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Revolutionär Öko

Früher sollten die Kommunisten den Kapitalismus überwinden. Heute könnten die Grünen den Job machen

Von Michael Jäger

Die Grünen, seit Monaten auf einem Höhenflug sondergleichen, werden sicher auch aus der Europawahl mit einem stolzen Ergebnis hervorgehen. Doch was nützt es? Wie sehr bräuchten wir eine Partei, die durch Wort und Tat zur ökologischen Wende beitrüge - die Grünen sind diese Partei nur scheinbar.

Um das zu erkennen, darf man bei einer gewissen Polemik nicht stehenbleiben. Die Grünen, heißt es, sind "nicht links", greifen den Kapitalismus nicht an und ihre Mitglieder und Wählerinnen gehören zur Mittelschicht. Nicht links? Damit ist ihre Bereitschaft gemeint, nicht nur rot-grüne, ja rot-rot-grüne Koalitionen einzugehen, sondern auch mit der CDU Regierungen zu bilden. Als ob darin das Problem läge. Sogar Kommunisten haben gelegentlich mit der Christdemokratie zusammengearbeitet, man denke an die Politik des "Historischen Kompromisses" in Italien nach 1973. Sie wollten nämlich das Kapital angreifen, statt am Kampf einer Bevölkerungshälfte gegen die andere teilzunehmen. Und weiter: Was fällt manchen "Linken" ein, die Grünen für ihre Herkunft aus der Mittelschicht zu tadeln? Als wäre es ein antikapitalistischer Bonus, ihr nicht zu entstammen. Vergessen ist Rosa Luxemburgs Satz, dass das "Kleinbürgertum" schon einmal "der politische, geistige, intellektuelle Erzieher des Proletariats" gewesen sei.

Das Problem besteht vielmehr darin, dass heute fast die ganze deutsche Gesellschaft dazu neigt, die Grünen als ihren Erzieher zu akzeptieren, während diese sich willentlich entschieden haben, die Gesellschaft zum Falschen zu erziehen. Im grünen Europawahlprogramm zeigt es sich wieder deutlich. Sie fordern den "Umstieg auf eine energieeffiziente Elektromobilität, Digitalisierung, effiziente Produktion und energiesparende Produkte mit einer langen Lebensdauer". Dazu haben sie auch wirklich kluge Ideen, zum Beispiel dass CO2 schon bei der Entstehung versteuert und die Steuer in Form eines Energiegeldes als Pro-Kopf-Zahlung den Menschen zurückgegeben werden soll. Dass neben Effizienz auch der Verbrauch von weniger Gütern nötig wäre, wissen sie zwar ganz genau, haben es aber nur am Rande pauschal erwähnt und in die Zusammenfassungen am Ende der Unterkapitel nicht aufgenommen. Nein, was sich offenbar einprägen soll, ist der einleitende Satz, das Ziel seien "saubere Energiequellen" und da gebe es "die gute Nachricht: Alle Lösungen dafür stehen bereit, sie müssen nur angepackt werden!" Dieser zur Schau getragene Optimismus ist empörend, weil er die Menschen einschläfert, statt sie wachzurütteln.

Mails in der U-Bahn? Wozu?

Die Grünen haben wissenschaftliche Mitarbeiterinnen, es kann ihnen unmöglich verborgen sein, dass es für "gute Nachrichten" längst zu spät ist. Die ökologische Katastrophe ist schon eingetreten, daher wäre heute darauf zu orientieren, sie nicht noch immer größer werden zu lassen. Dass dies durch mehr Effizienz und "saubere Energie" allein nicht zu erreichen ist, weiß die Wissenschaft seit Jahren. Als Ziel hat sie einmal ausgegeben, das Erdklima dürfe 2100 nicht höher sein als zwei Grad über der Temperatur von 1850. Das ist heute nicht mehr möglich. Wenn alles so weitergeht wie bisher, und das tut es trotz jahrzehntelanger Warnungen, könnten es sechs bis sieben Grad werden. Effizienzsteigerungen hat es immer gegeben, jährlich weltweit um 0,7 Prozent, aber sie bewirken nichts, weil die Weltbevölkerung und das Pro-Kopf-Einkommen noch stärker steigen.

