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1988: Algerischer Herbst

Ein Aufstand der städtischen Jugend entfesselt eine Dynamik der Demokratie, die das Einparteiensystem ins Wanken und die Staatspartei FLN um ihre Hegemonie bringt

Von Sabine Kebir

Wer meint, der Umbruch, bei dem die meisten sozialistisch-totalitären Regierungsformen durch Systeme der bürgerlichen Demokratie ersetzt wurden, habe im Herbst 1989 mit dem Mauerfall begonnen, liegt nicht richtig. In der Demokratischen Volksrepublik Algerien fand das ein gutes Jahr vorher statt. Es gab einen "regime change", der nicht auf Einmischung von außen beruhte.

Allerdings gab es indirekt äußere Einflüsse. Seit 1981 waren die Erdölpreise auf dem Weltmarkt gesunken. 1986 kostete ein Barrel (159 Liter) weniger als zehn Dollar. Algerien, das mit seiner Erdölrendite einen sozialistischen Wohlfahrtsstaat aufbaute, musste sich beim Internationalen Währungsfonds (IWF) verschulden und mit Reformen beginnen. Sie zerstörten die Illusion, mit der 1962 errungenen Unabhängigkeit würden sich die Lebensbedingungen stetig verbessern. Es kam zu Massenentlassungen aus unrentablen Großbetrieben. Dass sich die Bedingungen für private Unternehmen verbesserten und die Reprivatisierung des Bodens eingeleitet wurde, konnte den Verfall des Sozialstaates nicht kompensieren. Besonders gravierend war die Perspektivlosigkeit der Jugend.

Einigen gingen die Reformen nicht schnell genug. Teile der Einheitspartei FLN und etliche illegale Gruppen bremsten sie: Kommunisten organisierten Streiks, Islamisten Parallelgewerkschaften. Die Führung unter Präsident Chadli Bendjedid hatte verstanden, dass eine liberalisierte Wirtschaft eine gewisse Liberalisierung des politischen Lebens nach sich ziehen musste, weshalb das Vereinsrecht etwas gelockert wurde. Nachdem Mitte der 1980er Jahre zwei Versuche gescheitert waren, dass Menschenrechtsgruppen anerkannt wurden, gelang es 1987, die Ligue Algérienne des Droits de l’Homme (LAHD) zu gründen. Generalsekretär war der seinerzeit nobelpreisverdächtige Autor Rachid Boudjedra. Es gelang der Liga, politische Gefangene freizubekommen. Nur erwies es sich als verhängnisvoll, dass Präsident Bendjedid deren Gründung öffentlich begrüßt hatte. So wurde der Verein wegen angeblicher Staatsnähe weder von Amnesty International noch von der Internationalen Liga für Menschenrechte anerkannt.

Dann brachen am 4. Oktober 1988 Schülerunruhen aus, die in der darauffolgenden Nacht zu größeren Tumulten von Jugendlichen in Bab El Oued führten, einem der zentralen Bezirke von Algier. Da die Ordnungskräfte unvorbereitet waren, gelang es Jugendtrupps in den nächsten Tagen, große Teile der Hauptstadt unter ihre Kontrolle zu bringen. Sie besetzten Ministerien und warfen medienwirksam Akten aus den Fenstern. Am 6. Oktober trat der Ausnahmezustand in Kraft und rechtfertigte, dass gut 10.000 Soldaten in Algier einrückten. Obwohl der Aufstand auf andere Städte übergriff, war er von keiner politischen Strömung organisiert. Jedoch versuchten sämtliche Oppositionsbewegungen, ihn sofort zu instrumentalisieren. Islamistische Prediger wie Ali Benhadj und Abassi Madani, künftiger Sprecher der Islamischen Heilsfront (FIS), riefen zum Dschihad gegen das angeblich unislamische FLN-Regime auf. Allerdings waren bei den Protestmärschen noch keine islamistischen Slogans zu hören, sondern klare soziale Forderungen nach Wohnraum, Arbeit und einem Ende der Mangelwirtschaft. Schnell gab es Tote und Verletzte, wobei eine Demonstration am 10. Oktober zum Albtraum wurde. Sicherheitskräfte schossen in die Menge und kesselten sie ein. Über eintausend junge Algerier wurden in Haftzentren interniert und dort gefoltert. Mutmaßlich bis zu 500 Jugendliche kamen in dieser Phase des Aufbegehrens ums Leben.

