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1958: Das Jahr der Proteste

Zeitgeschichte Als das Kabinett Adenauer die Bundeswehr mit Kernwaffen ausstatten will, löst das Widerstand quer durch alle Bevölkerungsschichten aus - selbst die "Bild" sagt "Nein"

Von Rudolf Walther

Nicht 1968, sondern 1958 war in Westdeutschland das Jahr der Demonstrationen. In diesen zwölf Monaten wurden mehr Menschen für Demonstrationen, Kundgebungen und Streiks mobilisiert als zehn Jahre später. Dafür gab es zwei Gründe. Erstens hatten CDU/CSU im September 1957 eine absolute Mehrheit errungen, mit der sie forsch das Projekt einer atomaren Bewaffnung der Bundeswehr angingen. Damit forderte die Regierung Adenauer die Oppositionsparteien FDP und SPD heraus, vor allem jedoch Abertausende von Staatsbürgern, die in der atomaren Aufrüstung einen Verrat an der pazifistischen Imprägnierung des Grundgesetzes von 1949 sahen. Zweitens war die Sensibilität der Bevölkerung gegenüber nuklearer Rüstung keine spezifisch deutsche Erscheinung, sondern eine europäische. In London war am 15. Januar 1958 die Campaign for Nuclear Desarmament (CND) gegründet worden. Ihr Vorsitzender war der Philosoph Lord Bertrand Russell, der von einigen Bischöfen sowie Künstlern und Intellektuellen wie dem Bildhauer und Zeichner Henry Moore, dem Historiker Alan J. P. Taylor sowie linken Labour-Abgeordneten unterstützt wurde.

Am 17. Februar 1958 demonstrierten CND-Anhänger vor dem britischen Parlament mit einem Sitzstreik und zu Ostern mit einem Protestmarsch von London in das 80 Kilometer entfernte Atomwaffenlabor Aldermaston, was die Bewegung in ganz Europa bekannt machte. Die CND hatte innerhalb kurzer Zeit über 400 lokale Gruppen. Das ermutigte Gegner der atomaren Rüstung in anderen westeuropäischen Ländern, sich ebenfalls zu organisieren. Schon Mitte 1956 hatte der Detmolder Arzt Bodo Manstein den "Kampfbund gegen Atomschäden" gegründet. Auch die Gewerkschaften IG Metall, ÖTV und HBV wandten sich gegen den Griff nach Kernwaffen.

"Kampf dem Atomtod"

Prominente Intellektuelle wie Robert Jungk und Günther Anders gaben in München die Zeitschrift Das Gewissen. Organ zur Bekämpfung des Atom-Missbrauchs und der Atom-Gefahren heraus. Die Debatte über die von Adenauer befürworteten Kernwaffenarsenale bekam richtig Schwung, nachdem der Kanzler am 5. April 1957 taktische Atomwaffen als "Weiterentwicklung der Artillerie" verharmlost hatte. Eine Woche später erklärten 18 Göttinger Physiker, darunter die Nobelpreisträger Max Born, Werner Heisenberg und Otto Hahn, Atomwaffen als ungeeignet, "den Frieden und die Freiheit zu sichern". Bis auf Max Born beteiligten sich die Göttinger Professoren jedoch nicht an der Kampagne "Kampf dem Atomtod", die 1958 landesweit mobilisierte. Schriftsteller und Intellektuelle wie Heinrich Böll, Helmut Gollwitzer, Eugen Kogon, Hans Henny Jahnn, Martin Niemöller und Ernst Kreuder beteiligen sich ebenso aktiv wie Studenten von Wilhelmshaven über Heidelberg bis Freiburg und München.

Unberührt von allen Warnzeichen hatte die US-Regierung auf der Pariser NATO-Konferenz im Dezember 1957 ihren westeuropäischen Verbündeten angeboten, Silos für Atomraketen und Abschussrampen in ihren Ländern zu errichten. Wobei die Waffen unter amerikanischer Kontrolle blieben. Die Opposition im Bundestag - SPD und FDP - stellte Ende Januar 1958 einen Antrag, in dem eine atomwaffenfreie Zone in Mitteleuropa gefordert wurde. Thomas Dehler von der FDP und Gustav Heinemann von der SPD warfen der Regierung Adenauer vor, mit der Aufrüstung nicht nur "die Verständigung mit dem Osten" und damit eine mögliche "Wiedervereinigung" zu torpedieren, sondern Frieden und Entspannung in ganz Europa.

