Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

Ihre Spende ermöglicht unser Engagement

Spendenkonto:
Bank: GLS Bank eG
IBAN:
DE36 4306 0967 8023 3348 00
BIC: GENODEM1GLS
 

Antifaschistischer Kampf

Der evangelische Theologe Helmut Gollwitzer ist am 29. Dezember 1908, also vor genau 100 Jahren geboren worden. Gollwitzer, im Oktober 1993 im Alter von fast 85 Jahren verstorben, trat nach der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933 entschieden für die "Bekennende Kirche" ein und war später unter anderem engagierter Wegbegleiter der Studentenbewegung wie der sozialen Bewegungen der 1970er und 80er Jahre. In der Lebenshaus-Website erinnern wir an ihn durch die Veröffentlichung verschiedener Predigten, Reden und Artikel. Nachfolgend eine Rede von Erich Fried in der Freien Universität Berlin zu Helmut Gollwitzers 70. Geburtstag am 29. Dezember 1978.

Antifaschistischer Kampf

Rede in der Freien Universität Berlin zu Helmut Gollwitzers 70. Geburtstag am 29. Dezember 1978

Von Erich Fried

Von der Einladung, der ich verdanke, dass ich heute hier sprechen darf, hörte ich zuerst als Vorschlag, etwas über Helmut Gollwitzer, den Antifaschisten, zu sagen. Diese Einladung nahm ich gerne an. Der genaue Titel des mir zugedachten Referats "Wie sah der antifaschistische Kampf aus und wie sollte er heute aussehen?" ist viel anspruchsvoller und ein wenig erschreckend für einen, der sich nicht zum allweisen Verkünder des allein richtigen Antifaschismus berufen fühlt. Aber ein freundliches Schicksal und eine falsche Adresse auf dem Brief an mich halfen mir: Ich bekam diesen genauen Titel erst am Weihnachtstag in die Hände. Da hatte ich mein Referat über Helmut Gollwitzer schon geschrieben, und als ich es mir nun nochmals besorgt ansah, fand ich, dass ich an seinem Beispiel soviel über antifaschistischen Kampf gesagt hatte, dass ich es immer noch mit gutem Gewissen zu diesem Thema halten kann. Aber ich will auch dem neuen Thema nicht ausweichen und sage deshalb am Ende des Referats meine Meinung dazu.

Die Einladung, von Helmut Gollwitzer, dem Antifaschisten, zu sprechen, war für mich leicht anzunehmen. Ich hatte immer wieder gehört, wie vor 40 Jahren, gleich nach der sogenannten Reichskristallnacht, der noch nicht ganz dreißigjährige Helmut Gollwitzer mit seiner legendären Bußtagspredigt in Dahlem Leben und Freiheit riskiert hat. Diese Predigt fing an: "Wer soll denn heute noch predigen? Ist uns nicht allen der Mund gestopft an diesem Tage? Können wir denn noch etwas anderes als nur schweigen?" Es war ein sehr beredtes Schweigen, es war eine Form des Kampfes gegen den Hitlerfaschismus.

Ich habe auch nicht vergessen, was ich wenige Jahre nach dem Krieg in Gollwitzers Buch "Und führen, wohin du nicht willst" gelesen habe. Ich weiß, wie sehr er sich in all den Jahren seit 1945 bemüht hat, zu einer wirklichen Überwindung des faschistischen Ungeists in Deutschland beizutragen, der Krankheiten und der Verbrechen, die nicht erst 1933 begannen und die 1945 leider nicht aufhörten.

Es ist über 15 Jahre her, dass Helmut Gollwitzer am 10. März 1963 in einer Rundfunkpredigt zur sogenannten "Woche der Brüderlichkeit" diese gutgemeinte, auch gegen den Faschismus gerichtete, aber schnell zur stehenden Einrichtung erstarrte Brüderlichkeitsbekundung zu retten versuchte, indem er "Die schwere Umkehr" zum Thema nahm. Seine Predigt war nicht nur voll Verständnis und enthielt nicht nur die Bitte um göttliche Hilfe bei dieser schweren Umkehr, um Wege des Friedens für Deutschland - für beide Teile Deutschlands - und für Israel, sondern in dieser Predigt klagte er auch an und warnte vor allzu leichter Selbstgerechtigkeit, warnte davor, sich die Vergangenheit zu leicht selbst zu vergeben.

