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Die neue Balkanroute

Zwischen Polizeigewalt und drohendem Winter organisieren sich die vergessenen Flüchtlinge.

Von Ramona Lenz und Lukas Schmidt

Nicht nur in Mexiko haben sich Migrantinnen und Migranten in den letzten Tagen zusammengetan, um gemeinsam den beschwerlichen und gefährlichen Weg Richtung Norden anzutreten. Auch an der Grenze zwischen Bosnien und Herzegowina auf der einen und Kroatien auf der anderen Seite sammeln sich seit Ende Oktober Flüchtlinge, um kollektiv auf Durchlass zu drängen. Direkt vor dem Grenzübergang Maljevac im Nordwesten von Bosnien und Herzegowina haben sie ein Protestcamp aufgebaut und fordern "Open the Borders!" Mit diesem Camp, Protestmärschen, Sitzblockaden und Versuchen des kollektiven Durchbruchs wollen die Frauen, Männer und Kinder auf sich aufmerksam machen. Ihre Situation in Bosnien und Herzegowina ist desolat. Sie wollen nach Kroatien und damit in die Europäische Union. In Europa wie in Amerika ist die Antwort auf die Bewegung der Migration: massive Gewalt durch die Polizei und Androhung von Militäreinsätzen.

Eine neue Balkanroute?

Bis Ende September 2018 wurden über 16.000 Ankünfte von Flüchtlingen offiziell in Bosnien und Herzegowina registriert. Im Vorjahreszeitraum waren es nicht einmal 400 gewesen. Die meisten kommen aus Pakistan, Iran, Syrien und Irak. Viele sind schon seit mehreren Jahren auf der Flucht, es sind jedoch auch einige Kurdinnen und Kurden aus Afrin dabei, die vor dem militärischen Angriff der Türkei auf Nord-Syrien zu Beginn des Jahres geflohen sind.

Nach der Schließung der so genannten "Balkanroute" 2016, die vor allem über Serbien und Ungarn führte, und seitdem die türkisch-bulgarisch-griechische Evrosregion wieder verstärkt als Fluchtroute genutzt wird, ist inzwischen von einer "neuen Balkanroute" die Rede. Sie führt über Albanien und Montenegro oder über Mazedonien und Serbien nach Bosnien und Herzegowina, von wo aus die meisten weiter wollen: über Kroatien und Slowenien nach Österreich und Deutschland. Doch immer mehr Flüchtlinge stranden in Bosnien und Herzegowina, weil Kroatien ihnen Einreise und Asylantrag verweigert. Viele haben bereits mehrere brutale Pushbacks durch die kroatische Polizei hinter sich und hausen in improvisierten Lagern nahe der Grenze, von wo aus sie immer wieder versuchen, nach Kroatien zu gelangen. "The Game" nennen sie das, was alles andere als ein Spiel ist, wie die vielen teils schweren Verletzungen zeigen, die den Menschen durch Polizeigewalt zugefügt wurden. Nun naht der Winter und damit eine noch größere humanitäre Katastrophe, da die Unterbringung und Versorgung der Flüchtlinge in Bosnien und Herzegowina desaströs ist.

Winter in improvisierten Lagern

In Bosnien und Herzegowina konzentrieren sich die Geflüchteten vor allem in den Orten Velika Kladuša und Bihac, die im Nord-Westen Bosniens gelegen sind und von denen aus sie immer wieder versuchen, über die Grenze nach Kroatien zu gelangen. In diesen und anderen grenznahen Orten leben derzeit mehrere tausend Flüchtlinge. Sie erhalten kaum Unterstützung und sind größtenteils auf sich selbst gestellt.

In Bihac leben beispielsweise hunderte Menschen in einem verfallenen Betonbau, der früher als Student*innenwohnheim gedient hat. Da die Fenster nicht mehr vorhanden sind, haben sich Schlamm- und Regenpfützen gebildet. Sowohl im Gebäude als auch in den benachbarten Wiesen bauen die Geflüchteten Zelte auf. Viele schlafen auf dem nassen Boden.

In Velika Kladuša ist auf einer bereitgestellten Wiese etwas außerhalb der Stadt ein Lager aus improvisierten Hütten und Zelten entstanden, die hauptsächlich aus gefundenen Planen und Ähnlichem bestehen. Es fehlt an hinreichender Verpflegung, sanitären Anlagen und medizinischer Versorgung. Von Privatsphäre und sicheren Rückzugsorten ganz zu schweigen. Krankheiten verbreiten sich rasch; es gibt nicht genug zu essen, und es kommt auch immer wieder zu Gewalt unter den Flüchtlingen. Und nun kommt auch noch der Winter.