Außerdem werden die Erfolge der Effizienzstrategie hinterrücks wieder aufgefressen. Gleiches gilt für die Konsistenzstrategie, die sich um Müllvermeidung, natürliche Produktion und langlebige Güter sorgt. Das ist als "Rebound-Effekt" wohlbekannt: Wenn eine effizientere Holzbewirtschaftungsmethode entdeckt wird, werden mehr Waldflächen in Holzplantagen umgewandelt. Wenn man Autos konstruieren kann, die mit weniger Benzin auskommen, werden Autofahrten billiger und mehr Leute glauben, sich ein Auto anschaffen zu müssen. Das Wuppertaler Institut für Klima, Umwelt, Energie ist nicht gerade für Kapitalismuskritik bekannt, aber so viel weiß man dort, es ist "ein systemimmanenter Widerspruch" - ich zitiere das Buch Suffizienz des Wissenschaftlers Oliver Stengel von 2011 -, "dass die Effizienzstrategie den Energie- und Ressourcenverbrauch einerseits senken möchte, indes die Marktlogik vom Unternehmer fordert, die Menge der hergestellten und verkauften Waren zu erhöhen". Warum gäbe es sonst eine Postwachstumsdebatte, die nur leider folgenlos bleibt? Ein uferloser Konsumismus wird erzeugt, wenn wir noch eingreifen wollen, führt nichts daran vorbei, sich ihm zu entziehen.

Statt bloß auf Effizienztechniker zu warten, müssen Konsumentinnen sich fragen, wie sie auf die unsinnige Menge der Waren reagieren können. Denn solange sie sich den Konsumismus gefallen lassen, praktische Hegemonie des Kapitals, sind sie mitschuldig an der kapitalistischen Zerstörung des Planeten. Das wissen die Grünen, hüten sich aber, den Wählern ins Gewissen zu reden. Als wäre es schon eine ökologische Tat, Grüne ins Europaparlament zu wählen.

Es ist errechnet worden, dass der ökologische Fußabdruck eines Menschen - das ist die biologisch produktive Fläche, die nötig ist, um den Lebensstandard eines Menschen dauerhaft zu ermöglichen - 1,8 Hektar nicht übersteigen dürfte. Deutsche verbrauchen aber pro Person fünf Hektar (US-Amerikanerinnen acht). Dass es uns wenig Mühe machen würde, diesen Raubbau zu stoppen, lässt sich etwa am Smartphone illustrieren. Was würde jungen Müttern verloren gehen, wenn sie aufhörten, beim Schieben des Kinderwagens im Internet zu surfen, oder all den Burschen, die in der U-Bahn nachsehen, ob sie neue Mails erhalten haben? Ein Handy wiegt nur einige hundert Gramm, bei der Herstellung werden aber 75 Kilo Ressourcen aufgewendet, da kann man sich den Flächenverbrauch vorstellen. Aber statt sich der Überschwemmung des Marktes mit "immer besseren" Smartphones zu verweigern, kaufen sich Deutsche alle 18 Monate ein neues und werfen das alte weg. 24,2 Millionen wurden etwa im Jahr 2016 verkauft.

Ein anderes Beispiel ist der Fleischkonsum. 1,5 Milliarden Rinder weltweit richten schwerste ökologische und auch soziale Schäden an, wie es überhaupt unmöglich ist, zwischen ökologischen und sozialen Belangen zu trennen. Ihr Methan-Ausstoß trägt mehr zum Treibhauseffekt bei als der Autoverkehr, ihr Futter entzieht sehr vielen Menschen im Süden die Getreidenahrung.

Wissen wir nicht, dass immer noch etwa 25.000 Menschen pro Tag den Hungertod sterben? Und wenn die Felder abgeweidet sind, werden sie Wüste. Das alles bringt uns aber nicht dazu, auch nur auf den Hamburger zu verzichten. Für die 100 Gramm Rindfleisch, die ein einziger enthält, werden 3.500 bis 7.000 Liter Wasser benötigt! Aber jetzt ist das schreckliche Wort gefallen, "Verzicht", das geht ja nun gar nicht bei den Grünen, spätestens seit Renate Künast die Medien erbost hat mit der ungeheuerlichen Frechheit, einen "Veggie-Day" vorzuschlagen. Nein, weil sie nirgends anecken wollen, überlegen sie nur noch, wie man zu den Tieren auf dem Weg zur Schlachtung möglichst nett sein kann. "Regionale Schlachtstätten und mobile Schlachteinrichtungen" soll es geben, damit die Tiere nicht durch Tiertransporte gequält werden! Falls es trotzdem welche geben muss, sollen sie "maximal vier Stunden" dauern und möglichst "unstrapaziös" sein. So in ihrem Europawahlprogramm zu lesen. Wissen sie nicht, dass schon heute über eine Milliarde Menschen keinen sicheren Zugang zu Trinkwasser haben?

