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Brennpunkt Afrika - Auch wenn die Debatte unbequem ist, müssen wir sie endlich führen

Von Jens Berger

Es ist schon paradox - während wir pausenlos über das Thema "Flüchtlinge" sprechen, schweigen wir lieber zu den Fluchtursachen. Neben Kriegen und politischen Unruhen spielen vor allem bei den Flüchtlingen aus Schwarzafrika ökonomische Motive die wichtigste Rolle. Dieser Teilaspekt gerät auch am schnellsten zwischen die ideologischen Mühlsteine der Diskutanten. Während die Rechte von Wirtschaftsflüchtlingen und dem Untergang Europas fabuliert, suchen große Teile der Linken die Schuld im "Kapitalismus" und der Ausbeutung Afrikas durch den weißen Mann. Das ist sicherlich gut gemeint, aber "unterkomplex" und führt uns in der Debatte auch nicht weiter. Und es ist wichtig, dass wir diese Debatte jetzt führen und möglichst schnell zu Ergebnissen kommen, denn die Uhr tickt unaufhörlich und durch Wegsehen werden wir das Problem nicht lösen können.

Die individuellen Gründe, sein Glück im entfernten Europa zu suchen und die ebenso gefährliche wie kostspielige Reise über das Mittelmeer anzutreten, sind mannigfaltig, haben aber meist einen gemeinsamen Nenner. Egal ob es sich um den senegalesischen Fischer, der seine Familie nicht mehr ernähren kann, den nigerianischen Ingenieur, der in seinem Land keinen Job findet, oder den liberianischen Häuptlingssohn handelt, für den es als Zweitgeborenen trotz vergleichsweise guter Ausbildung keinen angemessenen Job in seinem Heimatdorf gibt - fast alle "Wirtschaftsflüchtlinge" treten den langen Weg nach Norden an, weil ihre Heimat ihnen keine Zukunft bietet und sie keine Perspektiven für sich sehen.

Die ökonomische Ebene

Die hoffnungslose Situation Afrikas im weltweiten Vergleich lässt sich durch folgende Zahl anschaulich belegen: Waren 1980 noch 1,6 Prozent der afrikanischen Exporte Fertigwaren, so sind es heute nur noch 0,8 Prozent. Afrika befindet sich nach gängigen Maßstäben größtenteils immer noch in der vorindustriellen Zeit. Industrie ist so gut wie nicht vorhanden, die Verarbeitung von Rohstoffen zu Fertigprodukten nimmt einen verschwindend geringen Teil der Wirtschaftskraft ein. Afrika exportiert Rohstoffe und bestimmte Agrargüter. Volkswirtschaftlich ist dies jedoch nicht einmal ein Tropfen auf dem heißen Stein, da gerade bei Rohstoffen und Agrarexporten die "Wertschöpfung" in der Regel nicht beim ersten Teil der Wertschöpfungskette hängenbleibt. Von einer Tafel Schokolade, die Sie für 50 Cent im Supermarkt kaufen, bleiben im Schnitt gerade einmal 3 Cent bei den Kakaobauern in Afrika. Das führt dazu, dass die Familienmitglieder einer Kakaobauernfamilie in der Elfenbeinküste im Schnitt auf einen Tageslohn von nur 45 Eurocent kommen. Bei Rohstoffen wie Koltan, Nickel oder Erdöl ist die Verteilung noch dramatischer. Von den Erdölexporten Angolas, die das Gros der Wirtschaftskraft dieses Landes ausmachen, profitieren direkt oder indirekt nur 2% der Bevölkerung. Am Rest gehen nicht nur die Profite vorbei. Durch die Aufwertung der Währung durch die Exporte (Stichwort "Holländische Krankheit" ) verschlechtert sich die Konkurrenzsituation anderer Wirtschaftszweige und führt so zu einer noch dominanteren Position der Rohstoffexporte, an denen die Masse nicht teilhaben kann.

Afrikas ökonomisch dramatischstes Problem ist die niedrige Produktivität und die damit verbundene mangelnde Wettbewerbsfähigkeit, die alle Sektoren betrifft. Daher können afrikanische Güter und Produkte sich in einem freien und offenen Markt auch nicht durchsetzen. Trotz niedriger Löhne haben afrikanische Produkte aufgrund der niedrigen Produktivität einen vergleichsweise hohen Stückkostenpreis. Wenn ein chinesischer Textilhersteller Baumwolle aus dem Mali importiert und daraus in China ein T-Shirt fertigt, kann er dieses T-Shirt im Mali günstiger anbieten als ein lokaler Textilproduzent. Wenn er das T-Shirt dann auch noch in Bangladesch oder Myanmar fertigen lässt, ist die Preisdifferenz sogar noch höher. Afrika ist aufgrund seiner niedrigen wirtschaftlichen Produktivität abgehängt.

