Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

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Brutalität als Staatsräson

Von Georg Rammer

Für die Migrationsforscherin Naika Foroutan, Professorin an der Berliner Humboldt-Universität, entwickelt sich die deutsche Gesellschaft in eine präfaschistische Richtung: "Wir sind vorbereitet für die moralische Verwahrlosung des Faschismus, der kommen könnte" (Tagesspiegel, 22.7.18). In ihren Äußerungen wird das Entsetzen über eine öffentliche Diskussion spürbar, die die Frage aufwirft, ob man Menschen retten darf, die im Mittelmeer auf der Flucht ertrinken. Wird in der brutalen Haltung und Handlung von Politikern nicht eine Entwertung des Lebens, eine Entmenschlichung erkennbar, wenn sie die Flüchtlinge zu Invasoren und Feinden erklären und deren Sterben als Abschreckung einsetzen?

Die Unmenschlichkeit und Menschenverachtung, die unsere "Wertegemeinschaft" jahrelang in Form von Kriegen und Ausbeutung in den Nahen Osten und in zahlreiche Länder des Südens exportiert hatte, sie sind jetzt mitten unter uns. Mauern und rasiermesserscharfe Stacheldrahtzäune sollen die Festung Europa schützen; Tausende von Familien werden in Lagern zusammengepfercht und jeder Form von Gewalt und Sklaverei preisgegeben. In den USA wurden Kinder auf staatliche Anordnung ihren geflohenen Eltern entrissen. Die EU untersagt und verhindert die Rettung schiffbrüchiger Flüchtlinge und sorgt dafür, dass den Tausenden von Verdurstenden in der Wüste keine Hilfe zuteilwird. Die Gleichgültigkeit den Todgeweihten gegenüber wird zur Staatsräson, Mitleid und Hilfsbereitschaft werden zu kriminellen Akten erklärt und bestraft. Es fehlen angemessene Worte, um diese enthemmte staatliche Verrohung und bürokratische Unmenschlichkeit zu beschreiben und zu bewerten. Politiker dieser "Wertegemeinschaft" geben vor, mit ihrer Brutalität Probleme zu bekämpfen - Probleme, die sie selbst ständig erzeugen und reproduzieren.

Eine fundierte Analyse der Ursachen von Elend und Flucht seitens der EU-Kommission, der Bundesregierung oder der sie tragenden Parteien sucht man vergebens. Aber sie rüsten auf. Planungspapiere der NATO und der Bundeswehr lassen eine Strategie zur militärischen Eindämmung der Folgen imperialer Politik erkennen. Müßig ist auch die Suche nach qualifizierter staatlicher Forschung zu den Hintergründen wachsender Feindseligkeit, "verrohter Bürgerlichkeit" (Wilhelm Heitmeyer) und des rechten Terrors. Gibt es dafür etwa soziale Gründe? Eine große Mehrheit der Bevölkerung will offenkundig bezahlbare Mieten, gute Pflege, sichere Renten und Steuergerechtigkeit; sie spricht sich gegen Auslandseinsätze der Bundeswehr aus. Diese Mehrheiten werden ignoriert. Der Staat und seine tragenden Parteien und Interessenverbände "bekämpfen" lieber den Rechtsextremismus, indem sie dessen Forderungen zu ihren eigenen machen und in Teilen umsetzen. Umgekehrt übernimmt die rechtsradikale AfD in der Wirtschaftspolitik die neoliberale Regierungsagenda in ihr Programm.

Mittlerweile besteht ein breiter Konsens darüber, dass die neoliberale Radikalisierung des Kapitalismus eine krasse Ungleichheit geschaffen hat. Dennoch ist bei diesen Problemen keine Änderung in Sicht - ganz im Gegenteil. Austeritäts- und Freihandelspolitik, Strukturanpassungsprogramme des Internationalen Währungsfonds (IWF), die Investitionsförderung zugunsten der Agrar-, Chemie- und Energiebranche et cetera sorgen für mehr globale Ungleichheit. Sogar Initiativen von Nichtregierungsorganisationen und Parlamenten werden hintertrieben und trickreich verhindert. Ein aufschlussreiches Beispiel der kriminellen Energie der Konzerne beim Steuerbetrug unter tätiger Beihilfe der deutschen Politik beschreibt Wolfgang Michal in dem Beitrag "Minister der Diebe" (Freitag, 31/18). Unmöglich, all die aktuellen Beispiele politisch geschaffener Ungerechtigkeit im Gedächtnis zu behalten, etwa die staatliche Förderung der Machenschaften der Autoindustrie, die Verhinderung der Finanztransaktionssteuer und der Austrocknung der Steueroasen oder der Verpflichtung der Konzerne auf Einhaltung der Menschenrechte. Bei all diesen Themen handeln Bundesregierung und EU gegen die Interessen den ausdrücklichen Willen der Bevölkerung. Stärkt das die demokratische Willensbildung, oder wird sie verhöhnt? Können die Menschen das Gefühl haben, in grundlegenden Themen Einfluss nehmen zu können?

Die parlamentarische Demokratie wird längst abgeräumt von den und für die herrschenden Konzerninteressen, denen die Demokratie ohnehin nur lästige Schranke ist, aber auch von den neoliberalen Polit-Eliten als ihren Verbündeten und radikalisierten Teilen der Mitte der Gesellschaft. Diese reagieren ihre Abstiegsängste, ihre Enttäuschung und Ohnmacht, das Gefühl von Demütigung und Abwertung in Form von Fremdenfeindlichkeit und Gewalt ab. Die Stimmung wird zunehmend aggressiv und feindselig, und sie sucht sich Feinde zum Ausagieren. Die Feindbilder sind beliebig - und sie werden von Politik und Medien nicht nur nicht verhindert, sondern sogar angeheizt: Solange das funktioniert und Muslime oder Flüchtlinge Objekte des Hasses sind, haben die Eliten in Wirtschaft und Politik freie Hand und müssen nicht befürchten, wegen ihrer neoliberalen Ziele und Beschlüsse attackiert zu werden.