Damals herrschte noch der kalte Krieg in seiner ganzen, von Westberlinern besonders zelebrierten, Vollendung und Helmut Gollwitzer betete für die beiden Regierungen in Deutschland, für die beiden Verwaltungen in Berlin, also für die hüben und drüben, die er beide nie unkritisiert ließ. Und zugleich klagte er die Heuchelei der angeblichen Vergangenheitsbewältigung und der falschen Wiedergutmachung an, von der ich gerade um die gleiche Zeit, ohne dass ich seine oder er meine Worte gekannt hätte, schrieb: "Die Wiedergutmachung kann eine gute Art sein die Wiederschlechtmachung wieder gut anzufangen."

Und auch damals verstanden viel zu viele Menschen in Deutschland nicht mehr zu hören, was ein Antifaschist ihnen sagte. Aus zahllosen Briefen derer, die diese Predigt "Die schwere Umkehr" gehört hatten, spricht empört oder traurig das platte, selbstgerechte oder das blind tappende, hilflose Unverständnis. Schon damals zeigte sich die Art, wie später alle die in Berlin und in der Bundesrepublik verleumdet und missverstanden, angeschwärzt und falsch zitiert wurden, die wie Helmut Gollwitzers Schützling und Freund Rudi Dutschke die Sache der Studenten führten oder gegen Untaten der Berliner Polizei oder gegen den Vietnamkrieg oder gegen die Notstandsgesetze oder gegen enthemmte Menschenjagd auftraten, deren verhängnisvolle Eskalation sie wie Heinrich Böll und (immer wieder, bei all diesen Anlässen!) wie Helmut Gollwitzer voraussagten.

Kein Mensch, der einen so langen Kampf kämpft, ist unermüdlich. Aber Helmut Gollwitzer war trotz aller Ermüdung immer wieder da, wenn er sich kaum die notdürftigste Ruhe gegönnt hatte, und ist immer wieder da.

Er war da, als Benno Ohnesorg von einem Berliner Polizisten erschossen wurde und als die Polizei log - um die Wette mit der Springerpresse. Und dass Helmut Gollwitzer da war, hat, glaube ich, auch dem damaligen Regierenden Bürgermeister Albertz schließlich seinen schweren Weg leichter gemacht, auf dem er seiner Erkenntnis der Wahrheit viel opferte und sich zur Zielscheibe derselben Angriffe machte. Er, Helmut Gollwitzer, hat den Nachruf für Benno Ohnesorg gesprochen, so wie er später am Grab von Ulrike Meinhof und ganz kurz darauf am Grab seines Freundes Gustav Heinemann gesprochen hat.

Und es war immer ein und derselbe Helmut Gollwitzer, derselbe, der auf der Straße gegen den Vietnamkrieg sprach - ich stand neben ihm und sprach dann nach ihm - und derselbe, der gegen Repression und Berufsverbote, gegen die "Verfassungsfeinde über uns" sprach und schrieb, und derselbe, der mir solidarisch half, als ich 1974 vor Gericht stand, weil der Polizeipräsident von Berlin, Herr Hübner, mich wegen meines Wortes "Vorbeugemord" für die polizeiliche Erschießung Georg von Rauchs verklagt hatte. Mein Freispruch damals ist wahrscheinlich nicht zuletzt der Solidarität von Menschen wie Helmut Gollwitzer und Heinrich Böll zuzuschreiben. Und später, als linke Anwälte verfolgt wurden, hat Helmut Gollwitzer meinem Anwalt, Kurt Groenewald, zu helfen versucht.

An all das erinnerte ich mich, und deshalb schien es so leicht, von Helmut Gollwitzer, dem Antifaschisten, zu sprechen. Erst später kamen mir Bedenken. Ist es denn nur der Antifaschist Helmut Gollwitzer, von dem ich sprechen will? Kann man und darf man denn diesen Begriff Antifaschist isolieren, so nötig (und so unverjährbar wie die Verbrechen des Hitlerfaschismus) dieser Begriff Antifaschismus leider geblieben ist: in einem Land, in dem es einen Globke gab und einen Filbinger, einen Generalbundesanwalt Ludwig Martin und einen Bundesverfassungsrichter Prof. Dr. Willi Geiger, in dem es in Frankfurt einen Schmidt-Leichner als Vorsitzenden eines Ehrengerichts für Anwälte geben kann und die große Mehrheit brauner Verteidiger im Majdanek-Prozess in Düsseldorf und in dem beide Anwärter für das Amt des Bundespräsidenten ganz nebenbei Mitglieder der NSDAP waren.

