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Sinn sozialistischer Politik - Eigenschaften eines Sozialisten

Der evangelische Theologe Helmut Gollwitzer ist am 29. Dezember 1908, also vor genau 110 Jahren geboren worden. Gollwitzer, im Oktober 1993 im Alter von fast 85 Jahren verstorben, trat nach der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933 entschieden für die "Bekennende Kirche" ein und war später unter anderem engagierter Wegbegleiter der Studentenbewegung wie der sozialen Bewegungen der 1970er und 80er Jahre. In der Lebenshaus-Website erinnern wir an ihn durch die Veröffentlichung verschiedener Predigten, Reden und Artikel. Nachfolgend eine Würdigung durch Wolf-Dieter Narr und Klaus Vack, die sie vor 40 Jahren zu Helmut Gollwitzers 70. Geburtstag im Jahr 1978 verfasst haben.

Sinn sozialistischer Politik - Eigenschaften eines Sozialisten

Zu Helmut Gollwitzers 70. Geburtstag

Von Wolf-Dieter Narr/Klaus Vack

… Wenn wir über Gollwitzer reden, warum und in welcher Weise wir an ihm erfahren haben, dass es Sinn macht, sozialistische Politik in der Bundesrepublik zu betreiben, dann geschieht dies zugleich aufgrund der Erfahrung, dass sich der Sinn sozialistischer Politik nicht allein über eine objektive Analyse der herrschenden Verhältnisse erschließt. So wichtig und unabdingbar eine nüchterne Analyse auch ist, so sehr gerade auch Gollwitzer betont, dass eine systematische, an Marx anknüpfende Analyse der herrschenden Verhältnisse Voraussetzung allen angemessenen Verhaltens sei, Analyse selbst weist nicht den Weg und macht nicht gehen; sie kann auch die herrschenden Verhältnisse noch mehr steinern erscheinen lassen als sie ohnehin sind; sie verführt allzu oft auf den Pfad der Resignation. Der Sinn sozialistischer Politik erschließt sich vor allem durch die Eigenschaften von Sozialisten, die man ansatzweise jedenfalls erfährt, wenn man sich bemüht, Sozialist zu werden. Man "ist" bekanntlich kein Sozialist. Man kann es allenfalls werden in täglicher Realisation, mühe-, aber auch lustvoll zugleich.

Über Gollwitzer als Sozialist kann man nicht reden, ohne davon zu sprechen, dass Gollwitzer Sozialist ist als ein Christ. "Muss ein Christ Sozialist sein?", so fragt Gollwitzer selber und gibt eine eindeutige Antwort: Ja. Gilt aber auch das Umgekehrte? Gollwitzer kann es letztlich nicht anders denken, nur beobachten und tolerieren, dass es anders vorkommt. In jedem Fall gilt für ihn: er ist nicht Christ, weil er Sozialist ist, sondern er ist Sozialist, weil er Christ ist, wenn die Frage nach dem Ursprung überhaupt von Interesse ist. Die Freiheit eines Christenmenschen in der Interpretation Karl Barths und die Lehre vom Reich Gottes sind deshalb für Gollwitzer so wichtig. Daraus versteht sich seine Freiheit zum Handeln, ohne letzte Angst, sondern allenfalls mit vordergründigen Ängstlichkeiten. Daraus ergibt sich, dass Gollwitzer für die Revolutionierung der herrschenden Verhältnisse eintritt, weil sie humane Verwirklichung immer weniger zulassen, sich aber nicht auf einen Weg, auf ein Programm dogmatisch fixiert, auch nicht davon ausgeht, als könne man "auf Erden" eine human-heimatliche Gesellschaft perfekt hinstellen. So lässt sich also Gollwitzer nicht spalten in einen christlichen Gollwitzer hier, einen sozialistischen dort. Beide gehören programmatisch und praktisch zusammen, sie bestimmen gleichzeitig Gollwitzers Eigenart, das, was man Identität zu nennen beliebt.