Von Optimisten wird an dieser Stelle immer wieder gerne auf die "ordentlichen" Wirtschaftswachstumsraten Afrikas verwiesen. Doch dieser Eindruck kann täuschen. Zum Einen verzerren Preisdifferenzen auf den Rohstoffmärkten natürlich auch die Wirtschaftszahlen von Staaten, die fast ausschließlich Rohstoffe exportieren, ohne dass dies eine große Auswirkung auf die ökonomische Situation der Bevölkerung hätte. Wenn sich der Ölpreis verdoppelt, jubeln natürlich Angolas korrupte Eliten, die nun noch mehr SUVs aus Deutschland, iPhones aus den USA oder Champagner aus Frankreich bestellen können. Das Volk hat von dieser Form des Wirtschaftswachstums aber nur sehr wenig. Doch selbst wenn man diesen Effekt herausrechnet, sind die vermeldeten positiven Zahlen oft wenig aussagekräftig.

Die demografische Falle

Nehmen wir Uganda als Beispiel. Der zentralafrikanische Staat wies in den letzten Jahren ein Wirtschaftswachstum von durchschnittlich 3,5% aus - das ist übrigens nur halb so viel, wie für ein qualitatives Wachstum nötig wäre. Gleichzeitig wuchs jedoch die ugandische Bevölkerung im Schnitt ebenfalls um 3,5%. Das Mini-Wirtschaftswachstum wird also durch das Bevölkerungswachstum komplett aufgezehrt, so dass unter dem Strich nur mehr ein Nullwachstum bleibt. Doch es kommt noch schlimmer, als diese statistischen Zahlen vermuten lassen.

Im Land mit seinen 37 Millionen Einwohnern werden pro Jahr 1,6 Millionen Kinder geboren - zum Vergleich: das mehr als doppelt so bevölkerungsreiche Deutschland kommt auf 785.000 Geburten pro Jahr. Dank Impfprogrammen, Entwicklungshilfe und medizinischem Fortschritt hat sich die Kindersterblichkeit in Uganda alleine in den letzten zehn Jahren halbiert. Die Folge: Jedes Jahr drängen mehr und mehr Schüler und Studenten in die Schulen und Unis und immer mehr Arbeitskräfte auf den Arbeitsmarkt; viel zu viel, um versorgt zu werden. Selbst stattliche Investitionen in das Bildungssystem werden vom schieren Nachschub an neuen Schülern aufgezehrt, die Wirtschaft kann gar nicht so schnell wachsen, um allen Schulabgängern einen Job zu bieten; schon gar nicht einen qualifizierten Job. Da kommt es, wie es kommen muss: Die Jugendarbeitslosigkeit liegt in Uganda momentan bei sagenhaften 80%. Jährlich verlassen dort 40.000 Menschen die Universitäten des Landes und kämpfen dann um 8.000 freie Jobs für Jungakademiker. Man muss kein Prophet sein, um zu erkennen, wohin diese Entwicklung führt - zu Krieg oder zu Massenmigration.

Und Uganda ist kein Einzelfall. Die Bevölkerung Schwarzafrikas hat sich im vergangenen Jahrhundert verzehnfacht. Für das laufende Jahrhundert geht die UN davon aus, dass sich die Gesamtbevölkerung bis 2050 von einer auf rund zwei Milliarden Menschen verdoppeln wird. Die zugrundeliegenden Entwicklungen sind ja nicht neu und auch Europa hat dies durchgemacht. In der vorindustriellen Zeit sind Geburtenraten und Sterblichkeit hoch. Mit der Industrialisierung sinkt - vor allem durch den medizinischen Fortschritt - die Sterblichkeit, während die Geburtenziffern nur sehr langsam zurückgehen. Während dieser Zeit "explodiert" die Gesamtbevölkerung. Später  sinkt dann aber auch - vor allem durch Bildung und Sozialsysteme - die Geburtenrate und am Ende steht die industrialisierte Gesellschaft mit niedriger Geburten- und Sterberate bei konstanter bis sinkender Bevölkerung. Afrika genießt momentan die Segnungen moderner Medizin, ohne gleichzeitig eine Industrialisierung zu beschreiten. Die Sterblichkeit sinkt massiv, während die Geburtenziffern nur sehr langsam zurückgehen. Gleichzeitig wächst die Wirtschaft nicht viel schneller als die Bevölkerung und das Bevölkerungswachstum macht die ohnehin zu niedrigen Investitionen in Wirtschaft und Bildung zunichte. Und diese tiefschwarze Prognose steht bereits am Ende der "internen" Faktoren. Wenn man nun auch noch die "externen" Faktoren , also das ungerechte Freihandelsregime, die Interessen der Großkonzerne aus den Industrieländern, den Klimawandel, die Überfischung und und und mit hinzuzählt, bleibt wenig Raum für Optimismus.

