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Westafrika: Hungerwaffe gegen die Schwächsten?

Die Sahraouis in Westafrika drohen in Vergessenheit zu geraten. Immer wieder blockt Marokko. Es fehlt auch an Nahrung.

Von Alexander Gschwind

Seit bald 45 Jahren vegetieren fast 200.000 Flüchtlinge aus Spaniens ehemaliger Kolonie Westsahara in prekären Zeltlagern rund um die südwest-algerische Oase Tindouf. Im November 1975 waren sie durch die Invasion marokkanischer Truppen aus ihrer Heimat vertrieben worden und gründeten Ende Februar 1976 unter Führung ihrer Befreiungs-Organisation Polisario eine Exil-Republik, die von mehr als 50 vorwiegend afrikanischen Staaten anerkannt wurde. Aber weder der UNO noch der Afrikanischen Union gelang es bis heute trotz zahlloser Vermittlungs-Versuche, das Problem zu lösen, weil Marokko mit Unterstützung seiner ehemaligen Kolonialmacht Frankreich, zahlreicher anderer EU- und arabischer Golfstaaten auf der definitiven Annexion des Gebietes beharrt. Diese Kräfte versuchen den Widerstand der Sahraouis seit jeher zu zermürben und schrecken dabei auch vor dem Einsatz der berüchtigten Hungerwaffe nicht zurück.

Die Situation verschlechtert sich zusehends

Zwar versuchen das UNO-Flüchtlings-Hilfswerk UNHCR und das Welternährungs-Programm WFP im Verein mit zahlreichen Nichtregierungs-Organisationen der Lager-Bevölkerung mit Nahrungsmittel-Hilfe, logistischer und medizinischer Unterstützung beizustehen. Aber ihre Mittel reichen nirgends hin und die Situation der Lager-Bevölkerung verschlechtert sich sogar dramatisch. Nicht zuletzt, weil die USA und andere Geberländer sich zusehends aus den internationalen Hilfsprogrammen verabschieden. Auch die schweizerische Entwicklungs-Politik hat sich für die Sahraouis noch nie wirklich ein Bein ausgerissen und wird es angesichts der neoliberalen "Neuausrichtung" unter dem rechtsfreisinnigen Außenminister Ignazio Cassis künftig erst recht nicht tun!

Weil die Zahl der Flüchtlinge in den algerischen Lagern seit Ausbruch des Konfliktes zwischen Marokko und der Polisario umstritten ist, versuchte die UNO wiederholt, sich darüber verlässliche Angaben zu verschaffen. Im Hinblick auf eine in den Neunziger-Jahren geplante Volksbefragung über die politische Zukunft der Westsahara begann die Friedensmission MINURSO damals mit einer Volkszählung sowohl in den Flüchtlingslagern wie im marokkanisch besetzten Teil des Gebietes. Dabei wurde sie jedoch von den marokkanischen Besatzungsbehörden systematisch boykottiert und manipuliert. Als die erfassten Daten eine deutliche Mehrheit für Stimmberechtigte außerhalb des marokkanischen Herrschafts-Bereichs ergaben, ging das Regime in Rabat zur definitiven Sabotage des Friedensplanes über. Der Schweizer Diplomat Johannes Manz als erster Chef der MINURSO-Mission hatte darob schon nach wenigen Monaten den Bettel hingeschmissen. 2003 versuchte der ehemalige US-Außenminister James Baker als UN-Sondervermittler einen neuen Anlauf und erzielte dabei sogar einige Fortschritte, scheiterte dann aber seinerseits am marokkanischen Widerstand. Nicht zuletzt, weil Frankreich Bakers Initiative als Einmischung in seine nordafrikanische Einfluss-Sphäre betrachtete und auch in Brüssel eifrig dagegen Stimmung machte. Auch dort und bei anderen Verbündeten überwogen die Interessen an Handel mit Rohstoffen, Fischerei und Landwirtschaftsprodukten aus Marokko und den von ihm besetzten Gebieten alle humanitären und völkerrechtlichen Erwägungen. Daran vermochten auch zwei letztinstanzliche Urteile des EU-Gerichtshofes nichts zu ändern, die den Einbezug der besetzten Gebiete in Handels- und Fischereiabkommen zwischen Brüssel und Marokko untersagten. Sie wurden im EU-Parlament unter französischer Führung schamlos unterlaufen und die Abkommen mit lediglich kosmetischen Veränderungen ein zweites Mal durchgewinkt.

