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Helmut Gollwitzer: Menschenrechte - heute und morgen

Am 7. Dezember 1976 hat Helmut Gollwitzer in Berlin-Patmos zum Abschied von Bischof Kurt Scharf einen Vortrag zu der Bedeutung der Menschenrechte gehalten, wie sie in der "Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte" und im Grundgesetz verankert sind. Wir dokumentieren diesen Beitrag genau 40 Jahre später, der auch heute noch aktuelle Bedeutung hat.

Menschenrechte - heute und morgen

Von Helmut Gollwitzer

"Jeder Mensch hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person" ("Allgemeine Erklärung der Menschenrechte", 1948 - AEM - 1).

"Jeder Mensch hat Anspruch auf eine Lebenshaltung, die seine und seiner Familie Gesundheit und Wohlbefinden… gewährleistet" (AEM 25,1).

"Jeder Mensch hat Recht auf Arbeit, auf freie Berufswahl, auf angemessene und befriedigende Arbeitsbedingungen sowie auf Schutz gegen Arbeitslosigkeit" (AEM 23,1).

"Jeder Mensch hat Recht auf Bildung" (AEM 26,1).

"Jeder Mensch hat das Recht, am kulturellen Leben der Gemeinschaft frei teilzunehmen, sich der Künste zu erfreuen und am wissenschaftlichen Fortschritt und dessen Wohltaten teilzuhaben" (AEM 27,1).

"Jeder Mensch hat das Recht, an der Leitung der öffentlichen Angelegenheiten seines Landes unmittelbar oder durch frei gewählte Vertreter teilzunehmen" (AEM 21,1).

"Jeder hat das Recht auf freie Meinungsäußerung; dieses Recht umfasst die Freiheit, Meinungen unangefochten anzuhängen und Informationen und Ideen mit allen Verständigungsmitteln ohne Rücksicht auf Grenzen zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten" (AEM 19).

"Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden" (Grundgesetz - GG - 3,3).

"Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden" (GG 4,3).

"Festgehaltene Personen dürfen weder seelisch noch körperlich misshandelt werden" (GG 104,1).

"Jeder hat das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt" (GG 2,1).

"Jeder Mensch hat das Recht, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen sowie in sein Land zurückzukehren" (AEM 13,2).

"Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen, ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt" (GG 1,1).

Ist das die Verfassung von Menschen auf einem fernen Stern, von Menschen in paradiesischer Eintracht, Vision einer nur im Traum erreichbaren Insel Utopia? Zu schön, um wahr zu sein; zu edel für Sünder, für solche Kainsnaturen und Wolfswesen, wie wir irdischen Menschen es sind? Es sind Sätze aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen angenommen, und aus dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, also gegenwärtig verbindliche Rechtssätze, zu deren Realisierung die Regierungen, die sie unterzeichnet haben, feierlich sich verpflichtet haben, nicht utopische Wünsche also, sondern Realitätssätze, irdisch mögliche und Verwirklichung fordernde Sätze.

Vor einigen Jahren haben amerikanische Studenten ähnliche Sätze aus der Verfassung der Vereinigten Staaten Passanten auf der Straße vorgelegt mit der Frage, ob sie wüssten, woher diese Sätze stammen. Die Mehrheit wusste es nicht, sondern vermutete, es seien Sätze aus einem kommunistischen Parteiprogramm. Ein Kompliment für die Kommunisten, ein Zeichen für die Irrealität dieser Sätze gegen meine Behauptung, es seien Realitätssätze, ein Zeichen dafür, dass diese Passanten nicht der Meinung waren, sie lebten in einer Gesellschaft, in der solche Sätze in Geltung stehen, sondern in einer Gesellschaft, die weit entfernt ist von dieser Insel Utopia, und dass sie - was noch schlimmer ist - der Meinung waren, es sei verwerflich, solche Träume verwirklichen zu wollen, das bringe nur Unordnung und das bedrohe unsere wohlerworbenen Rechte, unsere Privilegien und unseren Besitz, kurz, das sei eben kommunistisch.