Falsche Hilfe nutzt auch dann nichts, wenn sie gut gemeint ist

Anders als bei den "externen Faktoren" ist bei den "internen Faktoren" auch für den reichen globalen Norden kaum Handlungsspielraum. Schon aus humanitären Gründen verbietet sich jegliche Debatte über Geburts- und Sterblichkeitsraten. Sind also Krieg und Massenflucht unvermeidlich, wie es Konfliktforscher mit ihrer Theorie des "youth bulge" (Jugendüberschuss) vorhersagen? Zumindest wenn es der Weltgemeinschaft (so es sie denn gibt) nicht gelingt, möglichst schnell das Ruder herumzureißen, muss man hier wohl selbst als chronischer Optimist seine Zweifel bekommen. Und um es gleich vorwegzunehmen: Afrika ist kein Jota damit geholfen, wenn deutsche Linke nun über offene Grenzen philosophieren. Der Kontinent braucht keinen "Abnehmer" für seine überschüssige Jugend, sondern eine Perspektive, dieser Jugend eine Chance zu geben und ihre konstruktiven Kräfte vor Ort freizusetzen. Dies festzustellen, hat nichts mit Fremdenfeindlichkeit zu tun. Wenn dies nicht gelingt, droht ein Szenario, an dessen Ende entweder "offene Grenzen" oder eine "Totale Abschirmung" steht, wobei letzteres angesichts der öffentlichen Meinung wohl wesentlich realistischer ist. Es wäre daher schön, wenn progressive Kräfte bei diesem Thema nicht immer nur an sich selbst, sondern an diejenigen denken, um die es geht: die Afrikaner.

Aber wie könnte es denn überhaupt gelingen, einen rückständigen, aber an Rohstoffen, Menschen, Kreativität und Gestaltungswillen ungemein reichen Kontinent auf die Spur zu bringen? Zu allererst muss Afrika die Freiheit bekommen, sich vom Freihandelssystem abzukoppeln. Auch Deutschland hing im 19. Jahrhundert hoffnungslos hinter dem früh industrialisierten England zurück und konnte den Rückstand später aufholen. China war 1980 noch ein bitterarmes Entwicklungsland und zählt heute zu den fortschrittlichsten Industriestaaten der Welt. In beiden Fällen konnten die Volkswirtschaften jedoch nur aufschließen, weil sie sich gnadenlos protektionistisch vom Weltmarkt abgekoppelt haben. Das Freihandelsmantra des fairen Wettbewerbs unter Gleichberechtigten heißt im konkreten Fall, dass ein zehnjähriges Mädchen gegen einen Schwergewichtsweltmeister antreten muss - es kann zwischen Afrika und den fortschrittlichen Volkswirtschaften keinen "fairen Wettbewerb unter Gleichberechtigten" geben. Afrika kann sich nur dann entwickeln, wenn es massive Wettbewerbsvorteile bekommt, wenn es seine eigenen Märkte abschotten und gleichzeitig seine Güter in den globalen Norden zollfrei einführen darf. Man könnte sogar darüber nachdenken, diese Zollfreiheit nur auf Vor- und Fertigprodukte, nicht aber auf Rohstoffe anzuwenden, um der Wirtschaft einen zusätzlichen Anreiz zu geben, in Afrika zu investieren. Denn wichtig ist vor allem, dass in Afrika möglichst schnell möglichst viele möglichst qualifizierte Jobs geschaffen werden. Und wenn die sich "im Markt" selbst refinanzieren und ihrerseits wirtschaftliche Impulse auslösen, sind wir schon mal ein großes Stück weiter.

