Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

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Wolfgang Sternstein: Leiden und politischer Widerstand bei Gandhi

Von Wolfgang Sternstein Vortrag bei der Tagung "Bonhoeffer bewegt. Mensch, Widerstand, Glaubwürdigkeit" im Rahmen des Ev. Kirchentags 2015 in der Ev. Dietrich Bonhoeffer-Gemeinde in Stuttgart-Weilimdorf am 5. Juni 2015.

Mahatma Gandhi, der eigentlich Mohandas Gandhi hieß, von seinen Landsleuten aber den Ehrentitel Mahatma, d.h. große Seele, erhielt, gehört heute zu den Gestalten der Weltgeschichte, deren Namen zwar jeder kennt, deren Leben und Werk aber nahezu ganz vergessen sind. So nimmt es nicht wunder, dass er Ziel eines unqualifizierten und niveaulosen Angriffs von Arundhati Roy, einer bekannten indischen Schriftstellerin, wurde. Deutsche Medien haben diesen Angriff bereitwillig verbreitet, ohne auch nur die geringste Mühe darauf zu verwenden, zu prüfen, ob er berechtigt ist.

Deshalb zunächst ein paar Worte zu Biografie Gandhis:

Gandhi wurde am 2. Oktober 1869 in Porbandar in der indischen Provinz Gujarat im Westen Indiens geboren. Seine Mutter war ein fromme Hindu, der Vater ein leitender Verwaltungsbeamter in verschiedenen kleinen Fürstentümern und wegen seiner außerordentlichen Wahrheitsliebe und Zivilcourage hoch angesehen.

1888 reist Gandhi nach England, um in London Jura zu studieren, und kehrt nach drei Jahren nach Indien zurück. Dort versucht er sich erfolglos als Rechtsanwalt zu etablieren. Schließlich reist er 1893 nach Südafrika, um in einem Rechtsstreit indischer Kaufleute als Anwalt tätig zu werden. Bereits auf der Reise macht er Bekanntschaft mit dem Rassismus der weißen Südafrikaner. In den folgenden zwanzig Jahren seines Aufenthalts in Südafrika wird er zum Führer der indischen Minderheit in Südafrika und erstreitet schließlich 1914 die Rücknahme des "Schwarzen Gesetzes", das die Inder in Südafrika nahezu aller Bürgerrechte beraubte.

Im Dezember 1914 kehrt er mit seiner Familie nach Indien zurück, wo er in der Nähe von Ahmedabad einen Aschram, das heißt eine Lebens- und Arbeitsgemeinschaft gründet, die auch als Ausbildungsstätte für gewaltfreie Aktivisten dient. In drei landesweiten Kampagnen des gewaltfreien Widerstands (1920-22, 1930-34 und 1940-44) erkämpft diese Bewegung schließlich 1947 die Unabhängigkeit.

Der Kampf gegen die Briten ist aber nur eine Blume aus dem Strauß zahlreicher Initiativen zur Gesellschaftsreform, die Gandhi unternahm. Zu diesem Strauß gehört der Kampf gegen den Rassismus, gegen die soziale Ächtung der Unberührbaren oder Kastenlosen und die Benachteiligung der Frau in der indischen Gesellschaft sowie gegen die Ausbeutung von Bauern und Arbeitern. Vor allem aber gehören dazu die leuchtenden Blumen eines umfassenden Aufbauprogramms für eine Gesellschaft der Freien und Gleichen, in der die religiösen, sozialen und politischen Gegensätze Indiens überwunden sind.

Am 30. Januar 1948 wird er bei einer Gebetsversammlung von einem fanatischen Hindu-Nationalisten erschossen.

Vielleicht kennen Sie den berühmten Film über ihn von Richard Attenborough mit Ben Kingsley in der Hauptrolle. Wenn nicht, versäumen Sie nicht, ihn anzuschauen. Dem Hauptdarsteller ist es gelungen, Gandhi so lebensecht zu verkörpern, als wäre er aus dem Grabe auferstanden.

Aber nun zum Thema: Leiden und politischer Widerstand bei Gandhi.

Sie kennen vielleicht den oft zitierten Römerspruch "Si vis pacem para bellum". Wenn du Frieden willst, rüste zum Krieg. Die Römer, von denen dieser Spruch stammt, verstanden viel vom Krieg, aber wenig vom Frieden. Für sie war Frieden die Pax Romana, das heißt ein durch Gewaltandrohung erzwungener und im Fall des Widerstands gegen diese Gewaltherrschaft durch brutale Gewaltanwendung wieder hergestellter Friede. Die Pax Romana beruhte auf Ausbeutung und Unterdrückung jeglichen Widerstands in der Randzone des Imperiums zugunsten von Überfluss und Luxus im Zentrum. Das gilt mehr oder weniger für alle Imperien von der Antike bis zur Gegenwart.