Ob das Ergebnis einer solchen Passantenbefragung bei uns besser wäre, wage ich zu bezweifeln. Viele werden ebenso ablehnend reagieren, viele werden das müde lächelnd für einen allzu schönen Traum halten, und sehr vielen wird unbekannt sein, dass dies alles geltendes Recht ist, auf das sich die meisten Regierungen heute festgelegt haben - auf dem Papier. Auf dem Papier, auf dem z.B. auch steht: "Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden” (AEM 5) - und für über hundert Regierungen, die das unterschrieben haben, ist das Foltern eine offizielle Regierungspraxis, von Chile bis zu den sowjetischen Irrenanstalten, und mit vielen dieser Regierungen unterhält die Bundesrepublik Deutschland nicht nur diplomatische, sondern ausgesprochen freundliche Beziehungen, z.B. mit Persien, Paraguay, Brasilien und Südafrika.

Wir sehen: Was hier zur Rechtsverpflichtung geworden ist, das ist ein außerordentlich revolutionärer Sprengsatz. Die Verwirklichung dieser Menschenrechte - das wäre eine wirkliche Revolution der heutigen Menschengesellschaft, und es ist die Revolution, die ansteht, die die Völker bei den Regierungen einklagen müssen, weil sie von den Regierungen, den Machtträgern selber als legitim anerkannt worden ist, und die zu vollziehen unser aller Aufgabe ist. Es geht also beim Stichwort "Menschenrechte" keineswegs nur um etwa Caritatives, um Hilfe für einzelne Entrechtete, wie wir sie in Amnesty International im Kampf gegen die Folter versuchen. Es reicht viel weiter, es geht um eine tiefreichende Umstrukturierung der ganzen Menschengesellschaft, wenn die Kluft zwischen dem, was auf dem Papier unterschrieben worden ist, und der Realität beseitigt werden soll. Da steht z. B. nicht mehr wie bisher die Staatsräson (= das Interesse der jeweils Herrschenden) über den Menschenrechten, sondern die Menschenrechte stehen über der Staatsräson, und der Staat hat keine höhere Räson, als diese Menschenrechte "zu achten und zu schützen" (GG 1,1). Da gibt es dann keine Ausbürgerung mehr wie die von Kurt Scharf und Wolf Biermann in angeblichem Staatsinteresse. Da handelt ein deutsches Gericht verfassungswidrig, wenn es, wie soeben zu lesen ist, syrischen Kurden, die zu Hause politisch verfolgt werden, politisches Asyl verweigert und das verständnisvoll damit begründet, dass die syrische Regierung die kurdische Minderheit aus "Besorgnis um die Sicherheit des Staates" unterdrücke. Es wäre für den Richter sicher eine ganz neue Erkenntnis, wenn ihm einer sagte, er habe mit seinem Urteil gegen die freiheitlich
demokratische Grundordnung (= FDGO) verstoßen (vgl. Der Spiegel, 6. 12. 1976, S. 67 f.).

Denn eben die FDGO hat zu ihrer entscheidenden Substanz die Menschenrechte, und sie ist damit nicht etwa identisch mit der Ordnung, die wir haben, sondern mit der Ordnung, die wir haben sollen. Sie ist, wie Gustav Heinemann zu sagen pflegte, Angebot an uns und Aufgabe für uns und damit Maßstab für eine kritische Prüfung der Ordnung, die wir haben, und der Behörden, die auf die FDGO verpflichtet sind. Sie ist nicht eigentlich, wie man unangemessen zu sagen pflegt, ein Boden, auf dem man steht, als vielmehr eine Richtung, in die man sich bewegt. Und wie sehr diese Richtung zur Veränderung unserer Verhältnisse drängt, sieht man nicht nur, wie das Beispiel Syrien zeigt, an der Überordnung der Menschenrechte über die Staatsräson, mit der politische Selbstverständlichkeiten von Jahrtausenden außer Kraft gesetzt werden, sondern ebenso an dem Satz von der Partizipation, d. h. der Mitbestimmung der Bürger bei den öffentlichen Angelegenheiten. Er ist mit einer parlamentarischen Demokratie, mit dem Wahlakt alle vier Jahre anfänglich, aber längst nicht voll erfüllt. Solche Wahlen sind nur Scheinmitwirkung, wenn die gewählten Repräsentanten vier Jahre lang als Obrigkeit sich gebärden dürfen, wenn die nicht gewählten, sondern von oben her eingesetzten Beamten sich verselbständigen zusammen mit den Parlamentariern und den Technokraten und den großen Wirtschaftsbossen. Wir haben in der parlamentarischen Demokratie nur die Wahl zwischen ständiger Schrumpfung und ständiger Ausdehnung dieses Menschenrechtes der Mitwirkung, d. h. der Bürgerkontrolle von unten und vor allem jeweils der Kontrolle der Betroffenen. Dies erlebten wir soeben beim Disput um das Kraftwerk am Oberjägerweg (Berlin-Spandau). Da zeigten sich die Verlegenheiten der obrigkeitsstaatlich denkenden Behördenvertreter, als ein Gericht sie durch Einstweilige Verfügung an ein vorhandenes Gesetz erinnerte, das das Menschenrecht der Bürgermitwirkung bei solchen viele Bürger betreffenden Vorhaben sicherstellen will.