Aber was ist Antifaschismus und ist Antifaschismus genug? Waren nicht auch Stalinisten, die ihre eigenen Genossen hinrichten ließen oder Menschenraub begingen, Antifaschisten? Sind ihre Nachfolger, die Rudolf Bahro eingekerkert halten, nicht Antifaschisten? Sind unter den mitschuldigen Vätern des Berufsverbots, des sogenannten Radikalenerlasses, und vieler anderer repressiver Gesetze, angefangen von den Notstandsgesetzen, die Deutschland und Westberlin Schaden und Schande zufügen, keine "ehrlichen Antifaschisten"? Waren die Mitglieder der nicht minder schädlichen R.A.F. keine Antifaschisten? Oder waren unter den ehemaligen Resistance-Kämpfern, die Frankreichs Algerienkrieg führten, und unter den Amerikanern, die in Vietnam kämpften, keine, die sich als Antifaschisten verstanden? Oder - ich will keine heiklen Punkte taktvoll verschweigen - waren unter denen, die alles, was Zionisten in Israel oder im Libanon taten, rechtfertigen zu müssen glaubten und antizionistische deutsche Linke kurzweg als Antisemiten bezeichneten - und die das heute immer noch tun! - etwa keine überzeugten Antifaschisten? - Es ist leider nicht so leicht mit den großen Bezeichnungen wie Antifaschist oder auch Sozialist oder Linker… Und wenn auch für Menschen der Generation Helmut Gollwitzers - oder auch meiner Generation - der Antifaschismus von großer Wichtigkeit war und ist und sein muss - er allein genügt nicht. Man muss mindestens fragen, welche Art Antifaschist? Und da will ich sagen, dass Helmut Gollwitzer ein Antifaschist von der Art ist, die es einem leicht macht, des Begriffs nicht vor der Zeit müde zu werden oder an ihm zu verzweifeln.

Ich erinnere mich aus meiner frühen Jugend der furchtbaren und sehr verständlichen Losung: "Schlagt die Faschisten, wo ihr sie trefft!" Ich sage "sehr verständlich" und wahrscheinlich unvermeidlich, aber ich sage auch "furchtbar". So eine Art "Antifaschist" ist Helmut Gollwitzer zum Glück nicht. Er war nicht einmal für Gewalt gegen Sachen, geschweige denn gegen Personen! Er ist zwar dafür, den Faschismus zu bekämpfen, wo immer wir ihn oder seine Ausgeburten und Erben und neuen Keime treffen, (das Schlagen besorgen leider wieder öfter sie als wir!), aber er ist nicht dafür, jeden einzelnen Menschen, der in den Faschismus verstrickt wurde, zu schlagen, wo immer wir ihn treffen. Es gibt zum Glück auch Lebenslagen, in denen man einen solchen Menschen unter Umständen trifft, unter denen man mit ihm sprechen oder ihm helfen und vielleicht dadurch weit mehr erreichen kann, als indem man schlägt. Für Helmut Gollwitzer ist Antifaschismus nie ein Selbstzweck gewesen, nie eine Grundlage dafür, sich für besser zu halten als Andersdenkende und politische Gegner. Von solchem Antifaschismus hätte Helmut Gollwitzer in all den Jahren bald mehr als genug gehabt und wäre seiner müde geworden, aber gerade die Verwechslung mit solchen Haltungen ist es, die in Deutschland immer wieder zur Verleumdung und zur Verunglimpfung wirklicher Antifaschisten führt, was besonders traurig wird, wenn sich selbst ein Willy Brandt zu solchen Verwechslungen hinreißen lässt. - Für Helmut Gollwitzer - und nicht nur für ihn - hat Antifaschismus nur so lange Sinn, als er ein Weg zu mehr menschlicher Solidarität ist:

Ein Faschist,
der nichts ist
als ein Faschist,
ist ein Faschist.
Aber ein Antifaschist,
der nichts ist
als ein Antifaschist,
ist kein Antifaschist.

Und deshalb möchte ich hier auch auf ein zweites Missverständnis hinweisen, auf das wohlwollend gemeinte Missverständnis jener, von denen ich im Laufe der Jahre oft gehört habe, für einen christlichen Theologen sei eigentlich Gollwitzer ein recht guter Linker und für ein Stück Weges wirklich ein brauchbarer Bundesgenosse. Nun, obwohl das freundlich und anerkennend gemeint war und obwohl Helmut Gollwitzer über diese Einschätzung sicher verständnisvoll lächelt, möchte ich ausdrücklich dagegen Stellung nehmen - und gegen den ganzen zynischen Unfug von den sogenannten "nützlichen Idioten" als zeitweiligen Weggenossen! Ich glaube, es ist wichtig zu sehen, dass wir Helmut Gollwitzers Antifaschismus und Sozialismus seinem konsequenten Christentum nicht weniger verdanken als marxistischem Denken, ja dass christliche Ethik wenn nicht zu den Denk-, so doch wohl zu den Gefühlsvoraussetzungen eines Marx und Engels gehört hat. Ich sage das als einer, der selbst nicht Christ ist, dem aber gerade Helmut Gollwitzer, mehr noch als Ernst Bloch, sehen half, wie wichtig christliches Denken, christliche Nächstenliebe und sehr viel von dem, was die Evangelien als Worte Christi berichten, für uns alle ist. Gerade von dieser Seite kann marxistischen Linken Hilfe gegen Erstarrung und Selbstentfremdung geleistet werden, gerade so wie dem Christentum gerade von links und von unten immer wieder neues Leben, neue Wirklichkeit zugeführt werden und seine Lehren vor Erstarrung gerettet werden können.