Es gibt aber noch eine ganz andere Auffassung von Frieden. Sie meint nicht nur die Abwesenheit von Krieg, sondern die Anwesenheit sozialer Gerechtigkeit und die Fähigkeit, Konflikte gewaltfrei auszutragen. Unter sozialer Gerechtigkeit ist in diesem Zusammenhang das Streben nach einem Ausgleich der gesellschaftlichen Gegensätze zwischen den Mächtigen und Machtlosen, Reichen und Armen, Angesehenen und Verachteten, Gebildeten und Ungebildeten zu verstehen. Der Unterschied zwischen diesen beiden Vorstellungen von Frieden könnte größer nicht sein. Vom Standpunkt des zweiten Friedensbegriffs aus betrachtet, ist der staatlich garantierte Friede ein latenter Kriegszustand.

Damit will ich nicht sagen, dass zwischen Gewalt im Angriff und Gewalt in der Verteidigung kein Unterschied besteht oder dass das staatliche Gewaltmonopol abgelehnt werden muss. Selbstverständlich ist Gewalt in der Verteidigung in der Regel besser als Gewalt im Angriff und selbstverständlich ist das staatliche Gewaltmonopol besser als der Krieg aller gegen alle. Aber vor dem Hintergrund des biblischen Schalom sind sie nicht gut, sondern - wie alle Gewalt - böse. Richtig ist aber auch, dass erst dann eine Chance besteht, sie in allen ihren Erscheinungsformen abzuschaffen, wenn wir eine konstruktive Alternative zur Gewalt und zum Krieg gefunden, eingeübt und angewendet haben. Das gilt insbesondere für die militärische Gewalt. Gandhi hat das in Theorie und Praxis wie kein anderer geleistet.

Der Römerspruch "Wenn du Frieden willst, rüste zum Krieg" ist das Glaubensbekenntnis sämtlicher Militärs und Sicherheitspolitiker auf der ganzen Welt. Er hat nur einen Nachteil: Er ist falsch. Die Friedenssicherung durch Rüstung und Abschreckung war schon immer falsch, sie ist auch heute falsch und sie wird es auch in Zukunft sein, und zwar aufgrund eines unaufhebbaren Widerspruchs: Wir erhalten stets, was wir vorbereiten: Wer den Krieg vorbereitet, um ihn zu verhindern, erhält den Krieg und wer den Frieden vorbereitet, erhält den Frieden. Wer den Atomkrieg vorbereitet, um ihn durch wechselseitige Abschreckung zu verhindern, erhält nicht den Frieden, sondern den Atomkrieg. Diese schlichte Einsicht stammt nicht von mir, ich habe sie von einem unbekannten Mitglied der Friedensbewegung gehört und sie hat mich auf der Stelle überzeugt. Dieser schlichte Zusammenhang lässt sich durch millionenfache Alltagserfahrung belegen. Wer ein paar Eier in die Pfanne schlägt, erhält Spiegeleier und kein Schnitzel und wer ein Stück Fleisch in die Pfanne legt, erhält ein Schnitzel und keine Spiegeleier. Wir erhalten also stets, was wir vorbereiten. Wer den Krieg vorbereitet, erhält den Krieg und wer den Frieden vorbereitet, erhält den Frieden. So einfach ist das. Dennoch, Politiker und Militärs verstoßen seit Jahrtausenden gegen diese schlichte Wahrheit. Doch selbst wenn eine Unwahrheit millionenfach wiederholt wird, wird sie dadurch nicht wahr. Sie bleibt eine Unwahrheit. Die Wahrheit lautet: Wenn du Frieden willst, bereite den Frieden vor, nicht den Krieg. Si vis pacem, para pacem.

Ich habe den Römerspruch bewusst eine Unwahrheit, nicht aber eine Lüge genannt. Bei einer Lüge ist sich der Lügner bewusst, dass er die Unwahrheit sagt. Hier aber sind sich diejenigen, die den Römerspruch zitieren, dessen keineswegs bewusst. Im Gegenteil, sie sind zutiefst davon überzeugt, dass es sich um eine allgemein anerkannte Wahrheit handelt. Sie Lügner zu nennen, wäre daher falsch und ungerecht. Eine Unwahrheit bleibt indes eine Unwahrheit, selbst wenn Millionen glauben, es handle sich um eine Wahrheit. Aber sie mutiert dann unversehens zu einer "Wahrheit", weil sie gesellschaftlich akzeptiert ist. So kommt es, dass diejenigen, die sie eine Unwahrheit nennen, leicht in den Verdacht geraten, Lügner, zumindest aber Spinner zu sein, die man besser in ein Irrenhaus steckt. In einer solchen Situation hilft nur eins: geduldiges Argumentieren, wobei selbstverständlich jedes gegnerische Argument sorgfältig auf seinen Wahrheitsgehalt geprüft werden sollte.