Dies wäre nicht geschehen, wenn nicht vorher Bürger von ihrem in der FDGO ihnen grundsätzlich zugesicherten Mitspracherecht Gebrauch gemacht hätten, wie es sich auch sonst an vielen Orten rührt, und dies wiederum ist nur möglich, wenn die Bürger das in ihren eigenen Lebensbereichen von Jugend an ständig üben können. Das heißt, parlamentarische Demokratie wird demokratische Wirklichkeit sein und nicht, wie in vielen Ländern in Ost und West, nur Fassade für Obrigkeitsstaat bis Diktatur, wenn alle Lebensbereiche demokratisiert werden: die Parteien, Verbände, auch die Hochschulen und Schulen, auch die Kirchen; ja, bis in die Familie, Ehe, ins Eltern-Kind-Verhältnis hinein reicht dieser Gegensatz des Menschenrechtes der Mitbestimmung zu patriarchalischen Strukturen und erinnert uns an die heute endlich uns bewusst werdende Frage der realen Gleichberechtigung der Frauen - wie steht es damit in euren vier Wänden?! - und an die Menschenrechte der Kinder, die ein Mann wie Jan Korczak so leidenschaftlich angemeldet hat. Der Schrei der Hunderte von misshandelten Kindern in unserem Land und die Notwendigkeit eines ersten Hauses für misshandelte Frauen hier in Berlin zeigt, wie groß die Kluft zwischen Auftrag und Wirklichkeit auch bei uns im Geltungsbereich der FDGO noch ist, wieviel noch zu tun ist auch in einem Land, in dem - Gott sei Dank! - die Folter nicht Regierungspraxis und die Bürgerfreiheit nicht nur eine papierne Phrase ist.

Noch auf ein anderes Gebiet sei hingewiesen: ein höchst wichtiges, bei dem sich der revolutionäre Charakter der Proklamation der Menschenrechte durch UNO und GG zeigt. Ich meine das Gebiet der sozio-ökonomischen Verhältnisse. Zu dem eingangs zitierten Artikel GG 2,1 gibt es einen Vers eines heutigen Dichters, der lautet:

"Jeder hat das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit.

Das Nähere regelt die Klassenzugehörigkeit."