In der sogenannten Volksfrontzeit in den dreißiger Jahren, die im Westen durch die Befriedigungspolitik des demokratischen Establishments für Hitler und Mussolini, im Osten durch die Trotzkistenprozesse sabotiert wurde und 1939 mit dem Hitler-Stalin-Pakt endete, entstand die begreifliche, aber oberflächliche "linke" Gewohnheit, sich aus dem sogenannten "Kulturerbe" das herauszusuchen, was einem jeweils politisch in den Kram passte. Ein solch opportunistischer Eklektizismus kann für die Beziehungen zwischen Christentum und Antifaschismus nie maßgebend sein und war es für Helmut Gollwitzer auch nie.

Er war nie ein Modetheologe, er hat Auseinandersetzungen nie gescheut, auch nicht Auseinandersetzungen mit einem, der ihm so viel bedeutete wie Ernst Bloch. - Freilich ist auch Helmut Gollwitzers theologisches Werk, soweit ich das beurteilen kann, immer durchsetzt und belebt von seiner menschlichen diesseitigen Stellungnahme. Kein Zufall, dass er, dreißig Jahre nach Hitlers Ende, der Arbeit, mit der er seine Lehrtätigkeit an der Universität abschloss, nur den Untertitel "Einführung in die evangelische Theologie" gab, aber den Titel "Befreiung zur Solidarität". Kein Zufall, dass seine "Beiträge zur Theologie der Gesellschaft" den Titel "Forderungen der Umkehr" tragen und einige seiner politischen Predigten den Titel "Veränderungen im Diesseits". Ein Antifaschismus, der Helmut Gollwitzer sein Christentum etwa "tolerant" nachsehen wollte als Lohn für sein sonstiges gutes Betragen, wäre auf dem Holzweg. Allerdings haben da viele Antifaschisten, nicht zuletzt gerade durch Helmut Gollwitzer, eine Menge dazugelernt. Auch ich. Ich kann auf viele Gedichte hinweisen, die ich ohne seinen Einfluss nie hätte schreiben können: so unmittelbar wirkt so etwas. Allerdings gibt es auch in kirchlichen Kreisen viele, die Helmut Gollwitzers Sozialismus und Antifaschismus gar nicht gerne sehen, namentlich nicht, wenn er sich auch gegen die "Tendenzwende" in der Kirche kehrt, wie z. B. in seinem Vorwort zu dem Buch "Auf einem Auge blind" gegen die Unterwanderung der Kirche von rechts, eine Unterwanderung, die leider seit Erscheinen des Buches durch den hässlichen, undemokratischen und zutiefst unchristlichen Kampf von Kirchenbehörden gegen Studentenpfarrer noch weitere Fortschritte gemacht hat.

Es ist nicht möglich, wirklich genug, wirklich mit hinreichender Spannweite in einer kurzen Festrede von Helmut Gollwitzer zu reden, dem Freund, dem Helfer, dem Lehrer, von Helmut Gollwitzer, dem Genossen, der das Wort "Genosse", das durch Stalinismus, sektiererischen Dogmatismus, aber auch durch sozialdemokratischen bürokratischen Leerlauf arg heruntergekommen ist, durch sein Vorbild, ähnlich wie Rudi Dutschke, wieder zu Ehren bringt, von Helmut Gollwitzer, dem Christen und Prediger, und immer wieder von Helmut Gollwitzer, dem streitbaren Kämpfer, den nicht Streitsucht streitbar macht, nicht Kampfeslust oder gar Kampfeswut zum Kämpfer!