Was aber ist mit dem Satz: Wer Frieden will, muss den Frieden vorbereiten, gemeint? Damit werde ich mich im zweiten Teil meines Vortrags ausführlich beschäftigen. Hier nur soviel: Die Vorbereitung des Friedens beginnt an dem Ort, an dem wir leben. Sie bedeutet, die Kenntnis und die Fähigkeit erwerben, Konflikte gewaltfrei auszutragen: in der Familie, gegenüber Verwandten, Freunden, Kollegen, Vorgesetzten und Untergebenen. Es bedeutet, sich mit den Schriften jener großen Menschheitslehrer zu befassen, die sich dazu geäußert haben. Es bedeutet ferner, Gewalt verherrlichenden Ideologien mutig entgegen zu treten, wo immer sie sich zeigen, und es bedeutet schließlich, sich mit Gleichgesinnten zusammenzuschließen zu gemeinsamem Austausch und gemeinsamem Vorgehen auf allen Ebenen der Politik.

Ich habe bisher lediglich den Erkenntnisstand der beiden großen Kirchen in Deutschland wiedergegeben. Umso mehr wundere ich mich, dass sie der Erklärung von Bundespräsident Gauck und Verteidigungsministerin von der Leyen, Deutschland müsse seiner gewachsenen Verantwortung in der Welt auch militärisch Rechnung tragen, nicht ein klares Nein entgegengesetzt haben. Natürlich bin ich nicht dagegen, dass Deutschland seiner gewachsenen Verantwortung in der Welt gerecht wird. Es fragt sich jedoch, mit welchen Mitteln das geschieht: Durch eine aktive Friedenspolitik und die Entwicklung konstruktiver Alternativen zu Gewalt und Krieg oder durch die Vorbereitung auf eine Kriegspolitik.

Ein zweiter weltweit als gültig betrachteter Glaubenssatz lautet: Gewalt kann nur durch (größere) Gewalt überwunden oder durch die Androhung (größerer) Gewalt dauerhaft in Schranken gehalten werden. Hier gilt das eben Gesagte. Obwohl alle Welt diesen Satz für wahr erachtet, ist er nach Gandhis Auffassung grundfalsch. Er ist ebenso widersprüchlich wie der Satz: Wenn du Frieden willst, rüste zum Krieg. Wer sich gegen einen gewaltsamen Angriff mit Gewalt verteidigt, überwindet die Gewalt nicht, er vergrößert sie vielmehr. Er vermehrt sie, statt sie wieder aus der Welt zu schaffen. In der Sprache der Chemie gesprochen. Wenn ich einer gegebenen Menge Säure eine etwa gleich große Menge Säure hinzufüge, neutralisiere ich die Säure nicht, sondern ich vermehre sie. Wenn ich sie neutralisieren will, muss ich zu einem anderen Mittel greifen. Ich muss zu einer gleich großen Menge Lauge greifen, um mein Ziel zu erreichen. Das dürfte wohl jedem Menschen einleuchten, der im Chemieunterricht aufmerksam zugehört hat.

Ich erinnere mich noch gut an unseren Chemielehrer, er hieß Mozer. Er baute sich vor der Klasse auf, einen Erlenmeyerkolben mit Salzsäure in der Hand, in dem ein roter Lackmus-Streifen schwamm. Dann gab er ganz langsam tropfenweise eine Lauge hinzu, so lange bis der Lackmus-Streifen weiß wurde. Hätte er zuviel Lauge dazugegeben, wäre er blau geworden. Dann hielt er den Erlenmeyerkolben in die Höhe und rief "Sieht das jeder!" - Offenbar ist bei mir vom Chemieunterricht im Gymnasium etwas hängen geblieben.

Was die Gewalt anbelangt, so gilt hier das Gleiche. Doch überall in der Welt sieht man das anders. Da gilt: Gewalt kann nur durch Gewalt überwunden, Säure kann nur durch Säure neutralisiert werden. Unsere Lebenserfahrung sollte uns eigentlich belehrt haben, dass das nicht geht. Statt weniger Gewalt, kam auf diese Weise immer mehr Gewalt in die Welt und die Instrumente der Gewaltanwendung wurden im Laufe der Jahrtausende perfektioniert. Es war ein langer Weg vom Faustkeil und Steinbeil, mit denen die Steinzeitkrieger einander den Schädel einschlugen, bis zur 50-Megatonnen-Wasserstoffbombe, mit der ganze Landstriche verwüstet werden können, doch die Menschheit hat ihn zurückgelegt und sie ist im Begriff, ihn bis zum bitteren Ende weiterzugehen.