Das Nähere der Menschenrechtsbestimmungen muss immer erst durch Gesetze, Einzelregelungen und eine Fülle von Institutionen geregelt werden. Wenn aber die faktischen Ungleichheiten in der Gesellschaft durch diese nicht durchbrochen und schließlich ganz beseitigt werden, dann steht dieser GG-Artikel nur auf dem Papier, wie jeder an der heutigen Jugendarbeitslosigkeit und an der Situation der Hauptschüler sich veranschaulichen kann. Wenn Besitzer von Produktionsmitteln ihrer Interessen wegen einen Betrieb schließen können, und Hunderte von Menschen, die nur vom Verkauf ihrer Arbeitskraft leben, sitzen auf der Straße, dann steht die Bestimmung vom Recht auf Arbeit und vom Schutz gegen Arbeitslosigkeit nur auf dem Papier. Wenn das neue Berufsbildungsgesetz scheitert am Interesse der Ausnutzung der Arbeitskraft der Lehrlinge, dann steht das Recht auf Bildung nur auf dem Papier - usw. Wo wir auch anfangen, überall zeigt sich, wie die Menschenrechte in Konflikt stehen mit bestehenden Besitzverhältnissen und Besitzprivilegien, an denen wir alle teilhaben, und wie es darum nichts hilft, wenn die Menschenrechte nur auf dem Papier stehen. Es müssen ihnen entsprechende Gesetze geschaffen werden, dazu auch Institutionen, die sie durchsetzen, international ein UNO-Gerichtshof, wie ihn jetzt die Bundesregierung der UNO vorgeschlagen hat und wie wir ihn in der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte schon haben - besonders wichtig für uns West-Berliner wegen des Fehlens eines Berliner Verfassungsgerichtes -, und es muss Institutionen geben, an die sich die in ihren Rechten verletzten Bürger ohne kostspielige Gerichtsverfahren wenden können, Ombudsmänner wie in den skandinavischen Ländern in Holland und in Israel. Vor allem aber: es muss zu einer Mehrheit von Bürgern kommen, die eifersüchtig über Schutz und Verwirklichung der Menschenrechte wachen, bei uns zu Hause wie in fernen Ländern, aus eigenem Interesse wie auch aus dem Interesse der anderen, der Hungernden und Entrechteten in der ganzen Welt, und bei denen das Eintreten für die Menschenrechte nicht da seine Grenze findet, wo ihre eigenen Interessen und Privilegien angetastet werden, sondern die bereit sind, ihre Vorteile zu opfern, damit alle menschenwürdig leben können. Und hier richtet sich die Frage besonders an uns Christen und an die christlichen Kirchen.

Es ist ja nicht nichts, dass die Menschenrechte heutzutage wenigstens auf dem Papier stehen. Es hat großer Mühe, eines langen und schwierigen Prozesses bedurft, dass heute wenigstens auf offiziellen Papieren als verbindliche Rechtsforderung steht, wovon frühere Jahrhunderte höchstens träumen konnten, und was manchem Träumer, wenn er allzu laut geträumt hat, das Leben gekostet hat. Welche Rolle haben in diesem Prozess die Christen und die christlichen Kirchen gespielt? - eine zwiespältige. Auf der einen Seite ist es kein Zufall, dass Idee und Kodifizierung der Menschenrechte in einer Kultur entstanden sind, in der jahrhundertelang die christliche Predigt gewirkt hat, in der abendländischen. Gedanken der Menschenwürde, auch sonst von Philosophen schon gedacht, bekamen im Christentum das Gewicht der Offenbarung, der Unbedingtheit, und die Trägerschaft einer sich weithin ausbreitenden Religion. Der erste Satz der AEM: "Jeder Mensch hat das Recht auf Leben", ist der revolutionärste Satz, der heute subversiv alle Unterdrückungssysteme unterhöhlt; er ist trotz seiner Einfachheit und scheinbaren Evidenz ein ganz unselbstverständlicher Satz, undenkbar in der Antike, im hinduistischen Kastensystem, ebensowenig in der islamischen Verachtung der Ungläubigen, ebensowenig in Stammesreligionen, die in Stammesfremden nur den Feind sehen, und es ist fraglich, ob der atheistische Humanismus der Neuzeit diesen Satz wirklich so selbstverständlich machen kann, wie er sich zutraut; jedenfalls auch im Zeitalter der stalinistischen Ketzerverfolgungen und der Massenvernichtungsmittel ist das ein höchst unselbstverständlicher Satz - für den christlichen Glauben aber ein höchst notwendiger Satz; denn er ist ein Glaube für die ganze Menschheit, für jeden Menschen: jeder, der Menschenantlitz trägt, ist zum Ebenbild Gottes geschaffen; für jeden ist Gott in Jesus Christus Mensch geworden, gestorben und auferstanden; jedem gilt Ruf und Verheißung des Evangeliums; jeder ist, weil Adressat der göttlichen Liebe, darum auch Adressat der christlichen Nächstenliebe, und Nächstenliebe heißt nichts anderes als: anderen Menschen das wünschen und antun, was man für sich selber wünscht.