Die Freiheit des Grabbeltischs

"Verzicht" ist selbst schon eine prokapitalistische Vokabel, weil sie verhüllt, worum es eigentlich geht. Illustrieren wir das am dritten und letzten Beispiel, dem umweltschädlichen Autoverkehr. Um ihn zu vermeiden, müsste man in eine umweltverträgliche Alternative umsteigen können. Das wäre der öffentliche Nah- und Fernverkehr. Was den Fernverkehr angeht, wäre ein Schnellzugsystem aufzubauen, das uns in einer Nacht und einem Tag von jedem europäischen Ort zu jedem anderen bringen kann. Dann bräuchte es nur noch wenige Flüge in Europa zu geben. Um in der Sprache des angeblich freien Marktes zu reden: Wer eine solche "Nachfrage" äußern würde, würde nicht "verzichten", sondern das Bessere wählen. Nenne ich es Verzicht, wenn ich von einer schlechten Wohnung in eine gute umziehe? Das Problem ist nur, wir dürfen diesen Nah- und Fernverkehr nicht nachfragen. Wir dürfen nicht sagen: "Statt des vorhandenen Verhältnisses Privatverkehr zu öffentlichem Verkehr wie vier zu eins wünschen wir das umgekehrte Verhältnis eins zu vier." Das würde ja voraussetzen, dass es freie ökonomische Wahlen nicht nur am Grabbeltisch, sondern gesamtgesellschaftlich gäbe.

Und auch für die Grundfrage, ob in Deutschland von vornherein nur so viel produziert werden darf, dass die erworbenen Güter jedes Menschen den "Fußabdruck" 1,8 Hektar nicht übersteigen können, ist keine freie Wahl vorgesehen. Auf eine solche Wahl wäre hinzuarbeiten, damit eine Mehrheit für "Ja" dem Kapitalismus, der durch die unendliche Übersteigung aller Grenzen (des Mehrwerts) definiert ist, das Ende bereitet. Die Grünen arbeiten jedoch nicht darauf hin. So gibt es weiterhin nur die Wahl am Grabbeltisch, "VW oder Opel", "ein Opel oder zwei" - und wer will, kann auch "keinen Opel statt einen" wählen. Wird es aber als vernünftiger Mensch nicht tun, denn wenn der Nichtkauf individuell isoliert bleibt, ist er ökologisch ganz nutzlos, und wie sich die anderen entscheiden, weiß man ohne gesamtgesellschaftliche freie Wahlen ja nicht.

Die Katastrophe ist so weit fortgeschritten, dass sie uns schon in den nächsten Jahrzehnten vor harte Entscheidungen stellen wird. So wird der Trinkwassermangel im Süden zu kriegerischen Auseinandersetzungen führen, und da die dort lebenden Menschen im Prinzip wissen, welche Menschen für ihn verantwortlich sind, die im Norden lebenden nämlich, werden sich auch gegen den Norden kriegerische Impulse richten. Der Krieg wird natürlich "asymmetrisch" sein, Terroristen werden ihn führen. Und wir, werden wir unseren Regierungen zustimmen, wenn sie uns nahelegen, unseren Planetenverbrauch mit Waffengewalt zu verteidigen? Klimamigrantinnen werden in heute noch unvorstellbarer Zahl zu uns flüchten: Lassen wir sie an den Mauern der Festung Europa verrecken? Oder setzen wir die Abrüstung unseres Konsumstils durch? Dass die Produktion sich dem gesellschaftlichen Willen beugt? Dass unser Reichtum dem geschundenen Süden hilft und Flüchtlinge in viel größerer Zahl als heute bei uns aufgenommen werden?

Diese Fragen müssten gesellschaftlich diskutiert werden, und dafür muss man eher auf eine radikale ökologische Partei setzen - die es noch nicht gibt - als auf die Linkspartei. Und das hat Folgen: Eher noch als für sie wird man sich für die Grünen interessieren, obwohl und weil sie jene Partei nicht sind. Denn sie und nicht die Linkspartei besetzen das Feld, auf dem es heute gilt, den Kapitalismus anzugreifen.

Quelle: der FREITAG vom 06.05.2019. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Michael Jäger und des Verlags.

Veröffentlicht am

11. Mai 2019

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