Dennoch werden wir auf die christlichen Begründungen Gollwitzers nicht eingehen. Wir scheuen davor zurück, weil wir selbst "religiös unmusikalisch" sind, um eine Formulierung Max Webers aufzunehmen. Dass wir uns in dieser Weise beschränken, bedeutet nicht, dass wir verkennten, wie sehr uns christliche, urchristlich lebendig gebliebene und immer erneut repräsentierte Hoffnung, wie sie nicht zuletzt von Gollwitzer formuliert und verkörpert wird, nachhaltig beeinflusst hat. Außerdem muss es wohl betont werden, obwohl es sich von selbst verstehen sollte, dass ein Christentum solcher Art nicht nur gelegentlich als ein Bündnispartner sozialistischer Praxis in Frage kommt.

Nennen wir nun, dem politischen Weg Gollwitzers folgend, einige Gründe und Orientierungen, auch in dieser Republik, die einem den Sozialismus gründlich verleiden kann, dennoch Sozialist zu sein.

  1. Wer Sozialist zu sein versucht, weil man damit Erfolg hat, kommt kaum weit damit. Sozialist werden kann man nur, weil man Not und Inhumanität erfahren hat, weil man weiß, wie wichtig auch ein kleines Scherflein Hilfe sein kann, weil man um die befreiende und notwendige, nämlich Not wendende Wirkung der Solidarität weiß. "Befreiung zur Solidarität" heißt es bei Gollwitzer. Sozialist wird man, weil man davon überzeugt ist - sich dabei aber immer erneut prüft, vor allem Programm und Praxis überprüft -, dass nur mit Hilfe einer sozialistischen Gesellschaft das an Humanität verwirklicht werden kann, was möglich und nötig ist. Sozialismus aber, das wusste schon Thomas Morus und ist in zahllosen Revolutionen seit dem Bauernkrieg formuliert worden, ist eine Gesellschaft, in der die Menschen nicht in Privatmenschen und soziale Rollenspieler geteilt werden, in der nicht alles am Geldwert gemessen wird. "Mir erscheint es so", so heißt es in Morus Utopia am Beginn, "dass wo immer Menschen Privateigentum besitzen und alles nach seinem Geldwert messen, eine gerechte und glückliche Gemeinschaft nicht möglich ist - allenfalls trifft man dort Gerechtigkeit an, wenn man darunter eine einseitige Verteilung versteht, eine Gesellschaft, in der nur wenige besitzen und sich ausleben können."
  2. Sozialist wird man nicht aus uneigennützigen Gründen, kann es in jedem Fall nicht auf die Dauer uneigennützig bleiben. Der Versuch, Sozialist zu sein oder zu werden, lohnt um des eigenen Selbst willen. Wie unfrei muss jemand sein, müssen Gruppen, Organisationen und einzelne sein, wenn sie wenigstens ein wenig Herr spielen müssen und Knechte brauchen, um sich "wohl" zu fühlen. Gesellschaften und einzelne, die Unterdrückung und Ungleichheit brauchen, um Bestand zu haben, sie leben dauernd in Unsicherheit, Unfreiheit und Angst, selbst wenn sie noch so wohlständig sind. Wer aber keinen Knecht braucht, um frei zu sein, wer niemand unterdrücken muss, um sich stark zu fühlen, der erlebt und lebt von der Freiheit eines Sozialisten. In diesem Sinne gibt es auch in herrschafts- und ungleichheitsüberladener Zeit eine Lust, Sozialist zu sein.
  3. Wer Sozialist zu sein versucht, lebt nicht angstfrei. Er weiß auch, dass Niederlagen "normaler" sind als Siege. Letztere stellen sich selten ein. Ernst Bloch hat einmal davon gesprochen, Gollwitzer zitiert dies auch, dass auf tausend Niederlagen nur eine Handvoll einigermaßen geglückte Revolutionen kommen. Wer auf große Veränderungen starrt, so verständlich solches Harren ist, der wartet in der Regel vergeblich. Nur in alltäglicher Humanität, dem Versuch dazu, schafft man es, sich an den eigenen Haaren aus dem resignativen Sumpf zu ziehen. Dazu gibt es keine Alternative. Münchhausen in humaner Anstrengung und kollektiv. Es sei denn, man wähle doch das Linsengericht der Herrschenden oder versuche, sich klein und privat fein zu machen.
  4. Zentral ist der Versuch, sich kontinuierlich zu verhalten. Keine Trennung in Feierabendsozialisten, vielleicht durchaus engagiert und ernstzunehmend, in Hochschullehrer, Sozialarbeiter, Bandarbeiter und Freund, Ehemann und Privatmensch. Wir alle rationalisieren zu viel, erfinden Ausreden; wir alle werden mit den verschiedenen Rollen, die wir hier und dort, bald so oder so spielen, nicht mehr fertig. Gerade darum ist es notwendig, sich selbst zusammenzuhalten, nicht seine verschiedenen Teile sich selbst entfremden zu lassen. Die bestehenden Verhältnisse funktionieren dadurch, dass sie die Leute auch in sich selbst spalten, bald dieses, bald jenes Bedürfnis halb befriedigen, aber die Person insgesamt immer zu kurz kommen lassen. Man muss dieses eigene Kontinuum anstreben, täglich. Von Gollwitzer kann man da lernen. Er hat keine Berührungsangst, spricht bald zu dieser, bald zu jener Gruppe. Aber er spricht nicht opportunistisch, sondern wie er am Grab von Ulrike Meinhof formulierte: "mit eigenen Worten".
