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Algerien: Schwanengesang

Im April soll Präsident Bouteflika, obwohl kaum amtsfähig, erneut gewählt werden

Von Sabine Kebir

Nichts kränkt die Algerier mehr, als dass sie seit 2013 einen nur durch Wunderkräfte der Medizin am Leben gehaltenen Staatschef haben, der nach mehreren Schlaganfällen im Rollstuhl sitzt und keine Reden mehr hält. Ab und zu zeigt man Abdelaziz Bouteflika im Fernsehen, und jedes Mal erscheint er hinfälliger. Für die Bevölkerung steht fest, dass er zur Marionette des Filzes aus Wirtschaftsführern und Militärs geworden ist. Bislang laufen die Regierungsgeschäfte reibungslos, betrieben von Premier Ahmed Ouyahia, Außenminister Abdelkader Messahel und Verteidigungsminister Ahmed Gaïd Salah. Trotzdem verkündet das Staatsfernsehen: Sämtliche Projekte stehen unter persönlicher Leitung des Präsidenten. Private Medien hingegen sehen ein Problem darin, dass Bouteflika im April erneut zur Wiederwahl antreten dürfte. Die Staatspartei FLN will das ebenso wie die Unternehmerschaft. Schon 2008 musste die das Amt auf zwei Mandate beschränkende Verfassung geändert werden, damit Bouteflika weitermachen konnte. Ist es möglich, fragt man jetzt, dass die Magna Charta nochmals korrigiert wird, um das fünfte Mandat abzusichern? Oder wird man sich diesmal einfach stillschweigend darüber hinwegsetzen?

Schrift im Sand

Was noch vor Jahren undenkbar war, geschieht nun fast täglich: Bouteflika wird zum Objekt von Karikaturisten. Beispiel: Dem im Rollstuhl Sitzenden wird berichtet, dass Angela Merkel geschwankt habe, ob sie für eine vierte Kanzlerschaft antreten solle. Der Präsident flüstert: "Die Arme! Sie muss sehr krank sein!"

Die Normalbürger beklagen versteinerte Verhältnisse und fürchten zugleich nichts mehr als die Erosion der unter Bouteflika erreichten Stabilität. Paradoxerweise könnte der deshalb wiedergewählt werden. Tatsächlich hat er die Gewalt eingedämmt, auch wenn die erreichte Balance zwischen Demokratie und Islamismus niemanden zufriedenstellt. Vielleicht geht Bouteflika einst auch deshalb in die Geschichte ein, weil er zum Zuchtmeister der Kabylen, der größten Berbergruppe, wurde. Deren unablässige Demonstrationen ließ er noch in den ersten Jahren seiner Präsidentschaft durch die Polizei ersticken, was zu 140 Toten führte, doch dann forcierte er die Anerkennung der Berber-Kulturen. Seit 2016 ist Berberisch zweite Offizialsprache, obwohl noch immer nicht festgelegt ist, in welcher amtlichen Form sie gebraucht wird.

Umso kreativer ist die Zivilgesellschaft. Seit Kurzem taucht auf Bussen, Geschäftsschildern und Verlautbarungen neben arabischen und französischen Buchstaben immer öfter eine neue Schrift auf: das Altphönizische. Es kann mit lateinischen Buchstaben geschrieben werden oder - wie in Marokko - mit arabischen. Viele Algerier wollen die dritte Möglichkeit ausprobieren: die altphönizische Schrift, die "Tifinagh" heißt und noch bei den Tuareg für Kurzmitteilungen üblich ist.

In den 1980er Jahren habe ich selbst erlebt, wie ein Tuareg in den feuchten Sand eines Flussbetts einen Gruß auf Tifinagh schrieb, für einen Freund, von dem er annahm, dass er demnächst dort vorbeikommen würde. Auch konnte ich auf einer Messe in Tamanrasset zwei handgemalte Glückwunschkarten erwerben, die in Tifinagh beschriftet waren und mir konspirativ als politisch widerständiges Kulturgut angeboten wurden.

Seit der Unabhängigkeit von 1962 kämpften besonders die Kabylen um ihre Kultur, die nicht zur Folklore für Touristen verkommen sollte. Dass sie als Volksgruppe diskriminiert waren, konnte freilich nie behauptet werden. In den höchsten Rängen der Armee waren und sind sie überproportional vertreten. Auch in der Kulturverwaltung, die aber bis zur Demokratisierung 1988 daran festhielt, dass Berberisch - bis auf einen Radiosender - weder in die Medien noch die Bildungsanstalten gehöre. Das war nicht für nur die muttersprachlich berberischen Kinder problematisch, auch für all jene, die mit dem sehr eigenen algerischen Arabisch aufwuchsen. Seinerzeit hatten sich etwa 70 Prozent der Algerier sprachlich arabisiert. Inzwischen hat der Sprachenkampf dazu geführt, dass viele Berberisch-Lehrer ausgebildet wurden, für deren Einsatz es jedoch noch keinen einheitlichen Plan gibt. Die in der Konstituierung befindliche Berberische Akademie konnte sich auch noch nicht auf die zu verwendende Schrift einigen.

Derzeit wird in der Kabylei an Gymnasien wie Universitäten gestreikt und damit gedroht, den Arabisch-Unterricht dauerhaft zu boykottieren, sollte das Berberische nicht umgehend zum Pflichtfach im ganzen Land erhoben sein. Dies verweist auf ein altes Problem in der Kabylei, wo man das Erlernen des Französischen stets für wichtiger hielt als das Beherrschen des Arabischen. Ungeachtet dessen ist Abderrezak Douari, Direktor des Nationalen Pädagogisch-Linguistischen Zentrums, davon überzeugt, dass die Ausbildung von Lehrern in den sehr unterschiedlichen Berberdialekten unabdingbar sei. Nur so könne man "psycholinguistischer" Frustration bei Schülern und Pädagogen entgegenwirken. Er nennt: Tuareg, Mozabiten, Schauia im Aurès-Gebirge, aber auch Zenati in Westalgerien und Menschen, die in den Chenua-Bergen westlich von Algier leben.

Islamistischer Einheitswahn

Von den Schauia hieß es bisher, sie würden sich in ihrer Zweisprachigkeit wohlfühlen und hätten nichts gegen das Hocharabische, weil ihr Algerisch dem ziemlich nahekommt. Was damit zu erklären ist, dass der Aurès einst Einfallstor für die Araber und Transitgebiet für die Handelstrassen im Orient war. Und doch hat der Enthusiasmus für die Offizialisierung des Berberischen auch den Aurès erfasst. Beim Nationalen Theaterfestival Mitte Dezember in Algier glänzte das Regionaltheater aus Um el Bouaghi sehr erfolgreich auf Algerisch mit dem Stück Was so alles passiert über den Alltag des Normalbürgers.

Auch wenn es noch utopisch erscheint, dass sich bald die ganze junge Generation mündlich und schriftlich Berberisch ausdrücken kann, sind die staatlich geförderten Anstrengungen beeindruckend. Vor Jahren hat Präsident Bouteflika den Weg dafür geebnet, inzwischen ist die durch ihn eingeleitete Entwicklung geeignet, den Einheitswahn des Islamismus einzudämmen und die Demokratie zu fördern.

Quelle: der FREITAG vom 13.01.2019. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

17. Januar 2019

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