Die Menschenrechte sind die Formulierung unserer eigenen Wünsche und also der Inhalt dessen, was wir unseren Mitmenschen gewähren, schützen und verschaffen sollen.

So ist denn heute in den Kirchen eine große Einmütigkeit darüber entstanden, dass der Kampf für die Menschenrechte eine unabdingbare Aufgabe der Christen und der Kirchen ist und so zentral in die Predigt des Evangeliums hineingehört, dass das Weglassen der Menschenrechte eine Verfälschung des Evangeliums ist. Der Rat der EKD hat das in den letzten Jahren in mehreren Erklärungen über die Menschenrechte zum Ausdruck gebracht. Das ist die eine Seite.

Auf der anderen Seite sind dem zum Trotz die christlichen Großkirchen in den vergangenen Jahrhunderten keineswegs die Vorkämpfer der Menschenrechte gewesen: eher waren sie Bremser in diesem Kampf - und dies sowohl wegen ihrer Verfilzung mit den herrschenden Mächten wie auch wegen theologischer Gründe: die irdische Ungleichheit sei von Gott so geordnet, und für den Menschen als Sünder sei zu wenig Freiheit besser als zu viel Freiheit. Das war für die, die oben standen, natürlich angenehm zu hören, und auch z.B. unser Kirchenvater Luther hat sich mehr Gedanken darüber gemacht, wie man den Pöbel unten unter Kontrolle halten, als man den oberen Pöbel, der sich Aristokratie und Monarchie nannte, unter Kontrolle bringen könne. Es waren kleinere christliche Gruppen, die Ernst Troeltsch den linken Flügel der Reformation nannte, die zusammen mit Humanisten, Liberalen und Sozialisten der Forderung der Menschenrechte zu einer solchen Kraft verhalfen, dass sie heute wenigstens auf dem Papier steht und auch die Großkirchen sie aufgenommen haben. Es trifft zu, was der hessische Kirchenpräsident Helmut Hild bei einer Erklärung zum 25. Tag der Menschenrechte am 10. Dezember 1973 feststellte: "Die christliche Verkündigung hat auf der einen Seite durch die Jahrhunderte hindurch dazu beigetragen, dass die Gedanken der Freiheit und Gerechtigkeit, der Gleichheit aller Menschen vor Gott und der Unverletzlichkeit des Lebens lebendig wurden und blieben. Auf der anderen Seite müssen wir Christen aber bekennen, dass wir die praktischen Folgen einer solchen Verkündigung des Evangeliums oft gescheut haben. Nicht-christliche Bewegungen z.B. mussten den Kampf um eine bessere Gerechtigkeit aufnehmen, weil viele Christen sich damit begnügten, Freiheit und Gerechtigkeit nur in Anspruch zu nehmen, statt sie missionarisch auch in die gesellschaftliche Wirklichkeit hinauszutragen und umzusetzen" (zitiert nach "Botschaft und Dienst", Monatshefte für Erwachsenen-Bildung, Verlag Kirche und Mann, Gütersloh, 25. Jahrgang, 3/1974, S. 9 f.).

Um so dankbarer waren und sind wir nun für einen evangelischen Bischof, in dessen ganzer Wirksamkeit die untrennbare Zusammengehörigkeit des christlichen Glaubens mit dem Kampf für die Menschenrechte, für ihre rechtsverbindliche Kodifizierung wie für ihre Realisierung lebendige Gestalt angenommen hat. Vom christlichen Glauben her, wie Kurt Scharf ihn von jeher verstanden hat, ist freilich jeder Satz der Menschenrechtserklärung der UNO und der Grundrechtsartikel im GG selbstverständlich, eben christlich selbstverständlich. Dies war neben und mit dem Kampf um die Unverfälschtheit der biblischen Verkündigung für ihn das Motiv, 1933 sofort der werdenden Bekennenden Kirche sich anzuschließen - und der Dorfpfarrer von Sachsenhausen hatte im dortigen KZ vor Augen, was es bedeutet, wenn die Staatsmacht die Menschenrechte prinzipiell außer Kraft setzt. Der außerordentliche Mut, mit dem er für seine verhafteten Brüder und für allerlei Verfolgte immer wieder in die Löwenhöhle der Gestapo und dann selbst ins Gefängnis gegangen ist, kam aus diesem so verstandenen christlichen Glauben. Das hat dich, lieber Kurt Scharf, so durchdrungen, dass du das Exempel eines brüderlichen Bischofs geworden bist, für den es keine Untergebenen gibt, der in jedem, der zu ihm kommt, auch in den verbissensten Gegnern - deren seltsamerweise gerade du so viele haben musstest -, den Christenbruder und Menschenbruder sieht und durch sein Verhalten hervorzulocken sucht mit unermüdlicher Geduld und Freundlichkeit.