Im Frühjahr 1958 protestierten zahlreiche deutsche Lokal- und Landespolitiker, aber auch Kirchen und Gewerkschaften landauf, landab gegen die Stationierung von Atomwaffen und die Errichtung von Abschussrampen. Am 22. Februar trafen sich in Bad Godesberg mehrere hundert Atomwaffengegner und beschlossen die Kampagne "Kampf dem Atomtod", die am 10. März 1958 von Walter Menzel (SPD), Ewald Bucher (FDP) und Georg Reuter (DGB) der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Am 26. Februar veröffentlichte die Wuppertaler Professorin Renate Riemeck einen von 44 Professoren unterzeichneten "Appell an die Gewerkschaften gegen die atomare Aufrüstung der Bundeswehr". Am 28. März erschien die Bild-Zeitung mit der Schlagzeile: "Atom-Bewaffnung? Bild-Leser sagen: NEIN!"

Keine Woche ohne Proteste

Vom April bis in den Herbst hinein rollte nun eine nie da gewesene Welle von Kundgebungen, Demonstrationen und Streiks über das Land. Der DGB begrüßte die Aktionen, rief aber so wenig zu Arbeitsniederlegungen auf wie die SPD-Führung. Die Springerpresse denunzierte die Proteste als "Marschieren für Moskau". Innenminister Gerhard Schröder (CDU) warf der Kampagne "Kampf dem Atomtod" vor, einen "Teil des kommunistischen Generalstabsplans" zu bilden.

Im antikommunistisch aufgeheizten Klima der 1950er Jahre verfehlten derartige Parolen ihre Wirkung nicht. Die Träger der Kampagne - SPD, FDP und DGB - bekamen kalte Füße und lenkten den Protest in eine andere Richtung. Statt mit Kundgebungen und Streiks sollte nun mit einer Volksbefragung gegen das Regierungsvorhaben gekämpft werden. Führende SPD-Politiker wie Carlo Schmid, Herbert Wehner und Fritz Erler drängten die Partei nach rechts und auf einen Kurs, der ein Jahr später zum Godesberger Programm führen sollte. Sie wollten aus der Klassen- eine Volkspartei machen. Die Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen im Juli 1958 bestärkten die rechte SPD darin: Die Partei hatte zwar gut 700.000 Wähler hinzugewonnen, aber die CDU erzielte mit 50,5 Prozent eine absolute Mehrheit. Aus Angst, von den Konservativen der "Moskauhörigkeit" bezichtigt zu werden, bremsten SPD und Gewerkschaften die Kampagne "Kampf dem Atomtod". Deren Ende kam, als das Bundesverfassungsgericht am 30. Juli 1958 eine Volksbefragung zur atomaren Aufrüstung verbot.

Aber die Proteste verschwanden nicht. Im Gegenteil. Die "Protest-Chronik" Wolfgang Kraushaars verzeichnet für das ganze Jahr 1958 keine Woche, in der nicht Demonstrationen stattfanden oder sich prominente Intellektuelle von Hans Magnus Enzensberger bis zu Karl Jaspers zu Wort meldeten. In München bildete sich ein Komitee gegen Abrüstung und eine "Aktionsgemeinschaft gegen atomare Aufrüstung", die auch von der seit 1956 verbotenen KPD mitgetragen wurde. Nach dem Vorbild des CND-Marsches in London demonstrierten in Hamburg zu den Ostertagen 1958 Atomwaffengegner aus dem Umkreis des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) und dem Internationalen Studentischen Arbeitskreis der Kriegsdienstgegner.

Zu Ostern 1960 kam es zur Gründung der deutschen Ostermarsch-Bewegung. Auf die Initiative des Lehrers Hans-Konrad Tempel versammelten sich rund 1.000 Atomwaffengegner aus Hamburg, Bremen, Hannover, Braunschweig und Lüneburg zu einer Kundgebung auf dem NATO-Schießplatz Bergen-Hohne in der Lüneburger Heide. Die Teilnehmer waren hauptsächlich Kriegsdienstverweigerer und Mitglieder der Deutschen Friedens-Gesellschaft sowie der Naturfreunde. Die Ostermarsch-Bewegung bemühte sich von Anfang an um die politische Abgrenzung von kommunistischen Einflüssen und betonte, dass sie "gegen atomare Kampfmittel jeder Art und jeder Nation" kämpfe, nicht für bestimmte politische Forderungen oder Interessen. Sie begriff sich als "Mahnung an das Gewissen aus allgemeinmenschlichen Gesichtspunkten" (Hans-Konrad Tempel). Die 1961 verabschiedeten "Grundsätze des Ostermarsches der Atomwaffengegner" sprachen ausdrücklich nicht von einer "Mitglieder-Bewegung", sondern der "Aktionseinheit gleichgesinnter Staatsbürger", die sich "keiner anderen Instanz als dem eigenen Gewissen" verpflichtet fühlten.

Es sollte nur noch wenige Jahre dauern, bis sich Atomwaffengegner und Pazifisten ab 1966 politisch artikulierten und unter der Großen Koalition als Teil der Außerparlamentarischen Opposition (APO) auftraten.

Quelle: der FREITAG vom 04.04.2018. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Rudolf Walther und des Verlags.

Veröffentlicht am

25. Juli 2018

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