Neuste Zahlen zeigen: Es gibt viel mehr Betroffene

Im März 2018 unternahmen verschiedene NGOs in Zusammenarbeit mit dem UN-Flüchtlingswerk UNHCR eine neue Zählung der Bevölkerung in den Flüchtlingslagern. Ihre sehr gut dokumentierten Daten ergaben eine Gesamtbevölkerung von 173.000 Personen in den sechs Lagern auf algerischem Boden. Fast doppelt so viele wie vom Welternährungs-Programm bisher versorgt wurden. Auf Grund dieses Ergebnisses wollte das WFP sein Budget für die Sahraouis entsprechend aufstocken. Aber auch dabei fuhren ihm Marokkaner und Franzosen wieder in die Parade. So bleibt es für 2019/20 weiterhin bei der bisherigen Dotation von knapp 59 Millionen Dollar, obwohl schon diese nirgends hinreichten. Zumal es sich dabei um reine Notversorgung handelt, die sehr einseitig und nicht auf die langfristige Grundernährung ausgerichtet ist. Was sich inzwischen auch in der Gesundheit der Flüchtlings-Bevölkerung dramatisch niederschlägt. Mangel-Erscheinungen sind allgegenwärtig. Die Durchschnittsgröße der Erwachsenen hat seit 1975 um mehr als zehn Zentimeter abgenommen. Augen-, Knochen- und Muskelschwächen wie chronische Krankheiten nehmen dramatische Ausmaße an. Würde die Versorgung der Lager-Bevölkerung nicht durch private Hilfsprogramme und die Rimessen der immer größeren Diaspora von Exil-Sahraouis in aller Welt ergänzt, müsste längst von einer weiteren humanitären Katastrophe gesprochen werden.

In den Lagern traf ich einmal einen französischen Ophthalmologen aus Lyon. Im Auftrag der "Ärzte ohne Grenzen" operierte er dort während seiner Ferien zweimal jährlich Augenleiden, die er mehrheitlich auf Eiweißmangel zurückführte. Deshalb verteilte er Tausende von selbst finanzierten Käseportionen an die Schulkinder und versuchte sie damit vor weiteren Sehstörungen zu bewahren: "Besser als nichts!", meinte er schulterzuckend im vollen Bewusstsein um die Aussichtslosigkeit seiner Bemühungen. Beduinen begannen in der Umgebung der Lager Wüstengärten anzulegen, wo sie Obst und Gemüse anzubauen versuchten. Die extremen klimatischen Bedingungen in diesem unwirtlichsten Teil der Sahara und das fehlende Grundwasser bescherten solchen Experimenten freilich nur sehr beschränkte Erfolge. Eine genügende Versorgung mit Vitaminen bleibt damit illusorisch. Im besten Fall reichte es bei guten Ernten für einen Apfel pro Kind und Woche - oder Monat. Die Erwachsenen gingen meist leer aus. Auch der Schmuggel aus befreundeten Stammesgebieten im Nachbarland Mauretanien und gelegentliche Handelsbeziehungen mit diesen stopfen nur die wenigsten Versorgungslöcher. Genauso wenig wie die improvisierten Hilfs- und Nachschubstrukturen der wachsenden sahraouischen Diaspora namentlich auf den Kanarischen Inseln vor der Küste der Westsahara.

Aktuelle Krisengebiete lassen die Sahraouis in Vergessenheit geraten

Beim ersten und seither letzten Besuch eines UN-Generalsekretärs in den Lagern zeigte sich Ban Ky Moon 2016 erschüttert und empört über die dortigen Zustände. Aber seine Hilfsversprechen gerieten alsbald wieder in Vergessenheit, weil auch seinen Nachfolger Antonio Guterres immer neue und noch größere Flüchtlingstragödien in Burma, Libyen oder Syrien beschäftigen. Weil zudem Algerien und Südafrika als traditionelle Schutzmächte der Sahraouis selbst in tiefe innenpolitische Krisen rutschten, die Polisario seit dem Tod ihres langjährigen Vorsitzenden und Exil-Staatschefs Mohamed Abdelaziz vor drei Jahren nach wie vor paralysiert scheint und die von der UNO erneut angeregten Direktverhandlungen mit Marokko weiterhin an Ort treten, nimmt das Drama des vergessenen Wüstenvolkes unter Ausschluss der Weltöffentlichkeit seinen Lauf. Zumal auch die systematische Demontage der UNO wie anderer internationaler Organisationen durch die USA und andere Mächte die Bewältigung humanitärer Krisen zusätzlich erschweren.

Das explosive Potenzial wächst

Kein Wunder, machen sich in den Flüchtlingslagern angesichts von so viel Perspektivlosigkeit Verzweiflung, Apathie, aber auch Unmut breit. Absetzversuche vor allem junger Sahraouis mit Kontakten zu ehemaligen Gastfamilien oder Ausbildungsstätten vor allem in Spanien mehren sich. Immer wieder reden auch radikale Elemente in der Polisario selbst von der völlig illusorischen Wiederaufnahme des bewaffneten Kampfes gegen die marokkanische Besatzungsmacht, was diese mit ihrer Propaganda genüsslich als "terroristische Bedrohung" ausschlachtet. Als es vor Jahren im schlecht kontrollierbaren Dreiländereck zwischen Mauretanien, der Westsahara und Algerien als Folge islamistischer Aktivitäten im Sahel tatsächlich zu bewaffneten Zwischenfällen kam, machte sich auch in den Lagern Panik breit und mussten die Polisario wie die algerische Armee ihre Sicherheitsmaßnahmen energisch verstärken. Seither ist längst wieder Ruhe eingekehrt. Aber solche Vorfälle zeigen, welch explosives Potential in jahrzehntelang verschleppten Konflikten schlummert. Für Verzweiflungstäter, demagogische Heilsverkünder und den lauernden Nachbarn Marokko ein gefundenes Fressen!

Weiterführende Informationen:

Quelle: Infosperber.ch - 28.07.2019.

Veröffentlicht am

30. Juli 2019

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