Zunächst war der Aufruhr erstickt, doch verfiel die algerische Gesellschaft keineswegs in Schockstarre und ließ sich auch durch ein plötzlich erweitertes Warenangebot nicht besänftigen, das aus Vorratslagern der Armee stammte. Da der Ausnahmezustand verhängt war, konnten Oppositionskräfte zwar nicht zu großen Meetings aufrufen, doch sich darüber verständigen, wie und mit welchen Forderungen sie an die Öffentlichkeit gingen. Schon am 9. Oktober ließen die Kommunisten eine Liste der Verhafteten zirkulieren. Die Menschenrechtsliga LAHD verfasste, unterstützt von etlichen Ärzten, einen Report über Folterpraktiken, ergänzt durch Berichte eines Komitees für die nationale Mobilisation gegen die Folter, das schon bald eine Untersuchungskommission verlangte.

Der Widerstand gegen das Vorgehen von Armee und Polizei erfasste ebenso einen Großteil der Justizbeamten, die erklärten, nicht unabhängig genug zu sein, um Prozesse gegen die Verhafteten durchzuziehen. Am 15. Oktober kamen gut 500 Minderjährige wieder frei. Weil jedoch Repressionsapparat und Politik nicht synchron liefen, kam es bald zu weiteren Verhaftungen und Folterungen.

Während die Presse die Unruhen zunächst als Vandalismus angeprangert hatte, gründete eine Mehrheit der Journalisten noch während des Aufstands einen Verein, der auf Meinungs- und Pressefreiheit bestand, gegen Folter protestierte und beschloss, darüber zu berichten. Ende Oktober begann sich die Presse vom Regime zu emanzipieren, wodurch sich die Zivilgesellschaft ermutigt fand. Es wurden zusehends Stimmen laut, dass gesellschaftliche Konflikte nicht mit Gewalt, sondern nur durch demokratisches Aushandeln zu lösen seien. Die Protest- mündete in eine Demokratiebewegung. Nicht nur Journalisten, auch andere Berufsorganisationen, dazu die Gewerkschaften und der Studentenbund UNJA, drängten darauf, aus der Vormundschaft der FLN entlassen zu werden. Dank der politischen Liberalisierung hoffte man auf Korrekturen einer als chaotisch empfundenen ökonomischen Liberalisierung. Sollte es gelingen, Entscheidungsträger abzuwählen, käme die Wirtschaft wieder in Schwung, so die Überzeugung.

Die Führung der FLN zeigt sich konziliant und zu schnellem Handeln entschlossen. Zunächst werden Parteikader und Minister ausgewechselt. LADH-Mitbegründer Ali Benflis, ernannt zum Justizminister, verspricht, dass die Folterer juristisch belangt würden. Und Staatschef Chadli Bendjedid will als großer Liberalisierer in die Geschichte eingehen und kündigt für den 3. November 1988 ein Referendum an, mit dem über eine Trennung der Ämter des Präsidenten und Regierungschefs abgestimmt werden soll. Der Ende November stattfindende VI. Parteitag der FLN beschließt auf seinen Vorschlag hin, die Kontrolle der Regierung und der Massenorganisationen aufzugeben. Die Partei soll sich wie einst im Unabhängigkeitskampf wieder unterschiedlichen Strömungen öffnen.

Dieser Weg zu mehr Pluralismus erinnert an den späteren Wandel der KP Chinas, die sich nicht mehr nur als Partei der Arbeiter und Bauern verstand, sondern auch Unternehmer in ihre Reihen aufnahm. Für Algerien ergibt sich eine andere Perspektive. Sei es, dass der Druck, ein dem Westen ähnliches Mehrparteiensystem zu errichten, heftiger ist als dann in China, sei es, dass die FLN ihren in den 26 Jahren Unabhängigkeit erlittenen Prestigeverlust nicht kompensieren kann. Jedenfalls stimmt das algerische Volk am 23. Februar 1989 für eine Verfassung, mit der eine pluralistische Ordnung etabliert wird.

Aber die Oktoberforderungen der Jugend sind damit nicht erfüllt. Die entfesselte Dynamik der Demokratie entgleist nach den ersten Parlamentswahlen 1991, als die Islamische Heilsfront (FIS) gewinnt. 1992 beginnt ein brutal geführter Bürgerkrieg, bei dem nun auch das Ausland mitmischt, vornehmlich die Arabische Halbinsel, zunächst unterstützt von der EU, bis auch sie Opfer islamistischen Terrors aus Algerien wird. Der Kampf um die Menschenrechte wird in dieser dunklen Zeit ebenso erhalten bleiben wie die Freiheit der Presse, die viele Journalisten das Leben kostet. Heute ist die Enttäuschung über das begrenzte Leistungsvermögen der bürgerlichen Demokratie in Algerien größer als in Europa. Aber zerstören lässt sie sich nicht mehr, nur noch verbessern.

Quelle: der FREITAG vom 16.10.2018. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

18. Oktober 2018

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