Nicht immer waren und sind Helmut Gollwitzer und ich einer Meinung. Vielleicht doch, weil ich Jude bin, habe ich zum Unterschied von ihm den Zionismus zwar als einen der verständlichsten und dadurch entschuldbarsten, aber desto tragischeren Fehler gesehen, der nicht zuletzt auch den Juden in Israel eines Tages Verderben droht. Da waren wir verschiedener Meinung; und das war nicht die einzige Frage: Obwohl wir beide einzelne Ausdrücke im sogenannten Buback-Nachruf eines Göttinger "Mescalero" ablehnten, beurteile ich doch das ganze Dokument viel positiver, als linke Stellungnahme gegen politischen Mord (Stellungnahme aus ethischen nicht minder als aus sachlichen Gründen), - positiver namentlich angesichts der schamlosen Verleumdung durch deutsche Massenmedien und Politiker als Helmut Gollwitzer, der sich über etliche Dummheiten geärgert hatte, es damals beurteilte und vielleicht heute noch tut. Wir hatten also auch Gelegenheit, verschiedener Meinung zu sein, und so kann ich bezeugen, dass Helmut Gollwitzer es an Verständnis und Fairness für den Andersdenkenden und dessen von Rosa Luxemburg geforderten Freiheit nicht fehlen lässt.

Aber solche Meinungsverschiedenheiten blieben Ausnahme. Immer wieder fand ich mich auf derselben Plattform und immer wieder wurden wir auch von denselben Verleumdern in einem Atem genannt. Die Liste wäre zu lang und zu dumm, um all das hier aufzuzählen. Sie reicht von "Agenten Moskaus" über "Aufweichler" und "Nestbeschmutzer" und "Werkzeuge des Weltjudentums" bis zu "Sympathisant des Terrorismus" und "Deutschlandhasser". Für Mahnungen zur schweren Umkehr aus dem Ungeist der Nazizeit und des kalten Krieges wurde und wird man nicht weniger angefeindet als für Versuche, auch Terroristen gegenüber Menschlichkeit, Gerechtigkeit und Bemühen um Verständnis walten zu lassen, um sie so vielleicht von ihrem Irrtum abzubringen. Und vollends, welche Verleumdungen Helmut Gollwitzer und mir und allen, die sich für das Russell-Tribunal einsetzten, zuteil wurden, muss noch in frischer Erinnerung sein. Nun: es kommt darauf an, in einem Land, in dem Politik mit Verleumdung und Gehässigkeit arbeitet, mit Lüge und Geheimniskrämerei, mit Entstellung der Meinungen und Absichten des Andersdenkenden, gegen all das anzukämpfen ohne Gehässigkeit, ohne Verleumdung und Entstellung, ohne Verständnislosigkeit, ohne Geheimtun, mit Wahrheit, mit immer erneuter Bereitschaft zu Verständnis und Liebe und ohne Überschätzung weltlicher Macht. Gewiss, es geht nicht immer ohne Zorn ab, ohne Ärger, ohne Erregung, ohne Heftigkeit. Aber das soll nicht das Wesentliche sein. Und einen solchen Kampf führt der Christ und Antifaschist Helmut Gollwitzer und ist mir und vielen anderen ein Beispiel dafür, wie man einen Kampf führen kann, ohne sich selbst in eine Kampfmaschine zu verwandeln.

Und hier zurück zur Frage: "Wie sah der antifaschistische Kampf aus und wie sollte er heute aussehen?" Ich will versuchen, meine Meinung zu skizzieren, in die vielleicht auch eingegangen ist, was ich von Helmut Gollwitzer gelernt zu haben glaube.

Ich glaube, der antifaschistische Kampf ist meist zu kleinkariert geführt worden, zu engherzig, zu einseitig und gerade deshalb auch mit zu wenig Realitätssinn. Der bürgerliche Antifaschismus, unterstützt seit den dreißiger Jahren von einem KP-Opportunismus, der die Volksfront erleichtern wollte, tendierte dazu, den Klassenkampf, den Produktionsprozess des Kapitalismus, aus den Augen zu verlieren, wenn es gegen den Faschismus ging. Marxistisch sein wollende Dogmatiker wieder neigten dazu, alles andere als den unmittelbaren Klassenkampf als die politökonomischen Determinanten, als bloße "Überbauphänomene" abzutun. Beides war falsch, führte zum Aneinandervorbeireden. Im Namen des Marxismus wurde zudem, und wird auch heute wieder (z. B. von jenen, die alle neuen französischen Philosophen und Antipsychiater in einen Topf werfen und in Bausch und Bogen verdammen) alles, was von anderswoher kommt, verdächtigt und mit Misstrauen betrachtet, als wäre wissenschaftliches Denken mit Monopolansprüchen vereinbar. In der Geschichte des Antifaschismus hat wahrscheinlich kaum je etwas so viel Unheil angerichtet wie die vulgärmarxistische Irrmeinung, auf einer Klassenbasis könne es, wenn es ja wissenschaftlicher Sozialismus sei, nur eine richtige Meinung geben und alle Andersdenkenden seien daher, objektiv oder subjektiv, Agenten oder Werkzeuge des Klassenfeindes. An dieser Wissenschaftsfetischisierung klebt viel unschuldiges Blut in der Geschichte der Linken. In Wirklichkeit müsste man, um auch nur annähernd "wissenschaftlich" zu entscheiden, nicht nur alle wirksamen Faktoren in einer Lage erkennen, sondern sie auch quantitativ annähernd richtig einschätzen. Das geht bekanntlich nicht ohne Untersuchung und bis die ihre Ergebnisse zeitigt, ist die Zeit zur Entscheidung meistens längst vorbei. Es kann also sehr wohl mehr als eine Meinung in kritischen Lagen geben.