Die Durchschlagkraft neoliberaler Ideologie, ihr totalitärer Anspruch, zeigt sich auch in der Zurichtung der Seele. Der Alltag bietet Beispiele genug, aber auch wissenschaftliche Studien liefern Belege. So haben etwa zwei britische Psychologen in einer Übersichtsstudie gezeigt, dass der Neoliberalismus als treibende Kraft bei nach 1989 geborenen jungen Leuten den Konkurrenzkampf stetig erhöht, Kooperation verhindert und dafür gesorgt hat, dass der Selbstwert vom beruflichen Erfolg abhängt. Bei einer wachsenden Gruppe dominiert das Gefühl von Wertlosigkeit, Scham, sozialer Entfremdung, aber auch eine neurotische Tendenz zur ständigen Selbstüberprüfung. Der allumfassende Wettbewerb, die Notwendigkeit der Selbstdarstellung bewirken vermehrt psychische Krankheiten. In einem Klima von Misstrauen und Feindseligkeit ist keine gesunde Selbstwahrnehmung möglich, Solidarität bleibt ein Fremdwort. Eine Zusammenfassung der Ergebnisse stellt Meagan Day dar: Im Neoliberalismus darfst du dein eigener Chef sein .

Während der permanente Wettbewerb der Ichlinge als eine Folge der totalen Durchdringung aller Lebensbereiche durch neoliberale Vermarktungsideologie begriffen werden kann, reichen die Wurzeln von weit verbreitetem Vertrauensverlust und von Empathielosigkeit tiefer. In einem System, in dem nicht StaatsbürgerInnen souverän über ihr Schicksal bestimmen, sondern wirtschaftliche Interessen anonymer Kapitalisten und ihrer Verbände, verlieren sie zunehmend das Gefühl, selbstbestimmt und selbstwirksam leben zu können. Grundlegend ist ferner die Erfahrung von Kindesbeinen an, dass Kommunikation nicht der Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen, sondern vor allem der Beeinflussung, der Manipulation, dem Benutzen von Gefühlen für fremde Interessen dient. Beziehungen, Gefühle, Wahrhaftigkeit werden Mittel zum Zweck. Kein Kind im Schulalter wird noch denken, die Bilder der Werbung und die in Mimik, Gestik und Tonfall gezeigten Gefühle wie Freude, Liebe oder Intimität seien echt und wahr. Ebenso wenig nimmt der Normalbürger politische Aussagen der Parteien, die die Dominanz über die Willensbildung zu erlangen suchen, für bare Münze. So bestimmt eine Fake-Reality unser Leben, unterstützt von Medien, die nicht primär umfassender Berichterstattung, sondern der Meinungsmache dienen.

Der Staat und besonders die bürgerlichen Parteien werden nicht müde zu behaupten, dass wir in einem sozialen Rechtsstaat leben und sie mit aller Kraft auf Frieden und Durchsetzung der Menschenrechte in aller Welt hinarbeiten. Dafür seien umfassende Überwachung und militärische Ausrüstung der Polizei notwendig. Die Nachrichten über Armut, Wohnungsnot, Waffenlieferungen in Kriegsgebiete und Flüchtlingselend strafen sie Lügen; diejenigen, die die Lügen anprangern, sind als Staatsfeinde gebrandmarkt, gegen sie werden Staatsschutz und Polizei eingesetzt. Der tiefe Widerspruch zwischen den Behauptungen und der persönlichen Erfahrung erinnert an die Doppelbindungstheorie der Psychiatrie: Widersprüchliche Botschaften bewirken eine Konfusion, sie machen die Betroffenen verrückt. Denn welchem Teil der Botschaft soll ich vertrauen? Glaube ich der offiziellen Versicherung, verleugne ich mich selbst. Nehme ich aber meine Erfahrung ernst, werde ich zum Feind. Wir kennen das: Versprochen wird die lückenlose Aufklärung der Morde unter staatlicher Aufsicht, während in Wirklichkeit der tiefe Staat weiter ausgebaut wird. Und während die Kanzlerin angeblich für humane Grundsätze kämpft, erfolgt die militärische Abschottung der EU in Afrika, werden in Libyen KZ-ähnliche Lager errichtet.

Die aggressive Menschenfeindlichkeit ist kein Monopol von Trump, Orbán, Kurz oder Salvini. Sie exekutieren und spitzen zu, was im marktradikalen Verwertungsziel des Systems angelegt ist. Den Faschismus trägt der neoliberale Kapitalismus in sich - das wusste sogar die CDU und schrieb es 1947 in ihr Ahlener Programm. Oliver Nachtwey zitiert in seinem lesenswerten Beitrag "Entzivilisierung" (in: "Die große Regression", Suhrkamp 2017) aus den "Studien über die Deutschen" von Norbert Elias: "Daher kämpfen Machteliten, herrschende Klassen und Nationen im Namen ihrer überlegenen Werte, ihrer überlegenen Zivilisation oft mit Methoden, die den Werten, für die sie einzutreten behaupten, diametral entgegengesetzt sind. Mit dem Rücken zur Wand werden die Verfechter leicht zu den größten Zerstörern der Zivilisation. Sie werden leicht zu Barbaren." Nichts weniger als das steht auf dem Spiel. Dem gilt es Widerstand entgegenzusetzen.

Quelle: Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik, Kultur, Wirtschaft , 16/2018. Wir veröffentlichen den Artikel mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

05. September 2018

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