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Nach der Pogromstimmung und den Jagdszenen in Chemnitz muss ein ganzes System auf den Prüfstand

Von Sabine Kebir

Dass es bei Volksfesten zu Messerstechereien kommt, ist kein neues Phänomen. Auch keines, bei dem Ausländer oft die Hauptrolle spielen. Dies gilt ebenso für Beziehungstaten. Und dennoch - wenn Nichtdeutsche in solche Verbrechen verwickelt sind, beschäftigen sich die Medien länger und intensiver damit und bieten immer wieder gleiche Klischees zur Erklärung an. So sollen Muslime nicht nur "Messerstecher" und prädestiniert für "Ehrenmorde" in ihrer Community sein, sondern prinzipiell keine Fairness gegenüber deutschen Frauen aufbringen können. Und wenn Parteien wie die AfD diese Klischees in den Rang einer Völkerpsychologie erheben und zu ihrem Hauptthema machen, kann ein Vorkommnis wie das in Chemnitz mittlerweile Massenpogrome gegen "undeutsch" aussehende Menschen auslösen.

Nachdem es dort in der Nacht zum Sonntag am Rande des Stadtfestes zu einem Totschlag gekommen war, an dem, wie die Polizei zunächst meldete, "Angehörige mehrerer Nationalitäten" beteiligt waren, und ein Deutscher starb, riefen die sogenannten sozialen Medien in Windeseile zum kollektiven Protest der Alteingesessenen auf. Die sollten kundtun, wem in der Stadt das Sagen zukommt. Die Provider, die eigentlich verpflichtet sind, Hassbotschaften zu löschen, erwiesen sich als überfordert. Dass es nicht nur um das Sagen, sondern auch ums Tun ging, zeigte sich, als am Tag darauf ein Mob von mehreren hundert Gewaltbereiten Jagd auf Chemnitzer Menschen machte, deren Äußeres nicht dem entsprach, was Rassisten für deutschen Standard halten.

Damit beginnt der eigentliche Skandal. Sowohl die sächsische als auch die Bundespolitik scheinen keinen blassen Schimmer vom Ausmaß zu haben, das der Fremdenhass inzwischen angenommen hat. Und ebenso wenig wissen sie den Erfolg einzuschätzen, den seine Instrumentalisierung für die AfD bedeutet. Die kann mittlerweile die Puppen tanzen lassen, zugleich ihr Bedauern über Gewaltexzesse äußern und zur Mäßigung aufrufen. Sie weiß nur zu gut: Bei nächster Gelegenheit ist Ähnliches möglich.

Besonders sollte zu denken geben, dass die Gewalt nicht von denen ausging, die gemeinhin das Bild der Pegida- und AfD-Aktivisten prägen: biedere Rentner, denen die DDR mit ihrer Geborgenheit und ihrem Provinzialismus noch in den Knochen steckt. Nein, es waren junge, größtenteils nach dem Systemwechsel geborene Menschen, die mit den Segnungen der Demokratie und westlicher Bildungserlebnisse in ihren Schulen aufgewachsen sind. Diese jungen Rassisten hatten kein Problem, sich für ihre "Demonstrationen" am monumentalen Marx-Kopf zu verabreden. Dass die Stadt sich entschlossen hat, ihn zu erhalten, wirkt beinahe machiavellistisch. Das Häufchen linker Gegendemonstranten musste sich mit dem Platz gegenüber begnügen.

So weit ist es gekommen. Mit ein paar Strafanzeigen und einer klischeehaften Entschuldigung bei den Pogromopfern, die vielleicht auch der lange schweigsame sächsische Ministerpräsident noch zustande bringt, ist es nicht getan. Die über Generationen wirksame Kausalkette, die aus Erniedrigten und Beleidigten Gewalttäter werden lässt, kann nicht mehr mit moralischen Appellen und polizeilichen Maßnahmen durchbrochen werden, die wegen des politischen Kalküls in Sachsen moderat ausfallen. Ein ganzes System muss auf den Prüfstand, das immer mehr Ungleichheit im eigenen Land wie auch weltweit produziert.

Quelle: der FREITAG vom 30.08.2018. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

30. August 2018

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