Engstirnigkeit und Selbstgerechtigkeit haben den antifaschistischen Kampf immer wieder entfremden und zum Werkzeug von - wenn auch subjektiv vielleicht ehrlichen - Manipulationssachverständigen werden lassen. Der Pendelausschlag ins Gegenteil: Theoriemüdigkeit wie bei Tunix, Sezession, Ausscheren, Hinwendung zu hierarchischen Sekten - dies ist nur die andere Seite der Medaille, aber auch keine Lösung. Dass aber beide Fehler, ja fast alle Fehler der Linken, zum Teil auch von verständlichen, ja von sympathischen Reaktionen getragen wurden, müsste man einsehen, um zu einem antifaschistischen Pluralismus zu kommen, der freilich nicht einfach ein Bündnis der alten Linken mit der Neuen Linken sein könnte.

Es versteht sich, dass Antifaschismus nicht nur gegen das echte alte Erbe des Hitlerfaschismus kämpfen muss, sondern gegen alles, was in ähnlicher Richtung führen könnte, auch wenn es das von sich selbst nicht glaubt und nicht weiß. Aber die Beharrlichkeit und Intensität eines solchen Kampfes erfordern nicht unbedingt Hass und Erbitterung. Man wird sonst leicht - wie die R.A.F. - zum Spiegelbild dessen, was man zu bekämpfen glaubt. Wenn ich gesagt habe, dass die Verbrechen des Faschismus nicht verjähren können, so heißt das nicht, dass ein Antifaschist gegenüber dem einzelnen schuldigen Mitmenschen keine Milde und keine Gnade kennen darf. Es gibt keine Sache, die so heilig ist, dass ihr gedient wird, indem man sich ihr zuliebe in ein Ungeheuer verwandelt. Auch dann nicht, wenn die Gegner sich oft große Mühe geben, wie Ungeheuer zu handeln. Wer Feindesliebe für unpraktisch hält, der bedenkt vielleicht nicht die praktischen Folgen des Feindeshasses. Feindesliebe heißt freilich auch, nicht vergessen, dass Feinde - oder doch viele von ihnen - immer noch Feinde sind, ihrerseits oft gar nicht beseelt von Feindesliebe.

Auch Helmut Gollwitzer kann hart kämpfen und angreifen, wenn auch nie "mit allen Mitteln". Hier, dieses Berlin, in dem ein Polizeihauptmeister Kurras, der Benno Ohnesorg erschossen hatte, zweimal freigesprochen werden und noch eine Reihe höchst merkwürdiger Handlungen begehen konnte, - dieses Berlin, in dem der Mut eines Regierenden Bürgermeisters Albertz, für seine Erkenntnisse Zeugnis abzulegen, den politischen Selbstmord bedeutete, während sich ein Mann wie Innensenator Neubauer noch jahrelang in Amt und sogenannten Würden halten konnte und zwar nicht mehr ein Duensing, aber immerhin ein Hübner noch Polizeipräsident bleiben konnte trotz Todesschüsse seiner Polizei und trotz unguter Zeitungsartikel mit seiner Unterschrift, die in anderen westlichen Demokratien seinem Tun sehr rasch ein Ende gemacht hätten, - dieses Berlin ist kein Ort, an dem Antifaschisten aufs Kämpfen verzichten können. Auch dann nicht, wenn vielleicht auch ihre Gegner sich für Antifaschisten halten und die warnende Sprache ihrer eigenen Verhaltensmuster wirklich nicht verstehen.

