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1968: Krieg ohne Ende

Die Tet-Offensive des Vietcong führt den USA vor Augen, dass ihre Streitmacht in Südvietnam den Kampf um Indochina nicht verlieren, aber auch nicht gewinnen kann

Von Lutz Herden

Durchsichtig wird die Luft von Hue gegen Mittag, dunstig ist sie am Morgen, wenn noch die Nebel der Nacht auf der Stadt liegen und im Wasser des Parfümflusses das zitternde Nachbild des Mondes schwimmt. Fallen werden die Schleier erst mit dem Zenit der Sonne, wenn in Vietnams einstiger Kaiserresidenz die Zitadelle keinen Schatten mehr wirft. Hinter den Wällen und Mauern der "Verbotenen Purpurstadt" haben sich einst die Herrscher der Nguyen-Dynastie das Volk verbeten, weil sie glaubten, als Gottkönige mit der Ewigkeit verschworen zu sein.

Die mutmaßlich Erwählten fanden ein jähes Ende, als am 30. August 1945 der Monarchie die letzte Stunde schlug und Bao Ðai, der 13. Thronfolger des Nguyen-Geschlechts, am Ngo-Mon-Tor mit den Worten abdankte: "Mit Bedauern denken Wir an die Jahre Unserer Regierung, in denen Wir es nicht vermochten, etwas von Belang für Unser Land zu tun." Am Abend jenes Tages schirmte nicht mehr das Gelbe Tuch des Kaisers die Zitadelle, stattdessen hatte die Demokratische Republik des Staatsgründers Ho Chi Minh ihr Banner aufgezogen, sollte es aber noch zweimal fallen sehen, bevor es unangefochten wehte über den Lotus-Teichen.

Mitte der 1950er Jahre, nach der Genfer Indochina-Konferenz, die das Ende der französischen Kolonialära in Vietnam besiegelte, hatte sich Vietnam in zwei Staaten geteilt. Die sozialistische Volksrepublik im Norden, verbündet mit der Sowjetunion und China, stand in einem erklärten Krieg mit der prowestlichen Republik im Süden, unterstützt seit den frühen 1960er Jahren von US-Militärberatern, den Vorboten eines Besatzungskorps, das eines baldigen Tages mehr als eine halbe Million Soldaten zählen sollte.

Der britische Schriftsteller Graham Greene hatte in seinem 1955 erschienenen Roman Der stille Amerikaner, den er in wenigen Wochen auf der Terrasse des Hotels Continental in Saigon schrieb, das Unheil des amerikanischen Krieges in Vietnam erahnt, bevor es tatsächlich dazu kam. Die Geschichte spielt 1952 in Südvietnam - der junge, sendungsbewusste CIA-Agent Pyle spannt dem englischen Korrespondenten Thomas Fowler die einheimische Geliebte aus, geht ansonsten über Leichen und trüben Geschäften nach. Er ermuntert eine den USA genehme "Dritte Kraft", durch Terroranschläge die französische Kolonialverwaltung zu erschüttern, und verklärt dies zur Katharsis im Namen von Freiheit und Democracy. Der "hinterhältige Anschlag", dem Pyle schließlich zum Opfer fällt und den Fowler durch einen Hilfsdienst für den nationalkommunistischen Untergrund der Viet Minh ermöglicht, wird zur Metapher. Amerika vergreift sich an Vietnam, scheitert und geht zugrunde. Der tote Pyle wird zum Propheten des großen Sterbens Zehntausender GIs, der Leichensäcke, der abgerissenen Beine und Gesichter.

Anfang 1968 stehen unter Führung von General Westmoreland 485.600 US-Soldaten in Südvietnam und hören von Präsident Lyndon B. Johnson, der Sieg sei in Sicht. Keine drei Jahre ist es her, dass am 8. März 1965 die ersten zwei Bataillone Marines als Kampfverband am Strand von Da Nang gelandet sind. Danach wächst die Präsenz von Woche zu Woche. Immer mehr reguläre US-Truppen ziehen in den Krieg gegen die Soldaten aus Nordvietnam und der Befreiungsfront im Süden, die im Westen Vietcong ("vietnamesische Kommunisten") genannt werden. Die Amerikaner schleppen sich durch die Regenwälder Annams, kriechen in die feindlichen Tunnel im Gebiet Cu Chi, sitzen im Zentralen Hochland fest, hoffen auf Entsatz und denken an nichts mehr. Sie errichten monströse Stützpunkte in Ða Nang und Cam Ranh oder Khe Sanh, ein paar Kilometer südlich des 17. Breitengrades, der Grenze zwischen Nord- und Südvietnam.