  5. Sozialistisches Programm und sozialistisches Handeln muss immer versuchen, konkret zu bleiben, auch wenn es einen großen und weiten Horizont hat und letzteren nie verlieren sollte. Gegen alles, was da in abstrakten und großen Anforderungsstiefeln einherschreitet, empfiehlt sich Ideologieverdacht im Marx’schen Sinne. "Die" Partei hat nie immer recht, auch nicht "die" Opfer heischende Weltrevolution, auch nicht "die" Klasse, die Sowjetunion oder ein anderes Abstraktum im glänzenden Gewande, durch dessen Glänzen man über Herrschaftsinteressen hinweggetäuscht werden soll. Die Schule des Misstrauens gegen all die abstrakt aufgebauschten und blindes Vertrauen, blindes Opfer heischenden Anforderungen dürfen Sozialisten nicht verlassen. Eine Dauerdelegation gibt es nicht. Kontrolle an dem, was angesichts der bestehenden Umstände human zu leisten ist, ist in der Tat besser. Deswegen müssen auch dauernd - selbstverständlich nicht in Geldwerten gerechnet - die sozialen und humanen Kosten kalkuliert, müssen Alternativen, die diese Kosten verringern könnten, erwogen werden. Die Überlegung des Zusammenhangs zwischen Ziel und Mitteln hat hier ihren Ansatz. Wenn man in dieser Weise konkret bleibt und nie auf die Dauer und sei es an die stärkste aller Parteien delegiert, auch dann lassen sich Irrtümer, Fehler und falsche Kalkulationen nicht ausschließen. Jedoch: aus solchen Fehlern kann man lernen und nichts bricht zusammen, wenn man einen Irrtum findet und eingesteht.
  6. Die Forderung, verlässlich zu arbeiten, erscheint betulich, altväterlich gar. Und dennoch ist sie, trägt man "seinen" Sozialismus nicht bloß wie eine Fahne vor sich her, unabdingbar. Nicht nur muss man mit den eigenen Pfunden (Fähigkeiten) wuchern, sie gezielt einsetzen und doch dauernd zum Einsatz bereit sein. Gollwitzer liefert auch hierfür ein treffliches Beispiel. Vielmehr darf man auch nicht warten, bis andere etwas tun. Ausschlaggebend aber ist, dass man begreift, wie sehr verlässliche Arbeit in die Tat umgesetzte Solidarität bedeutet. Solidarität bedeutet vor allem, dass sich andere, die Gruppe, in der man arbeitet, die einzelnen, deren Menschenrechte verletzt werden, sich auf einen verlassen können. Dass man das Übernommene ausführt, sich an Verabredungen hält.
  7. Sozialist zu sein, zu werden, heißt riskieren, dass einem viele, fast alle, die es in dieser Gesellschaft zu etwas gebracht haben oder bringen wollen, für einen komischen Kauz halten. Sozialist zu sein versuchen, heißt zugleich, dass man Liebesverlust, Chancenverlust riskiert. Denn man muss oft, ja meist hart kritisieren, muss gegen bestimmte Interessen verstoßen, Regeln verletzen. Dennoch ist es erforderlich, dass man sich auch über seine Gegner Gedanken macht und ihre Menschlichkeit achtet, auch dort, wo sie unmenschliche Verhältnisse verstärken. Außerdem bedarf es der Toleranz. Nicht einer, die unparteilich oder "pluralistisch" andere Positionen, als handele es sich um Geschmäcker, beliebig gelten lässt. Wohl aber ist eine Toleranz erforderlich, die andere Positionen, auch andere Vorstellungen von Sozialismus nicht mit einem intellektuellen und politischen Vernichtungsdrang bekämpft. Kritische Solidarität, die den ferneren und näheren Mitstreitern gilt, bedeutet nicht, dass man Kritik in Watte packen soll. Sie bedeutet aber wohl, dass man den anderen in keiner Weise "fertig" macht, ihn trotz allen Widerstands und manchmal auch Widerwillens in seiner Art gelten lässt.
  8. Wer so Politik treibt, eckt an. Das ist unvermeidlich. Humane Politik, die man immer auch zugleich um seiner selbst willen Tat werden zu lassen sucht, steht aller Stellvertreterpolitik entgegen. Gewiss, sonst könnte man sich gleich zur Ruhe setzen, muss man zu überzeugen suchen, Einfluss nehmen, Vorschläge machen, anregen, auch zuweilen ein paar Schritte vorausgehen. Wie sollte das auch anders sein in einer Gesellschaft, die Apathie prämiert und die Leute hilflos macht, hilflos, gerade sich um ihre eigenen Interessen streitbar zu kümmern. Deswegen müssen diejenigen, die immerhin so privilegiert sind, ihre Interessen zu erkennen und ein Stück wenigstens für sie einzutreten, auch den anderen helfen. Solche Hilfe kann aber nicht bedeuten, die Interessen für die anderen unabhängig von ihrem konkreten Wollen wahrzunehmen, sondern kann nur bedeuten, die anderen zum Mitmachen zu bewegen. Man kann auch nicht für jemand anders auf die Dauer gehen, man kann nur hin und wieder etwas holen, Karten entwerfen, Wegemarken anbringen.