Gegen vieles, was in Berlin und in der Bundesrepublik geschieht, müssen Antifaschisten kämpfen, auch namentlich gegen Personen: gegen die Politiker und Amtspersonen, die dafür verantwortlich sind. Ein Polizeipräsident ebenso wie ein Innensenator, ein Richter oder ein Staatsanwalt kann eine Gefahr für die Demokratie sein und für die Lebenssubstanz, um die es jedem wirklichen Antifaschismus gehen muss. Aber der Kampf darf nicht "mit allen Mitteln" geführt werden. Hier in Berlin habe ich an Wänden die Aufschrift gesehen: "Drenckmann war das erste Schwein, Buback kommt gleich hinterdrein." Das ist kein antifaschistischer Kampf! Schon deshalb nicht, weil er unmenschlich ist. Nebenbei ist es auch eine Beleidigung des Andenkens an den liberalen Richter Drenckmann, ihn in einem Atem mit Generalbundesanwalt Buback zu nennen, der - nicht nur wegen Stammheim, sondern schon von der Spiegel-Affäre her! - in der Welt keinen so guten Ruf hatte, wie hier offizielle Trauerordnungen und Nachrufe glauben machen wollten. Aber vor allem war die Ermordung Siegfried Bubacks ein unsinniges Greuel! Ich habe nicht vergessen, dass hier in Berlin, als ich am 10. Jahrestag der Erschießung Benno Ohnesorgs eine Ansprache hielt, einige Demonstranten den Mord an Siegfried Buback beklatschten und mir zuriefen: "Das ist kein Mord, das ist eine Hinrichtung." Nun, ich meine, Antifaschisten haben auch nicht mit Hinrichtungen zu arbeiten. Benno Ohnesorg war gegen Hinrichtungen, Hinrichtungen waren immer grauenhaft, waren nie etwas besseres als behördlich sanktionierter Mord (- das gilt auch für manche Todesschüsse -) und Hinrichtungen ohne Verhör und ohne Verteidigung, ohne Einspruchs- und Begnadigungsmöglichkeit sind nicht einmal Hinrichtungen, sondern eben nur noch Mord. Andererseits waren die offiziell erzwungenen Trauerzeremonien für Siegfried Buback eigentlich eine Beleidigung des Toten, denn was ist erzwungene Trauer wert? Und eine Maßnahme wie die Entlassung des Berliner Sozialpsychologen Udo Knapp, der nicht auf Befehl zum Zeichen der Trauer aufstehen wollte, ist für einen Antifaschisten im Kleinen ein echtes Greuel von derselben Art, wie es im Großen die Gegendemonstration des Berliner Stadtsenats gegen die Vietnamdemonstration im Februar 1968 war, bei der die städtischen Arbeiter sich nach Betrieben sammeln mussten und fürs Demonstrieren bezahlt bekamen, wobei es auch (kein Wunder!) zu antisemitischen Ausrufen und Lynchversuchen gegen ein englisches Mädchen kam und gegen einen jungen Photographen, der das Pech hatte, Rudi Dutschke ähnlich zu sehen.

Ja, in Berlin gibt es vieles, gegen das ein Antifaschist kämpfen kann und soll. Aber nicht mit individuellem Terror, der nur die Neue Linke fast vernichtete, nicht mit Selbstgerechtigkeit und nicht mit Realitätsverlust.

Vor zehn Jahren schüttelte ich den Kopf über eine Losung: "Brecht dem Schütz die Gräten, alle Macht den Räten!" Ich fand die ersten Worte wenig menschlich, zudem war Herr Schütz - besonders im Vergleich zu Herrn Neubauer - harmlos. Außerdem spricht man von einem Menschen nicht wie von einem Fisch. Und was die Räte betrifft: sogar wenn (wozu nicht die geringste Möglichkeit bestand) die Studenten in Westberlin eine Räterepublik hätten ausrufen können, - die DDR und die Westmächte hätten ihr gemeinsam ein Ende bereitet. Das war Entfremdung und Realitätsverlust, lange vor dem ungleich ärgeren und größeren Realitätsverlust des sogenannten "bewaffneten Kampfes". Und Realitätsverlust ist ungut für Antifaschisten. Ich kann verstehen, was einen Horst Mahler, was eine Ulrike Meinhof zur Verzweiflung getrieben hat, aber deshalb muss ich ihre Verzweiflungsgedanken und -taten nicht bejahen. Das heißt allerdings nicht, dass etwa die Konkret-Artikel Ulrike Meinhofs aus den Jahren zuvor oder die Umstände ihrer Haft, ihrer Gerichtsverfahren, überhaupt ihres Lebens und ihres Todes, von Antifaschisten vergessen werden dürfen, bloß weil sie mit Recht gegen den "bewaffneten Kampf" sind.

Ich muss vielleicht hier etwas - und ich hoffe, auch in Helmut Gollwitzers Sinn - über die Bedeutung des Unbequemen im antifaschistischen Kampf sagen. Ich erinnere mich aus meiner politischen Frühzeit, wie es war, wenn sich irgendeine wirkliche Ungerechtigkeit ereignet hatte, wenn ein völlig gerechtfertigter Protest laut werden wollte, der aber aus irgendeinem Grunde taktisch ungelegen kam. Da konnte man sich über die Protestierenden ärgern: "Müssen die gerade jetzt mit einem so unbequemen Thema kommen?" Ich glaube, es ist wichtig, einem solchen Unbehagen, einem solchen Ärger nicht nachzugeben. Wenn man solche Widerstände empfindet, so ist das meistens ein Zeichen dafür, dass mit der eigenen Taktik irgendetwas nicht stimmt oder dass wir im Begriff sind, zu kleinen Rädchen in irgendeinem großen Apparat und Manipulationsmechanismus zu werden.