Mit Pushbacks die europäischen Grenzen sichern

Die Wintermonate sind in diesem Teil Südosteuropas sehr kalt. Die schon jetzt miserablen Lebensbedingungen der Menschen werden sich durch meterhohen Schnee und Minusgrade noch einmal deutlich verschlechtern. Aus dieser misslichen Lage versuchen Geflüchtete täglich zu entkommen, indem sie sich auf den gefährlichen Weg über die kroatische Grenze machen. Viele von ihnen wurden schon etliche Male von der kroatischen Polizei mit teils massiver Gewalt zur bosnischen Grenze zurückgeschafft. Über 2.500 dieser brutalen Zurückweisungen von Schutzsuchenden hat der UNHCR allein in diesem Jahr an der bosnisch-kroatischen Grenze dokumentiert. Die Pushbacks halten die Menschen jedoch nicht davon ab, es immer wieder zu versuchen.

Bosnien/Herzegowina wird nicht als sicheres Land eingestuft und hat kein funktionierendes Asylsystem. Kroatien hingegen ist Teil der EU und dazu verpflichtet, geflüchteten Menschen die Chance auf ein Asylverfahren zu geben. Trotzdem bleibt die Zahl der Menschen, die in die Aufnahmezentren gebracht werden, aufgrund der gewaltsamen Verhinderung von Asylanträgen sehr gering. Kroatien ist zwar Mitglied der EU, jedoch nicht des Schengener Abkommens, und will nun offenbar beweisen, dass es in der Lage ist, Europas Außengrenzen gegen Flüchtlinge zu schließen. In Schengen-Europa ist es offenbar leichter, mit der Abwehr verzweifelter Menschen zu punkten als mit der Einhaltung von Menschenrechten.

Von der Polizei geschlagen und ausgeraubt: Die Gewalt dokumentieren

Das von medico geförderte Aktivist*innennetzwerk Moving Europe hat einige Pushbacks dokumentiert: Gewalt durch Schlagstöcke, Einschüchterung durch Drohungen, beißwütige Hunde und Schüsse, sexuelle Übergriffe, Diebstahl von Handys und Bargeld, das Zerstören von Smartphones und Dokumenten sind an der Tagesordnung. All diese Maßnahmen werden eingesetzt, um die Menschen gewaltsam zurück an die bosnische Grenze zu bringen und sie vor einem weiteren Versuch der Grenzüberschreitung zu hindern. In einigen Fällen enden Pushbacks tödlich, wie beispielweise bei dem dokumentieren Versuch einer Grenzüberschreitung von Kroatien nach Slowenien, in der Geflüchtete aus Angst vor der Polizei in einen Fluss sprangen und ertranken, oder in dem Ende 2017 bekannt gewordenen Fall der fünfjährigen Madina Husseini aus Afghanistan, die von einem Zug nahe der serbisch-kroatischen Grenze erfasst wurde. Ihre Mutter, die mit sechs Kindern unterwegs war und Asyl in Kroatien beantragte, war von der kroatischen Polizei unter Gewaltanwendung gezwungen worden, an den Gleisen zurück nach Serbien zu laufen. Der Fall von Madina Husseini ist bis heute der einzige Fall eines Pushbacks, der vor den europäischen Gerichtshof gekommen ist. Alle anderen Geschlagenen, Gedemütigten und Bestohlenen müssen - zurück in den bosnischen Camps - darauf hoffen, dass ihre nächste Grenzüberschreitung gelingt.

Gemeinsam gegen Grenzen?

Die Regierung Bosnien/Herzegowinas hat auf die Proteste an der Grenze zu Kroatien reagiert, indem sie den Transport von Flüchtlingen in öffentlichen Verkehrsmitteln Richtung Norden untersagte. So kann verhindert werden, dass die Proteste anwachsen. Einige Flüchtlinge wurden in schleunigst eröffnete winterfeste Übergangslager bei Bihac und Sarajewo gebracht, um die Lage zu entspannen, doch die Kapazitäten waren schnell erschöpft. Die Aktivistinnen und Aktivisten von "You can`t evict Solidarity", die die Proteste vor Ort beobachteten, schreiben: "Wenn Kroatien und Europa nicht dem Recht der Protestierenden vor der Grenze, einen Asylantrag stellen zu dürfen, entsprechen, dann werden hier im Winter Menschen erfrieren."

medico fördert seit 2015 ein transnationales Netzwerk von Aktivisten und Aktivistinnen, die unter dem Namen "Moving Europe" zusammen getan haben und Flüchtlinge entlang der sogenannten Balkanroute unterstützen. Noch immer sind einige von ihnen entlang der Fluchtroute durch Südosteuropa solidarisch aktiv. Derzeit arbeiten sie an der interaktiven Plattform "Pushback-Mapping". die in Kürze online gehen wird. Darauf werden die beschriebenen Rechtsbrüche und die systematische Gewalt an Europas Grenzen visualisiert, einfach um das Unrecht öffentlich zu machen, aber auch um mithilfe der Dokumentation eventuelle spätere Klagen und Asylverfahren zu unterstützen.

Quelle: medico international - 07.11.2018.

Veröffentlicht am

13. November 2018

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