Und wie im Verhalten zu jedem einzelnen, so auch in deinem Verhalten bei allen öffentlichen, politischen und gesellschaftlichen Fragen. Es gibt ein Wort von Carl Friedrich von Weizsäcker, das genau deine Überzeugung von der Verankerung der Menschenrechte im christlichen Glauben ausspricht: "Ich kenne keine knappere Zusammenfassung der politischen und gesellschaftlichen Hoffnungen der Neuzeit als die drei großen Worte der Französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Sie drücken ein Programm der Verwandlung der Gesellschaft aus, das unmöglich ist ohne einsichtige, liebende Freiheit von der ererbten Sitte. Ich meine, dass dieses Programm bis in die Feinheiten seiner Struktur hinein dem christlichen Verständnis menschlichen Zusammenlebens gesellschaftliche Realität zu geben sucht; und das einerlei, ob seine Anhänger sich selbst für Christen halten oder nicht" (zitiert nach "Lutherische Rundschau", Juli 1968, S. 219).

So war dir der Sonderfonds des ökumenischen Antirassismusprogramms nicht wie anderen deutschen Kirchenführern ein Stein des Anstoßes, sondern eine Gelegenheit zu einer wenigstens zeichenhaften Wiedergutmachung dessen, was die christianisierten europäischen Völker mit ihrem Kolonialismus und ihrer von den Kirchen ideologisch gestützten Verachtung der Menschenrechte der farbigen Völker jahrhundertelang angerichtet haben. So durchschautest du rasch als eine Folge dieser Verachtungshaltung das Verbrechen des Vietnamkrieges und hast die Kirche und ihre Räume, wie du es jetzt wieder in deinem letzten Rechenschaftsbericht betont hast, als Asyl für die wegen ihres Protestes gegen den Vietnamkrieg Bedrohten angesehen und zur Verfügung stellen wollen.

Im Aufbegehren der Studenten erkanntest du das Verlangen einer Jugend nach mehr Selbst- und Mitbestimmung, aber auch nach mehr Gerechtigkeit in dieser ungerechten Welt. Darum wurdest du furchtlos ihr Anwalt gegen das allgemeine Unverständnis und gegen die Hetze von Politikern und Presse und gewannst ihr Vertrauen, ihre Liebe und dadurch bei ihr auch eine neue Aufmerksamkeit für die Kirche, deren besten Inhalt du so glaubwürdig - und immer treu zu dieser viel geschmähten und viel versagenden Kirche haltend - repräsentiertest. "Wann hat es je einen solchen Bischof gegeben?", sagte mir Friedrich-Wilhelm Marquardt, als wir in der Nacht des Ostersonntags 1968 die Technische Universität verließen, in der wir zusammen die erbosten Studenten vom sinnlosen und verderblichen Weg der Gewalt abhalten konnten.

Dein Weg ging immer zu denen, die an den Rand gedrängt sind, zu den vielen Randgruppen, die unserer Gesellschaft zur Schande gereichen, darum auch in die Gefängnisse - und dort gerade auch zu denen, die mehr noch als die kriminellen Gefangenen von der Gesellschaft exkommuniziert werden, zu den politischen Gefangenen von rechts und links. "Die Würde des Menschen ist unantastbar", sagt unser GG, und das gilt auch für die schlimmsten Verbrecher, auch für Terroristen. Dein Besuch bei Ulrike Meinhof und ihren Mitgefangenen und dein Eintreten für die damals so übel verdächtigten kirchlichen Mitarbeiter im Gefängnis hat offenbar gemacht, wie wenig diese Erkenntnis bei vielen - auch kirchlichen Menschen - sich durchgesetzt hat, und war zugleich ein weithin leuchtendes Zeichen der Solidarität der Jünger Jesu mit allen Schuldiggewordenen und mit allen, die für die Menschenrechte kämpfen, leiden und dabei auf Irrwege geraten.

