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Algerien: Haut ab!

Es gibt eine neue Regierung. Die Straßenproteste aber wollen den Systemwechsel

Von Sabine Kebir

In Algerien präsentiert sich dieser Tage eine zu machtvoller Selbstorganisation fähige Bürgergesellschaft

Ihr seid Kinder des Volkes, verhaltet euch besonnen gegenüber den Demonstranten!" - diese Worte hat der pensionierte Polizeikommissar Si Slimane jüngst vor einer Großdemonstration in Algerien über die sozialen Medien an viele ehemalige Untergebene verbreitet. Gleiches befahl er während seiner Dienstzeit, als eine solche Haltung unter den Ordnungskräften viel weniger verbreitet war als heute. Slimane hatte sich Respekt verschafft, weil er trotz Degradierung zu einem Polizisten hielt, der einen Richter geohrfeigt hatte, von dem er sich ungerecht behandelt fühlte.

Bisher verlaufen die meisten Demonstrationen, zu denen derzeit im ganzen Land Familien oft mit ihren Kindern strömen, ohne große Zwischenfälle. Provokateure werden von Demonstranten wie Polizisten diszipliniert. In der Regel ist für die Proteste gegen 17 Uhr Schluss, um zu verhindern, dass sich im Dunkeln ausbreitende Randale Demonstranten in die Schuhe geschoben werden können, wie es zunächst nach der Brandstiftung im Antikenmuseum von Algier in der Nacht zum 8. März geschah. Laut Polizeikommuniqué waren aktenkundige Hooligans am Werk, die mit den Protesten nichts zu tun hatten.

700 Kilo Kokain

So präsentiert sich in Algerien eine zu machtvoller Selbstorganisation fähige Bürgergesellschaft, wie man sie einem in den 1990er Jahren von einem grauenvollen Bürgerkrieg erschütterten Land nicht zugetraut hätte. Si Slimanes Bruder Mohamed, der in Algier auf die Straße geht, ist begeistert über die "Brüderlichkeit" unter den Menschen. Es drehe sich nur um die Präsidentschaft Abdelaziz Bouteflikas, die nicht auf unbestimmte Zeit verlängert werden dürfe. Der Ruf "Haut ab!" sei an den gesamten Regierungsapparat gerichtet. Keinen einzigen islamistischen Slogan habe er gehört, erzählt Mohamed erleichtert.

Niemand scheint groß davon beeindruckt zu sein, dass die Regierung zurückgetreten ist und der als Premier nominierte Ex-Innenminister Noureddine Bedoui ankündigt, sein Kabinett werde aus Spezialisten, jungen Menschen und größtenteils Frauen bestehen. Eine Mehrheit der Widerständler vermutet, es werde sich letzten Endes um Marionetten eines Systems handeln, dessen Ökonomie aus Staats- und Privatbetrieben gleichermaßen besteht. Erstere arbeiten weitgehend unwirtschaftlich, weil sie - um die Arbeitslosenquote zu vermindern - mehr Personal beschäftigen, als vernünftig wäre. Der private Sektor wiederum besteht aus kleinen, mittleren oder bereits sehr mächtigen Unternehmen, die - wie häufig in den postsozialistischen Ländern Europas - aus illegalen Transaktionen in einer Umbruchphase entstanden sind und an illegalen Praktiken festhalten. Dabei ahndet die algerische Justiz ständig große Wirtschaftsvergehen, wie im Augenblick, da sich die Ermittler mit der Verwicklung zahlreicher hoher Kader - Ex-Minister, Militärs und Geheimdienstler - in den internationalen Drogenhandel beschäftigen. Es kam heraus, dass diese Kreise etwas mit den 700 Kilo Kokain zu tun haben, die im August 2018 am Hafen von Oran entdeckt wurden. Unabhängige Medien sind davon überzeugt, dass es sich nur um die Spitze des Eisbergs handelt.

Wie sehr der Privatsektor am Erhalt illegaler Praktiken interessiert sei, zeige sich allein daran, dass es bislang unmöglich war, das Bankensystem von Bargeldverkehr auf den Gebrauch von Zahlkarten umzustellen. Und wenn die Unternehmerverbände lange Zeit das fünfte Mandat für Bouteflika befürwortet haben, dann deshalb, weil dies für jede Art von Schattenwirtschaft am besten schien.

Die im Parlament stärkste Partei, die derartige Zustände hauptsächlich zu verantworten hat, ist der Front de Libération Nationale (FLN), der 1962 nicht nur in die Unabhängigkeit führte, sondern auch eine gerechte Gesellschaft versprach. Die Partei hat frühzeitig für Bouteflikas Verbleib im Amt geworben und steht nun angesichts der Proteste vor einem ähnlichen Legitimationsdesaster wie nach dem Jugendaufstand von 1988, als das Einparteiensystem zusammenbrach. Dass der FLN 20 Jahre später wieder zur dominanten Kraft wurde, ist für viele Algerier ein Indiz für die unverhüllte Herrschaftskontinuität alter Seilschaften. Am 17. März immerhin haben sich 72 lokale FLN-Sekretäre von der Parteilinie losgesagt. Sie unterstützen die Protestbewegung, was diese aber als erneuten Versuch ansieht, den FLN mit möglichst geringem Schaden durch diese Krise zu bringen.

Rätesystem als Ziel

Andererseits war es eine Schwäche der Oppositionsparteien, keinen gemeinsamen Kandidaten für die Präsidentschaft gefunden zu haben. Auch der Front de Forces Socialistes (FFS) konnte daran nichts ändern. Die einzige bedeutende Partei, die das Wort "Sozialismus" noch im Namen trägt, orientiert sich seit ihrer Legalisierung 1989 allein auf die Demokratisierung des politischen Systems und der ökonomischen Macht. Das entspricht durchaus der Mentalität einer Mehrheit, aus der heraus viele danach streben, ein eigenes kleines Unternehmen aufzuziehen. Dass es der in der Region Kabylei verwurzeltem FFS nicht gelingt, Einfluss auf das ganze Land zu nehmen, hat viel damit zu tun, dass sie nie dem Verdacht entkam, hauptsächlich separatistische Ziele zu verfolgen. Dies gilt - ob der FFS nun eine lange Tradition im Boykott von Präsidentschaftswahlen hat oder nicht.

Auch Louisa Hanoune, seit 1990 im Parlament als eloquente Vorsitzende des Parti des Travailleurs, die der IV. Internationale angehört, sehen viele ebenfalls als Teil des Establishments. Sie wurde ausgebuht, als sie an Protestmärschen teilnehmen wollte. Dennoch weist ihr Vorschlag, den auch viele Vereine der Zivilgesellschaft teilen, einen möglichen Weg aus der Krise: Anstatt der von Präsident und Regierung zur Erarbeitung einer neuen Verfassung geplanten Nationalen Konferenz - der unterstellt wird, dass die Delegierten mit den bestehenden Machtstrukturen verwoben sind - sollten sich in den Kommunen Volkskomitees gründen, die ihrerseits die Verfassungsdebatte führen. Sie sollten diese Diskussion durch gewählte Kandidaten aus den Wilayas (Landbezirken) in das Parlament tragen.

Sicher, das wäre ein Rätesystem. Könnte es sich unter den aktuellen regionalen Bedingungen in Nordafrika halten?

Quelle: der FREITAG vom 31.03.2019. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

31. März 2019

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