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Algerien: Ein neues Los

Ein ungeahnter Bürgersinn greift um sich. Die Elite soll weg, die Korruption soll weg, der Müll soll weg

Von Sabine Kebir

Norhan, eine Frau von 45 Jahren, erzählt, sie sei von den Hängen über Algier herunter in die Stadt und über den Boulevard Télémly gezogen, also in die besseren Viertel. Unten, vor der Großen Post, hätten sich die verschiedenen Demonstrationszüge dann vereinigt. "Dort trafen wir auf irgendwie unheimliche Typen, Leute aus Bab el Oued. Ich hatte Sorge, dass etwas eskalieren könnte. Aber wir wurden herzlich empfangen, man gab uns Wasser und jede Menge Süßigkeiten! Das müssen Spenden von Geschäftsleuten gewesen sein." Norhan bestätigt, dass auch jetzt wieder viele Familien mit ihren Kindern demonstrieren, Frauen jedes Alters, sogar Rollstuhlfahrer. "Und danach sammeln Teenager den Müll auf und verstauen alles in großen Säcken."

Mit dem gegen ein fünftes Mandat von Präsident Abdelaziz Bouteflika gerichteten Slogan "Die Republik ist kein Königreich!" herrscht in Algerien seit dem 22. Februar jeden Freitag eine überwältigend fröhlich-friedliche Demonstrationsatmosphäre, die schließlich auch durch Erklärungen der Armeeführung unterstützt wurde. Es bedurfte freilich des energischen Drucks von Oberbefehlshaber General Ahmed Gaïd Salah, bislang bekannt als treuer Paladin Bouteflikas, dass der am Abend des 2. April endlich seinen Rücktritt erklärte. Dies bewahrt Salah indes nicht davor, dass auch seine Demission gefordert wird, wenn er wegen seines Einschreitens auch momentan nicht im Fokus steht.

Die Demonstranten wissen, dass in diesem Land der Drachen die Macht viele Köpfe hat, und verlangen die Abdankung der Präsidenten von Senat und Verfassungsrat sowie des neu eingesetzten Premiers Noureddine Bedoui. Saïd Bouteflika, ein Bruder des bisherigen Präsidenten, der als politischer Drahtzieher und Wirtschaftskrimineller gilt, soll vor Gericht gestellt werden. Ebenso die "gesamte Gang", die sich am Volkseigentum bereichert hat. Mehr noch: "Das System" soll verschwinden.

Es war absehbar, dass der Rückzug Bouteflikas die Proteste nicht würde abflauen lassen. Unter Losungen wie: "Wir lassen uns die friedliche Revolution nicht stehlen!" und "Wir wollen das Land selbst regieren!" ziehen weiter Hunderttausende durch die Straßen Algiers und des ganzen Landes. Auch Frauen lassen sich von der Teilnahme nicht abschrecken, obwohl sie über die sozialen Medien anonym gewarnt wurden, ihre Präsenz sei unstatthaft. Sie müssten daher "mit Disziplinierung" rechnen. Inzwischen konnte ein in London ansässiger Islamist als Urheber der Drohung identifiziert werden. Er hat sich entschuldigt, was ein Indiz dafür ist, dass es sich um die Aktion eines Einzelnen handelte. Aber das Vorkommnis zeigt, wie leicht heute in der arabischen Welt gesellschaftlicher Widerstand torpediert werden kann.

Durch einen Konsens von Volk, Polizei und Armee ist eine Form von sozialer Bewegung entstanden, die ihresgleichen sucht. Dass sich die "Ordnungskräfte" einbinden ließen, erklärt sich einerseits aus ihren historischen Wurzeln im Unabhängigkeitskampf, zum anderen wohl ebenso aus Traumatisierungen, die sie durch ihr hartes Eingreifen beim Jugendaufstand 1988 und im Bürgerkrieg der 1990er Jahre gegen die Islamisten erfahren haben. Auch wenn in diesem Fall Härte gerechtfertigt schien, weil es sich um einen massiv von außen angeheizten, staatsgefährdenden Konflikt handelte, sind doch etliche Polizei- und Militäraktionen des Antiterrorkampfes gerade von algerischen Menschenrechtsverbänden scharf kritisiert worden. Die Ordnungskräfte hat das nicht unberührt gelassen. Momentan kann man nicht einmal davon sprechen, dass sie sich "neutral" verhalten, da sie offen aufseiten der Demonstranten stehen. Ob es dabei bleibt, ist abzuwarten.