Du wärest bei alledem gänzlich missverstanden, wenn man dich für einen heimlichen Anarchisten hielte, d.h. für einen Menschen, der Recht und Gesetz und Staat, auch Polizei und Justiz verachtet und meint, wir könnten ohne dies alles auskommen. Zu tief ist christliche Sündenerkenntnis dir klar geworden, als dass du auf solche Illusion verfallen könntest. Maxima Caritas lex (die größte Liebestat ist ein Gesetz), pflegt unser Freund Heinrich Albertz zu sagen. Das Recht ist der Freund des Schwachen, sagt eine alte Weisheit; es schützt die Menschenrechte des Schwachen gegen die Übergriffe des Starken. Das verpflichtet uns zum Kampf für bessere Gesetze, die immer weniger Instrumente der Starken gegen die Schwachen, immer mehr Instrumente der Schwachen gegen die Starken sind. Es verpflichtet uns auch zur Seelsorge an den Starken, an den Machthabenden in der Gesellschaft, an den verantwortlichen Politikern, an denen, die in Justiz und Polizei die staatliche Gewalt ausüben. Darum hast du immer das Gespräch mit den Justizträgern und mit den Polizisten gesucht. Wir brauchen eine demokratische Polizei, die die Rechte auch der opponierenden und demonstrierenden Bürger schützt, die den Schlagstock nur im äußersten Notfall einsetzt, die liegende Frauen nicht in den Bauch tritt und bei Haussuchungen Wohnungen nicht sinnlos zerstört, die auch nicht, wie es jetzt bei der Verhaftung von zwei Studenten geschehen ist, in den Verdacht geraten kann, sie habe im Bunde mit einer üblen und gemeingefährlichen Sekte den Studenten eine Falle gestellt. Polizisten und Juristen und Theologen und Bischöfe - wir sind alle miteinander sündige Menschen, von Leidenschaften beherrscht, und müssen ständig uns gegenseitig korrigieren und einander helfen, die Rechte der anderen und besonders der Schwächeren zu achten und unsere Gewalt für deren Schutz und nicht für deren Bedrückung anzuwenden.

Schließlich: Deine Erfahrungen haben dir klargemacht, wie sehr es ständig nicht nur der Korrektur unseres einzelnen Verhaltens bedarf, sondern wie sehr unsere gesamte gesellschaftliche Ordnung - national und international - im Widerspruch zu den Menschenrechten steht. Andere gesellschaftliche Strukturen, eine andere Weltwirtschaftsordnung, eine internationale Friedensordnung - das alles steht heute auf der Tagesordnung der Welt und damit auch der durch ihren Glauben auf die Menschenrechte verpflichteten Christen. Du, vor Wolf Biermann der erste Ausgebürgerte aus der DDR, bist nie ein Feind der DDR, nie ein kalter Krieger gewesen oder geworden. Du hast immer deutlich ausgesprochen, dass das tiefste Anliegen des recht verstandenen Sozialismus mit dem Anliegen des recht verstandenen Christentums zusammenstimmt und sich dann freilich um so kritischer wendet gegen Verletzungen der Menschenrechte im Namen des Sozialismus wie gegen die nicht geringeren Verletzungen der Menschenrechte im Namen des Christentums. Deine Wirksamkeit geht ein in das Gedächtnis der Kirche, in das Gedächtnis vieler Menschen, ob sie sich für Christen oder für Nichtchristen halten, und wir bitten, dass es in das Gedächtnis Gottes eingehe als eine Arbeit im Dienste des lebendigen Gottes, der nach dem Zeugnis der Bibel ein Liebhaber des Lebens und der beste Freund aller Menschen ist.

Quelle: Junge Kirche. Eine Zeitschrift europäischer Christen, 2/77 Februar 1977 - 38. Jahrgang, S. 67ff.

Veröffentlicht am

07. Dezember 2016

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