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“Ein Bischof nach Gottes Herzen”

Am 16. Oktober 1982 wurde Bischof Kurt Scharf 80 Jahre alt. Helmut Gollwitzer hat ihn einem Gratulationsartikel als einen wahrhaft geistlichen Ratgeber gewürdigt und seine mutigen Entscheidungen herausgestrichen. Wir dokumentieren diesen Beitrag genau 30 Jahre nach Scharfs 80. Geburtstag.

"Ein Bischof nach Gottes Herzen"

Von Helmut Gollwitzer

Ein Bischof nach Gottes Herzen - das war er für uns lange schon, bevor er den Titel Bischof bekam, und das wird er sein bis zu seinem letzten Atemzug, und so wird er im Gedächtnis aller bleiben, die von ihm wissen, jetzt und später noch. Wäre jeder Bischof so, dann wäre das selbstverständlich, und man müsste es nicht hervorheben. Aber Bischöfe sind ebenso arme Bettler wie wir alle, und wie wir das aneinander ärgerlich merken, an unseren vielfachen Unvollkommenheiten, so merken wir das ärgerlich auch an unseren Bischöfen, und darum steigt Dank in uns auf, wenn uns ein Bischof mal nicht ärgert, sondern wenn wir ihn, wo er auftaucht, strahlend empfangen als unseren Kurt Scharf, unseren Bischof.

Ich habe mich oft gewundert über den Vers im 1. Timotheus-Brief (3,1): "Wer Bischof zu sein anstrebt, der wünscht sich ein schönes Werk." Es gibt offenbar Leute, die das anstreben; aber wissen sie, was sie damit wünschen? Papst Johannes XXIII. soll einem Kardinal, der ihm versicherte, er bete für ihn in seinem schweren Amt, geantwortet haben, es sei nicht ein schweres Amt, sondern ein unmögliches. Fürs unmögliche Amt des Papstes gilt das sicher, und wenn einer froh ist, in einer Kirche zu sein, in der er nicht Gefahr läuft, zum Papst gewählt zu werden, dann ist das Kurt Scharf. Aber ist unser Bischofsamt wirklich ein weniger unmögliches Amt? So obendran zu stehen in der Kirche, in dieser Kirche, soviel unerfüllbaren Erwartungen ausgesetzt, ebenso vielen Sachzwängen, die das Nötige verhindern, mit so großer Verantwortung beladen und mit so viel Ohnmachtserfahrungen - kann man das anstreben? Das alles hat Kurt Scharf erfahren und vorhergesehen. Darum hat er dieses Amt nie angestrebt. Es ist ihm zugefallen durch das große Vertrauen seiner Brüder und Schwestern, und er hat es sich aufladen lassen - und dann hoffentlich auch erfahren, dass der Timotheus-Brief nicht unrecht hat, wenn er dieses unmögliche Amt ein "schönes Werk" nennt. Jedenfalls haben wir uns bemüht, ihm zu zeigen, wie froh wir sind, dass er unser Bischof ist, und er hat uns gezeigt, was man aus diesem Amte machen kann, wie man es zum Gewinn der Kirche versehen kann, und dass es also der Kirche, wenn die Wahl den Richtigen trifft, gut sein kann, Bischöfe zu haben.

Jawohl, solche Ämter in der Kirche können ganz nützlich sein - wenn sie nicht Ämter sind. Im Neuen Testament gibt es in der christlichen Gemeinde kein Amt. Luther hat das leider nicht beachtet; wo er auf das Wort diakonia trifft, übersetzt er ungeniert mit "Amt", als stünde hier eines der anderen griechischen Worte, mit denen "Amt" im Leben von Gesellschaft und Staat bezeichnet wurde. Diakonia heißt nun mal nicht Amt, sondern Dienst, noch dazu ziemlich bescheidener; Kellner- und Küchendienst, mit keinerlei "Ehre" verbunden (wogegen "Ehre" und "Amt" im Griechischen das gleiche Wort ist!). Mehr als so geringer Dienst für die Notdurft der anderen ist in der christlichen Gemeinde nicht zu haben, und wären alle so wie Kurt Scharf, dann hätten wir längst in der christlichen Kirche alle "Ämter" mit ihren Titeln und Ehrungsansprüchen abgeschafft, und nur die bescheidenen Dienste mit mehr Arbeit und Ärger als Ehre und Geld blieben übrig für diejenigen, die als "schönes Werk" anstreben, sich im Dienst der Gemeinde abzurackern.