Islamische Einsichten

Dass zwischen dem Protest und diesen Vertretern staatlicher Autorität auch Einvernehmen über die zu verteidigende Unabhängigkeit herrscht, zeigt ein Slogan wie: "Keine Einmischung der Emirate und Frankreichs!"; aus der Losung "Wir sind ein Volk und Brüder!" wiederum spricht der Wille, die Gegensätze zwischen Laizisten und einer stark dem Islam verbundenen Klientel nicht erneut gewalttätig auszutragen. Auch die Gläubigen in der Bewegung haben verstanden, dass der islamistische Slogan "Der Islam ist die Lösung!" nicht mehr gilt und die politische Struktur des Landes in der Verantwortung des Menschen liegt. Für diesen höchst bedeutsamen Gesinnungswandel fällt augenscheinlich ins Gewicht, dass die Bewegung zu großen Teilen aus jungen Menschen besteht, die am Bürgerkrieg nach 1990 nicht beteiligt sein konnten.

Wenn die Bewegung ein neues Niveau demokratischen Bewusstseins hervorgebracht hat, bleibt unklar, wie mehr demokratische Teilhabe von unten am Regierungshandeln erreicht werden soll. Der international bekannte Sänger Amazigh Kateb - Sohn von Kateb Yacine, des literarischen Begründers der algerischen Moderne - hat während der Berlin-Tournee seiner Gruppe am 5. März in der Werkstatt der Kulturen zu einer politischen Debatte animiert. Da das auf parlamentarischer Repräsentation basierte System weder Klientelwirtschaft noch Korruption verhindert habe, plädiere er für ein auch anderswo unter Linken diskutiertes Mischsystem: In Stadtteilen und Dörfern sollten per Wahl kompetente und vertrauenswürdige Bürger ermittelt werden, zwischen denen dann das Los entscheidet, wer als Delegierter für Wahlen zur jeweils höheren Ebene der Städte, Kreise, Landesbezirke und schließlich der nationalen Ebene in Frage kommt. Auf jeder Stufe sollten auch Losverfahren eine Rolle spielen. Strikte zeitliche Begrenzung der Mandate würde die Gefahr der Korruption drosseln.

Wie schnell und ob überhaupt aus solchen Träumen Realitäten werden, ist fraglich. Wenn der erzwungene Abgang Bouteflikas laut Verfassung möglich war, nach der ein gesundheitlich dermaßen eingeschränkter Mensch nicht Präsident sein kann, so schreibt eben diese Magna Charta auch vor, dass innerhalb von 90 Tagen ein neuer Staatschef zu wählen ist. Das haben die provisorische Regierung und die um ihre Mandate zitternden Abgeordneten der Nationalversammlung auch bereits beschlossen. Es lässt die noch Mächtigen fortgesetzt lavieren, zumal für grundlegende Verfassungsänderungen 90 Tage einfach zu kurz sind. Hinzu kommt für die Volksbewegung ein eher ungünstiger Terminrahmen, denn im Mai naht der Ramadan. Es folgt die vor allem für junge Menschen wichtige Prüfungsperiode und danach die Urlaubszeit. Insofern wird der Präsidentenwahl - sollte sie denn wie vorgesehen stattfinden - schon jetzt ein mächtiger Boykott prophezeit.

Einstweilen greift der plötzlich mächtig erwachte Bürgersinn um sich: Der bisher sorglos verschmutzte öffentliche Raum erfährt auch wochentags entschieden mehr Pflege, die Autofahrer werden rücksichtsvoller, überall bilden sich Diskussionsgrüppchen. Die Verfassung in Buchform ist vergriffen und die traditionell träge Verwaltung in Schockstarre verfallen.

Quelle: der FREITAG vom 15.04.2019. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

17. April 2019

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