Es ist gewiss unbequem, wenn mitten in einem Gespräch über Isolationshaft der Name Rudolf Heß fällt. Aber darf man sich als Antifaschist über das Problem einfach hinwegsetzen? Es ist unbequem, wenn man mit Fritz Teufels Ansichten nicht übereinstimmt, daran zu erinnern, dass er immer noch eingesperrt ist und wie in all den letzten zehn Jahren mit ihm verfahren wurde. Es ist unbequem, wenn man, wie ich, über Horst Mahlers gründliche Abwendung vom Terrorismus froh ist und für seine längst überfällige Freilassung eintritt, ihn gleichzeitig dafür zu kritisieren, dass er dazu neigt, jede neue Überzeugung gleich ganz und gar und womöglich etwas mehr als hundertprozentig zu vertreten und dadurch für die furchtbaren Irrtümer derer, die vielleicht teilweise noch so denken wie er selbst gestern oder vorgestern gedacht hat, so wenig Nachsicht oder Einsicht aufbringt, dass er ihnen dadurch vielleicht den letzten Ausweg aus dem Irrtum zu vermauern droht, oder Anwälte, die sich exponiert haben, um auch ihm zu helfen, heute dafür fast angreift! Und es ist ebenso unbequem, den Dichter Peter-Paul Zahl, der schändlicherweise immer noch eingesperrt ist und für dessen Freilassung viel zu wenig getan wird, dennoch zu kritisieren, weil der verbitterte Peter-Paul Zahl, der selbst nie Terrorist war, heute in seiner Kritik am Konvertiteneifer Horst Mahlers weit übers Ziel hinausschießt und Horst Mahler wie einen Verräter und Agenten behandelt. Noch ärger wäre es, sich deshalb nicht mehr für die Freilassung Peter-Paul Zahls einzusetzen.

Es ist unbequem, von all dem auch nur zu sprechen, sich in diesen ganzen Wirrwarr zu verstricken. Aber als Mensch und Antifaschist hat man keine andere Wahl. Opportunitätserwägungen dürfen nie das Entscheidende sein. Wer gegen den Terrorismus ist, der hat deshalb noch lange nicht die Pflicht zu glauben, alle Terroristen müssen Selbstmord begangen haben, und unsere Fragen verstummen zu lassen aus Angst, in schlechte Gesellschaft zu geraten. Wer wie ich entsetzt und empört war über die Meldung von Mordplänen gegen Herrn Galinski, der hat deshalb noch lange nicht die Pflicht, wenn Herr Galinski gegen deutsche Linke etwas ganz und gar Falsches und nicht zu Verantwortendes sagt, das taktvoll unwidersprochen zu lassen. Überhaupt: ich glaube, ein Antifaschist soll nie ein Anhänger der hundertprozentigen Schwarz-Weiß-Malerei sein. Er soll auch nie jeden Andersdenkenden gleich für einen Feind oder für einen Menschen zweiten Ranges halten. Er soll die eigene Schwäche nicht durch Selbstgerechtigkeit und Überschätzung der eigenen Theorien ausgleichen wollen.

Wir haben wieder einmal genausoviel theoretische Arbeit nachzuholen wie praktische, dabei können wir uns weder expertengläubigen Professionalismus noch dümmlichen Antiprofessionalismus und Anti-Intellektualismus leisten, der nur das Gegenstück dazu ist, der Pendelausschlag nach der anderen Seite. Und wir dürfen auch nicht glauben, dass neue wichtige Erkenntnisse immer gerade nur bei jenen antifaschistischen Genossen auftauchen können, die uns ohnehin schon sympathisch sind. Und ohne Zusammenwirken von Politik, Psychologie, Ökologie und vielen anderen Faktoren geht es überhaupt nicht weiter. Das wussten wir schon einmal, zur Zeit Herbert Marcuses und der Studentenbewegung, aber wir haben viel vergessen und müssen uns an vieles erinnern und vieles neu lernen. Vor allem aber, dass es auch gegen Entfremdung und Verdinglichung in den eigenen Reihen, auch in uns selbst, gehen muss.

Quelle: Junge Kirche. Eine Zeitschrift europäischer Christen, 2/79, Februar 1979 - 40. Jahrgang, S. 50ff.

Veröffentlicht am

30. Dezember 2008

Artikel ausdrucken

Weitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von