Zu solch konkreter Utopie wird man durch Kurt Scharf verführt. Denn anders hat er es nie gehalten. Die Versuchung der Elefantiasis episkopalis hat ihn nie berührt, nicht als Pastor, nicht als Präses der Berlin-Brandenburgischen Synode, nicht als Bischof von Berlin, nicht als Ratsvorsitzender der EKD. Nie wünschte er etwas anderes, als dienen zu können: dem, der ihn in einer Schwierigkeit aufsucht, sei er Pastor oder Küster, Mitbischof oder Bettler, - dem Kollegium, dem er vorsitzt - den vielen, die ihn zu Veranstaltungen und Beratungen rufen, zu denen er heute noch, als nun 80jähriger, fährt wie in früheren Jahren, wenn noch ein Tag im Kalender frei ist - im Vorsitz der Aktion Sühnezeichen, den er erst mit 78 Jahren übernommen hat.

Das haben die rebellischen Studenten in den Jahren um 1967 und danach gespürt. Seine christliche Sprache machte ihnen Mühe und ebenso sein Eintreten für die von ihnen missachtete offizielle Kirche. Denn Konzessionen machte er ihnen nicht. Nie suchte er ihnen zu gefallen durch Anpassung an ihren Lebensstil und durch Distanzierung von der Kirche, immer mutete er ihnen und uns zu, die sichtbare, die Amtskirche ernstzunehmen trotz ihrer Flecken und Mängel als die arme Magd Jesu Christi, der er sich verschrieben hat, weil er den Leib Christi nur in seiner Verleiblichung in dieser institutionellen Kirche (übrigens ganz in Übereinstimmung mit Bonhoeffer) kennt, nicht irgendwo dahinter oder abseits. Das gab und gibt uns Kirchenkritischen manchmal zu schlucken. Aber gerade in jenen erregten Jahren habe ich oft erlebt, wie die Studenten, auch wenn sie sich von ihrer Skepsis gegenüber der Kirche nicht abbringen ließen, das respektiert haben, weil sie ihn respektierten, weil ihnen da endlich einmal ein glaubwürdiger Vertreter der christlichen Kirche begegnete, weil sie seine Liebe spürten. In einem Professorenkollegium, in dem nichts als Klagen über diese aufsässigen, unmanierlichen Studenten laut wurden, konnte er verblüffen mit den Worten: "Ich liebe sie; sie könnten alle meine Kinder sein." Und ebenso haben es wohl die Frauen der RAF gespürt, als er damals und später einige von ihnen im Gefängnis besuchte, alle Beschimpfungen nicht achtend, die er dafür in der Presse und auch in seiner eigenen Kirche erntete.

