie ich in einem meiner Bücher - zu dieser Formulierung gefunden hat. Das Herz nämlich ist nicht allein dem seichten Schlager und dem ZDF Herzkino reserviert, es ist das empfindsamste Organ unseres Mitgefühls, mit dem wir die innige Verbundenheit allen Lebens spüren können.

Wir vermögen ja an die gequälte Kreatur fast nur noch einen Gedanken zu verschwenden, wenn ihr Untergang dem unseren scheinbar vorausgeht. Der Tod der Bienen tut uns leid, weil wir um unser Honigbrot fürchten, das Sterben der Vögel droht uns die idyllische Geräuschkulisse bei Waldspaziergängen zu rauben. Und die furchtbaren Gräuel der Massentierhaltung tangiert uns gar nicht mehr konkret; wir horchen nur auf, wenn uns Abstrakta wie "Das Klima" oder "Die Umwelt" als gefährdet dargestellt werden. Albert Schweitzer war auch hier seiner Zeit voraus und mahnte einen radikalen Tierschutz an: "Wir dürfen Tod und Leid über ein Tier nur bringen, wenn eine unentrinnbare Notwendigkeit dafür vorliegt, und wir müssen alle das Grausige empfinden, das darin liegt, dass wir aus Gedankenlosigkeit leiden machen und töten." Diese Worte sind eine Mahnung an viele von uns, denen es hier an Konsequenz fehlt. Ist ein flüchtiger Gaumenkitzel beim Verzehr einer Weißwurst, ist das Tragen eines flauschigen Pelzkragens wirklich jene "unentrinnbare Notwendigkeit", die Albert Schweitzer zum einzig legitimen Grund erklärt hat, Tierleid in Kauf zu nehmen?

Vielleicht vermag die Sorge um unser Klima, was die Ehrfurcht vor dem Leben über Jahrhunderte nicht geschafft hat: dieser furchtbaren Großepoche der Schlachthöfe und der Schlachtfelder ein Ende zu bereiten. "Tierschutz ist Erziehung zur Menschlichkeit", auch das ist ein Satz Albert Schweitzers. Und: "Unser Nächster ist nicht nur der Mensch. Unsere Nächsten sind alle Wesen." Weil es erfahrungsgemäß unwahrscheinlich ist, dass jemand das eine Lebewesen auf das Grausamste quält, und das andere mit erlesenstem Feingefühl behandelt. Mitgefühl ist unteilbar, und Mitleidlosigkeit ist es auch. Es ist dann, wenn man sich jedes natürliche Erbarmen mit der Kreatur abtrainiert hat, irgendwann kein Herz mehr übrig, mit dem man die lieben könnte, die man lieben will.

Wir leben in einer Zeit, in der wir planmäßig desensibilisiert werden sollen. Daraus folgt auch, dass wir mit aller Kraft eine Gegenbewegung einleiten müssen: Re-sensibilisieren wir uns! Seien wir zärtlich, rücksichtsvoll und achtsam! Finden wir uns nicht mit der Existenz von Grausamkeit ab, und seien wir vor allem nie gleichgültig! Noch ein Herz zu haben, ist heutzutage schon ein Akt des Widerstands. Wenn wir jetzt - eingelullt durch unsere Verdrängungsroutinen - einschlafen, kann es sein, dass wir eines Tages in einem verheerenden Krieg aufwachen, der wieder einmal in unserem, im deutschen, europäischen und westlich-wertegemeinschaftlichen Namen losgetreten wurde.

Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer. In meiner neuen Tournee habe ich das Lied "Nur dafür lasst uns leben" wieder an den Anfang meines Konzertprogramms gesetzt. Darin heißt es:

Noch sind uns Vieh und Wälder
Erstaunlich gut gesinnt
Obwohl in unsern Flüssen
Schon ihr Verderben rinnt

Auch hört man vor den Toren
Die Krieger schrein
Fällt uns denn außer Töten
Schon nichts mehr ein

Uns hat die liebe Erde
Doch so viel mitgegeben
Dass diese Welt nie ende
Nur dafür lasst uns leben

Vielleicht bin ich mit diesen Sätzen doch auch ein bisschen "schweitzerisch" gewesen. Und in diesem Sinne will ich weiter machen.

Quelle: Hinter den Schlagzeilen - 06.09.2019.

Veröffentlicht am

24. September 2019

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