Ein weiteres Problem ist die sogenannte "Entwicklungshilfe". Heute wissen wir, dass die traditionelle Entwicklungshilfe eher Schokolade für einen Zuckerkranken ist und ersatzlos abgeschafft werden muss. Stattdessen sollte der Norden sein Programm zur Hilfe zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit massiv ausbauen. Was spricht beispielsweise dagegen, erfahrene deutsche Ingenieure, die aufgrund ihres Alters in Deutschland keinen Job mehr bekommen, auf freiwilliger Basis nach Afrika zu schicken, um dort vor Ort den einheimischen Unternehmern Tipps zu geben, wie man mit seinen Produkten aktiv auf die europäischen Märkte kommt? Was spricht dagegen, die 0,7% des Bruttoinlandsprodukts der Industrieländer, die im Rahmen der Millenniumsentwicklungsziele in die Entwicklungshilfe gehen sollten, stattdessen in einen großen Fördertopf zu überweisen, der kleinen und mittleren afrikanischen Unternehmen zinslose Darlehen oder gar Beihilfen für sinnvolle Projekte zur Verfügung stellt? Vor allem bei digitalen Dienstleistungen, Software- und App-Programmierung könnten afrikanische Technologie-Cluster mit der richtigen Unterstützung schon vergleichsweise schnell auch weltweit konkurrenzfähig sein und auf den lokalen Märkten sind sie ja schon heute die Marktführer.

Die Scheinheiligkeit der gesamten Debatte

An konkreten Beispielen mangelt es nicht. Wichtig ist, dass wir von unserem hohen Ross herabsteigen und - sicher nicht aus bösem Willen heraus - unserer Fantasie vom "edlen Wilden" hinterherrennen. Die pittoresken Piroge, mit denen senegalesische Fischer ihren mageren Fang nach Hause bringen, sind zwar romantisch, stellen aber kein ernsthaftes Modell für die Zukunft dar. Es ist der falsche Ansatz, diese Piroge vor den Fangflotten der EU zu schützen, auch wenn dies unseren Vorstellungen einer "schöneren Welt" entsprechen mag. Die Fischer im Senegal wollen keine Schönheit, sondern ihre Familien ernähren. Richtiger wäre es daher, die senegalesische Fischerei zu modernisieren und gleichzeitig vor der EU zu schützen. Ansonsten läuft Afrika dem Rest der Welt nämlich immer hinterher … nur halt dann unter "Schutzbedingungen". Aber das sollte ja nicht das Ziel sein.

Den einen großen Gegenentwurf, mit dem Afrika gerettet werden kann, gibt es nicht; wohl aber zahlreiche kleinere Entwürfe, die in der Summe die große kommende Katastrophe zwar nicht verhindern, aber zumindest abfedern könnten. Die Uhr tickt jedoch und jedes Zögern kostet Menschenleben. Wir sollten endlich aufhören, dieses Thema als "Migrations-" oder "Flüchtlingsthema" zu begreifen. Denn dies ist nur unsere sehr subjektive Perspektive. Wir sehen die großen Probleme Afrikas offensichtlich nur in Form kenternder Flüchtlingsboote im Mittelmeer und überfüllter "Ankerzentren" und polemisieren dann etwas von Grenzschutz und Flüchtlingsabwehr oder halt offenen Grenzen für alle. Wollen wir unsere Humanität bewahren, sind diese Positionen aber kaum durchzuhalten, wenn die Migrationsströme zum Regelfall werden; und das werden sie, wenn wir nicht vor Ort gegensteuern. Diese Debatte sollte jedoch nicht um unsere "Angst vor dem schwarzen Mann", sondern um Afrika, um Afrikas Perspektiven, um Afrikas Chancen gehen und daher auch nicht von alten, weißen Männern und Frauen, sondern von den Betroffenen geführt werden. Aber wann haben Sie zuletzt einen afrikanischen Intellektuellen, Ökonomen, Soziologen oder Migrationsforscher in dieser Debatte gehört? Noch nie? Da sind sie nicht allein. Fangen wir also doch erst einmal an, den Betroffenen zuzuhören und setzen dann alle Mittel in Bewegung, um Afrika zu retten. Tun wir es nicht, werden wir wohl oder übel in Zukunft noch sehr häufig über Kriege und Massenflucht debattieren müssen. Aber wer will das schon?

Quelle:  NachDenkSeiten - 26.07.2018. Dieser Beitrag ist auch verfügbar als Audio-Podcast . Lesen Sie dazu bitte auch den Artikel "Afrikas Flüchtlinge, Afrikas Probleme und unsere Verantwortung" , auf dem dieser Artikel zum Teil argumentativ aufbaut.

Veröffentlicht am

28. Juli 2018

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