Denn er kann nicht übelnehmen. "Dieser Mann kann", wie der Freund Heinrich Vogel einmal von ihm sagte, "eigentlich nur hart gegen sich selber sein, aber nicht gegen andere." "Gutes von ihm reden und alles zum Besten kehren" - diese schöne Anweisung Luthers in seiner Auslegung des 8. Gebotes im Kleinen Katechismus für den Umgang mit unserem Nächsten ist recht eigentlich seine Devise bei Gesprächen über Mitmenschen und auch über die Kirche. Dies aber keineswegs wegen Kritiklosigkeit, wegen Allerweltsversöhnlerei, sondern bei deutlichster Bestimmtheit der eigenen Position, ohne Gefälligkeitskonzessionen, immer bei den entschiedensten Gruppen der Kirche, immer aber in der Lage, Person und Sache zu unterscheiden, der Person als Gottes geliebtem Kind alles zugute zu halten und zugleich in der Sache unnachgiebig zu widersprechen. Selbst die Gestapo merkte das. Als mir einer von ihr bei einer Vernehmung vorwarf, ich schwindle, und ich beleidigt protestierte, sagte er: "Von Euch belügt uns nur einer nicht, der Scharf." Er sagte ihnen nur, was er wollte; aber sie wussten: da war kein Schwindel dabei. So kam er in die seltsame Lage, der Mann des Vertrauens auf beiden Seiten, bei uns wie bei der Gestapo zu sein, und in den gefährlichsten Situationen ging er für uns in die Höhle des Löwen, ohne Furcht, wie Daniel in der Löwengrube, freilich aber oft genug nicht verschont, sondern ins Gefängnis nicht weniger verbracht als diejenigen, für die er sich einsetzte.

1933 finden wir ihn sofort bei den Entschiedensten. Als einer der ersten wird er durch die braune Kirchenleitung vom Amte suspendiert. Er gehört zu den Gründern des Pfarrernotbundes, bald ist er Präses der Bekenntnissynode von Berlin-Brandenburg, immer ist er im Zentrum des Kampfes. Nach 1945 ändert sich das nicht. Jetzt sind es die Sorgen des östlichen Teiles seiner Kirche mehr als die der Kirche in West-Berlin, die ihn vor allem beschäftigen. Er repräsentiert in seiner Person die übergreifend in den beiden deutschen Staaten, in der DDR und in der Bundesrepublik, existierende EKD. Im Osten gehört er nicht zu denen, die meinen, den Kampf der BK gegen den braunen Totalitarismus nun als Kampf gegen den "roten Totalitarismus" fortsetzen zu müssen, und im Westen gehört er nicht zu denen, die von der bürgerlichen Demokratie sich eine Rechristianisierung des deutschen Volkes erhoffen. Eher sieht er die Lage der Kirche in einem apokalyptischen Horizont; seine Reden sind Zurüstung der Gemeinden für zunehmende Bedrängnis in der Welt. Das verschließt ihm aber nicht hoffnungsvolle Offenheit für Bewegungen, die ihm echten Fortschritt versprechen, Fortschritt in der Humanisierung, in der er die Praxis des Evangeliums sieht. Illusionslosigkeit und Hoffnung sind ihm untrennbar verbunden; wer nur das eine oder das andere bei ihm heraushört, schüttelt oft den Kopf. Den auf bestimmte Erfahrungen oder Formeln einseitig Fixierten ist er immer schon voraus. Die Liebe Christi erhält ihn jung und macht ihn zu einem bedingungslosen Freund der Jungen.

Als er jüngst von seiner Reise zur Abrüstungskonferenz der UNO zurückkam, saßen wir mit ihm zusammen, um uns von ihm erzählen zu lassen. Dass er den Auftrag bekommen hat, im Namen der Aktion Sühnezeichen vor diesem Weltforum das christliche Zeugnis gegen die Atomrüstung vorzutragen, war uns eine Krönung seines Lebensweges, und wir haben ihm durch einen Abendmahlsgottesdienst in der Dahlemer Dorfkirche dafür unsere Fürbitte mitgegeben. Nun erwarteten wir seinen Bericht. Was wir aber zu hören bekamen, war, was die anderen gesagt haben, und nur mühsam bekamen wir heraus, wie es ihm selbst ergangen ist, und welche Resonanz seine Rede gehabt hat. So ist Kurt Scharf, ein bischöflicher Diener, anspruchslos, gütig, wach, sich selbst nie schonend und sich selber treu, weil seinem Herrn treu in einem langen Leben.

Quelle: Junge Kirche. Eine Zeitschrift europäischer Christen, 10/82 Oktober 1982 - 43. Jahrgang, S. 482ff.

Veröffentlicht am

16. Oktober 2012

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