Es sollte hier kein Bild sozialistischer Tugenden gezeichnet werden, das unerreichbar hoch hängt. Ein solches Bild würde schnell wieder zu einem Moralkodex, der notwendigerweise doppelte Moral erzeugt. Aber doch: ein wenig hoch, über den Status quo hängen, muss man sozialistische Anforderungen, die Anforderungen an Sozialisten schon. Aber sie müssen annäherungsweise erreichbar sein. Sie dienen deshalb auch als regulative Prinzipien, als Orientierungsmarken, nicht als Tugendideale, die nur in Reinheit und Vollkommenheit glänzen. Sozialisten scheitern wie andere, erreichen auch individuell und in kleiner Gruppe oft nicht, was sie anstreben. Wichtig aber ist, dass man klare Kriterien besitzt und dass man darauf zuarbeitet, immer erneut und in täglicher Anstrengung.

Gollwitzer, von dem hier direkt und indirekt die Rede war, ist kein Tugendbold, kein Mann auf dem Podest, den man bewundern, an dem man sich selbst aber nicht orientieren kann. Irrtümer und Irrwege, die waren und sind auch gewiss bei ihm eingeschlossen. Aber Gollwitzer ist Vorbild insofern, als er den Kriterien, die wir skizzierten, gerecht zu werden versucht, nicht in einmaliger Riesenfelge, als könne man mit einem qualitativen Sprung Sozialist für immer werden und dies schweißlos bleiben. Wenn es Sinn macht, in der Bundesrepublik sozialistische Politik zu betreiben, dann nur, so scheint uns, wenn man in Spuren tritt, wie sie hier gezeichnet wurden.

Wir wissen nicht, ob Helmut Gollwitzer das alles unterschreiben würde, was wir hier mitzuteilen suchten anlässlich seines 70. Geburtstages. Aber Gollwitzer ist jemand, der es der Mühe wert findet, für eine sozialistische Gesellschaft mitten in der sozialistisch nicht verdächtigten Bundesrepublik zu arbeiten und zu streiten. Das ist vorbildhaft, das ermutigt. Das heißt: wir müssen versuchen, nicht zu weit zurückzubleiben.

Quelle: Junge Kirche. Eine Zeitschrift europäischer Christen, 1/79 Januar 1979 - 40. Jahrgang, S. 22ff.

Veröffentlicht am

29. Dezember 2018

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