Am 30. Januar 1968 feiert der Süden das buddhistische Tet-Fest mit Maskentanz und Feuerwerk, um das beginnende "Jahr des Affen" zu empfangen. Noch in der Neujahrsnacht stürmen 85.000 Vietcong 36 der 44 Provinzhauptstädte im Süden. Auch in Hue droht der Himmel zu zerspringen. Guerilla-Einheiten erobern die Stadt auf beiden Seiten des Parfümflusses und setzen eine eigene Regierung ein, die sich darauf stützt, dass die Befreiungsfront in Hue seit Jahren verankert ist. Über der Zitadelle hissen junge Vietnamesen die blau-rote Fahne mit dem gelben Stern ihrer Revolution. Es dauert eine ganze Woche, bis es US-Marines über den Fluss schaffen, um einzugreifen. In den USA sehen Millionen Fernsehschauer bei Live-Übertragungen vom Kriegsschauplatz, wie die Männer unter Beschuss geraten, sich zurückziehen, wieder vorgehen und wieder festsitzen. Sie sehen, wie verkohlte Leichen und ausgebrannte Humvees die Straßen blockieren, Soldaten mit starrem Kiefer auf den Angriff oder den Abflug mit dem Sanitätshubschrauber warten.

Vielen wird bewusst, es sind nicht die 475.000 Mann des Generals Westmoreland, die irgendwo in Indochina eine Schlacht gegen den Kommunismus schlagen. Wir sind es, die Vereinigten Staaten, die einen so aussichtslosen wie barbarischen Krieg führen.

Auch die Hauptstadt Saigon wird von der Tet-Offensive erfasst. Vietcong tauchen im Viertel um den Großmarkt Ben Thanh mit den vielen Schleichwegen auf, die in Greenes Roman ein Thomas Fowler nahm, um Kontaktleute zu treffen. Es geschieht das bis dahin Unfassbare. Einem Trupp aus dem Vietcong-Bataillon C-10, das normalerweise für Subversion und Sabotage zuständig ist, gelingt es, im sichersten Distrikt das am besten gesicherte Gebäude Südvietnams anzugreifen. Am 31. Januar 1968 gegen acht Uhr Ortszeit wird das "Weiße Haus von Saigon", wie die US-Botschaft heißt, zum Schlachtfeld. Die 19 Kämpfer des Kommandos dringen nicht nur auf das Gelände der Mission vor, sie verschanzen sich im Erdgeschoss der Residenz. Der Vietnamkrieg tobt erstmals auf US-Territorium und dauert zwei Stunden. Als die Angreifer erschossen oder gefangen genommen sind, entern Kamerateams von ABC und CBS das Gelände, um die Toten aufzunehmen. 16 Vietnamesen, ein US-Marine, vier Militärpolizisten der Army. Die Botschaft des Horrors: Wir sind ihnen trotz allem überlegen. In diesem Krieg kann viel passieren, aber er wird noch in hundert Jahren nicht verloren gehen. Keiner fragt: Lohnt es sich, einen Krieg nur deshalb zu führen, weil man ihn nie verlieren kann?

In Hue wird 26 Tage lang erbittert gekämpft. Die Walzen der Explosionen rollen durch die Stadt und pulverisieren Mauern und Menschen. Wenn sich die Rauchschwaden lichten, tauchen Panzer der südvietnamesischen Armee auf, um Quartiere zurückzuerobern, die keine mehr sind. Wer von den Vietcong überlebt hat, zieht sich zurück. Von den 135.000 Bewohnern sind 110.000 obdachlos, als am 27. Februar 1968 wieder die gelb-rote Flagge Südvietnams über der Zitadelle weht.

Auch wenn die Tet-Offensive für die Angreifer nicht den erhofften Durchbruch bringt, weil der erwartete Aufstand in den südvietnamesischen Städten ausbleibt, hinterlässt allein die Schlacht um Hue in den USA eine tiefe Wirkung. Es ist schwer zu glauben, was dieser Gegner, den Napalmteppiche und entlaubte Wälder zermürben sollen, noch fertigbringt, weil ihn die Entschlossenheit nie verlässt. Die Falken unter den US-Generälen behaupten, Tet war der letzte Atemzug des Vietcong. Doch glaubt das Oberkommando nicht daran. Schon Anfang März 1968, keine Woche nachdem die Gefechte abgeflaut sind, verlangt Westmoreland intern 206.000 zusätzliche Soldaten für Vietnam, womit die Truppenstärke bei fast 700.000 Mann läge. Selbst wenn er sie bekäme, was nicht geschieht, wäre damit noch nichts gewonnen.

Walter Cronkite, Anchorman bei CBS News, kommentiert nach der Tet-Offensive: "Wer sagt, wir näherten uns einem Sieg, der glaubt nicht den Tatsachen, sondern den Optimisten, die sich schon so oft irrten. Von eine Pattsituation zu sprechen, ist der allein richtige, wenn auch unbefriedigende Schluss. Es wird immer klarer, dass wir verhandeln sollten - nicht als Sieger, sondern als ehrbares Volk."

Quelle: der FREITAG vom 01.02.2018. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

03. Februar 2018

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