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Sehnsucht wecken ist revolutionär

"Es gibt kein Recht auf Gehorsam" - wohl aber das Recht jedes einzelnen Menschen, möglichst unbeeinflusst von Moden und Zwängen er selbst zu sein. Der Autor berichtet hier über eine außergewöhnliche Künstler-Konferenz unter Mitwirkung Konstantin Weckers. Man kann von "Gegenkultur" reden - dringend nötig in einer Zeit, in der Kultur sich allzu leicht mit dem durch den Kapitalismus vorgegebenen Rahmen abfindet -, noch wichtiger sind aber die Leidenschaft für das Wünschenswerte, sind Sehnsucht und Utopie. Kultur überwindet Grenzen auf spielerische Weise, etwa durch gemeinsames Musizieren; sie macht aber auch Ernst mit der Menschlichkeit, wo Politik, Wirtschaft und selbst Religion oft versagen. 

Von Georg Rammer

Eine Konferenz, die um 10.30 Uhr beginnt und nachts um halb zwölf endet - ein Unding, das kann nicht gut gehen. Und das auch noch zum Thema Kultur, linke "Gegenkultur" - das muss doch im Fiasko enden!

Aber nein, ganz im Gegenteil! Gebannt, mit spürbarem Interesse und innerer Anteilnahme verfolgten die Menschen im vollen Saal des "Heimathafens" in Neukölln am 8. Juni die "Künstler-Konferenz", zu der das Magazin für Gegenkultur "Melodie & Rhythmus" geladen hatte. Offensichtlich (und erlebbar) war es den Mitwirkenden gelungen, eine Sehnsucht zu wecken - was nach einem von ihnen, den Schriftsteller Erich Hackl, revolutionär ist. Es war bei dieser Veranstaltung viel von Leidenschaft und Empathie die Rede; und von diesen Emotionen sprach man nicht nur, sie waren spürbar. Emotionen, bei denen es um Wahrhaftigkeit geht; davon sprach Ekkehard Sieker als Autor und als der Mann hinter dem kritischen TV-Magazin Monitor und von "Die Anstalt", diesem Leuchtfeuer der Aufklärung in einem Meer von Desinformation der Mainstream-Medien. Sieker arbeitet im Hintergrund nach dem Motto: Kritische Medien müssen Fakten sammeln und mit dem Wissen der Linken interpretieren.

Was diese Konferenz von so vielen anderen unterschied, war die Leidenschaft, das aufrichtige Engagement und die Begeisterung aller, wirklich aller teilnehmenden KünstlerInnen von Theater, Musik, Literatur und kritischen Medien. "Mit dem Herzen denken": Das will Konstantin Wecker, der Liedermacher mit einer geradezu mitreißenden Ausstrahlung, der als Anarchist Herrschaft besiegen will, denn "es gibt kein Recht auf Gehorsam!" Und er sagt auch: Zehntausend Jahre Patriarchat sind genug! Wenn der bekennende Utopist zusammen mit dem Singer und Songwriter Shekib Mosadeq aus Afghanistan Bella Ciao singt, auf deutsch und auf farsisch, bekommt man Gänsehaut.

Auch von Glück war die Rede, bei Wecker wie bei dem jungen Autor Mesut Bayraktar, der in der türkischen Provinz bei Eltern aufwuchs, die nicht schreiben und lesen konnten. Von dem Glück also, das man im Leben auch braucht, um nicht unter die Räder zu kommen, durch Ausbeutung und Arbeitsbedingungen, die man stumm erleidet und das Gefängnis aus Klassengewalt nicht erkennt. Aus diesem Glück erwächst dann aber auch die Verantwortung zu denken und zu handeln. Bayraktar widerspricht aus eigener Erfahrung dem Adorno-Satz, wer denkt, werde nicht wütend. Im Gegenteil: Wer denkt, wird wütend!

Was diese KünstlerInnen tun, und es kann nicht von allen die Rede sein, dient dem Ziel aufzuklären, über gesellschaftliche Verhältnisse, über vorherrschende Interessen und fabrizierte Realitäten. Rolf Becker. Chris Jarrett. Volker Lösch. Die Band Alles.Scheizse. Gisela Steineckert. Ekinsu Devrim Danis. Wieland Hoban. Nicolás Rodrigo Miquea. Moshe Zuckermann. Nicht zu vergessen die klarsichtige KZ-Überlebende Esther Bejarano mit ihren 95 Jahren Lebenserfahrung und Kampf gegen Faschismus. Es können hier gar nicht alle genannt werden. Sie alle sind verbunden in ihrer "Wahrhaftigkeit", in ihrem Engagement, die sie mit großer gedanklicher Klarheit und viel Empathie und verzaubernder Meisterschaft anregend und bewegend leben und weitergeben.

Wenn wir Kriege verhindern wollen, müssen wir die Eigentumsverhältnisse ändern! Gegen die totalitäre Marktideologie, auch in der Kunst. Gegen die Lügen des Krieges, gegen Faschismus, gegen die Instrumentalisierung der Shoah! Für eine Erinnerungsarbeit gegen Ohnmacht und Resignation. Sie reden nicht nur über Kunst, sie produzieren sie und leben in ihr. Wohl nicht in allen Fragen sind sie sich einig: Wenn sich Konstantin Wecker leicht verschmitzt zur Spiritualität bekennt, wenn von Interventionen die Rede ist. Aber auch das überzeugt und beeindruckt: Es kommt an keiner Stelle zum Streit und zur unter Linken so beliebten Auseinandersetzung über Glaubenssätze. Keine ideologischen Kleinkriege! Volker Lösch will zwar linke Gegenutopien entwickeln und Rolf Becker mahnt eine Klärung bei Linken über Grundsätzliches an, über Regierungsbeteiligung etwa oder über Israel/Palästina: Diskutiert endlich aus, damit der Streit nicht immer wieder aufflammt und die eigene Handlungs- und Überzeugungsfähigkeit lähmt. Stattdessen: Eintreten für eine Gesellschaft, die Empathie ermöglicht. Jeder nach seinen Fähigkeiten.

Und dann eine Kultur-Gala. Mit Lesung, Rock, Solo-Gitarre und -Piano, mit Gesang. Alle, die auftreten, könnten einen ganzen Abend mit ansteckender Begeisterung füllen. Manche zu Tränen rührend. Schließlich "Das Floß der Medusa", ein Requiem für Che Guevara, von Hans Werner Henze und Ernst Schnabel. Die Uraufführung war 1968 verhindert worden, wegen Guevara und einer roten Fahne. Heute ergreifend durch die Aktualität, durch die Tausende Tote im Mittelmeer, deren Rettung die EU mit menschenverachtendem militärischen Einsatz verhindert und Rettung aus Seenot zum Verbrechen stempelt.

Große nachwirkende Begeisterung. Großen Dank an alle Mitwirkende.

Quelle: Hinter den Schlagzeilen - 11.06.2019.

Veröffentlicht am

19. Juni 2019

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