Das ist die Konsequenz jenes Glaubenssatzes, Gewalt könne letztlich nur durch (größere) Gewalt überwunden oder durch die Androhung (größerer) Gewalt dauerhaft in Schranken gehalten  werden. Dass da etwas falsch lief in der Geschichte der Menschheit, sollte eigentlich kein Geheimnis sein. Und doch gilt hier das Gleiche, wie bei dem Römerspruch: Wenn du Frieden willst, rüste zum Krieg. Auch hier gilt, wenn eine Unwahrheit von Millionen, nein von Milliarden Menschen als wahr geglaubt wird, so verwandelt sie sich unversehens aus einer Unwahrheit in eine "Wahrheit". Und doch bleibt sie eine Unwahrheit. Aber diejenigen, die sie eine Unwahrheit nennen, gelten als Lügner, als Spinner, ja als hoffnungslos naive Träumer, die eigentlich ins Irrenhaus gehören.

Gandhi hat den Alliierten vorgeworfen, sie hätten Hitler "überhitlert". Damit meinte er, sie hätten die Gewalt Hitlers durch noch größere Gewalt übertroffen und ihn dadurch besiegt. Man mag das empört zurückweisen. Mit einigem Recht, denn zweifellos hat Hitler die Alliierten an Rücksichtslosigkeit, Grausamkeit und Vernichtungswillen weit übertroffen. Aber sie haben sich ihm angepasst. Adolf Hitler begann das Spiel "Städte von der Landkarte auszuradieren" mit den Terrorangriffen auf Warschau, Rotterdam und Coventry. Doch seine Möglichkeiten waren begrenzt. Die Alliierten setzten das Spiel in größerem Maßstab fort mit der Bombardierung Hamburgs, Kölns Dresdens usw. in Deutschland, und der Bombardierung Tokios, Hiroshimas und Nagasakis in Japan. Und sie werden es vollenden mit dem Ausradieren sämtlicher Großstädte in Russland, Nordamerika, Europa, China usw.

Für mich gibt es keinen Zweifel, dass diese und ähnliche Waffen eines Tages zum Einsatz kommen - sei es, weil Politiker ihren Einsatz in Angriff oder Verteidigung befehlen, sei es, weil sie in einer Krisensituation die Nerven verlieren, sei es durch menschliches oder technisches Versagen. Die Welt stand im Kalten Krieg bereits mehrmals am Abgrund der nuklearen Selbstvernichtung. Das Sprichwort sagt: Der Krug geht solange zum Brunnen, bis er bricht. Auch der "Atomkrug" geht solange zum Brunnen, bis er bricht.

Als Zeugen für diese These zitiere ich den Oberbefehlshaber der amerikanischen Kommandozentrale für Interkontinentalraketen (StratCOM), General George Lee Butler, der in einer Rede vor einer kanadischen Friedensorganisation im Jahre 1999 sagte: "Wir sind im Kalten Krieg dem nuklearen Holocaust nur durch eine Mischung von Sachverstand, Glück und göttlicher Fügung entgangen, und ich fürchte, das Letztgenannte hatte den größten Anteil daran." Das sagt ein Mann, dem wirklich niemand vorwerfen kann, er wisse nicht, wovon er rede. Gegenwärtig droht ein Rückfall in den Kalten Krieg mit all seinen Risiken und Gefahren. Hatte Gandhi nicht doch recht mit seiner Feststellung, die Alliierten hätten Hitler am Ende "überhitlert"? Joseph Goebbels, der wohl Klügste in der Führungsmannschaft der Nazis, soll einmal gesagt habe: "Wir werden siegen, selbst wenn wir untergehen, denn wir haben unsere Ideale tief in die Herzen unserer Feinde eingepflanzt."

Gandhi bestätigte diese furchtbare Wahrheit auf seine Weise, als er schrieb: "Wenn England Gerechtigkeit sucht, muss es vor Gottes oberstem Richterstuhl mit reinen Händen erscheinen. Es kann Freiheit und Demokratie nicht dadurch verteidigen, dass es, soweit der Krieg in Betracht kommt, die totalitäre Methode nachahmt. Es wird davon nicht wieder loskommen, nachdem es im Kriege Hitler überhitlert hat. Sein Sieg, wenn erreicht, wird sich als Falle und Täuschung erweisen. Ich weiß, meine Stimme ist die eines Predigers in der Wüste. Doch eines Tages wird man die Wahrheit einsehen, die sie verkündet. Sollen Freiheit und Demokratie wahrhaft gerettet werden, so können sie das nur durch gewaltfreien Widerstand, der nicht weniger Tapferkeit fordert, nicht weniger Ruhm einträgt als der gewaltsame. Ja er wird sogar viel tapferer und ruhmreicher sein, weil er Leben hingibt, ohne welches zu nehmen." (Harijan, 29.9.1940)

Ich kehre noch einmal in das Klassenzimmer zurück, wo der Chemielehrer demonstriert, dass eine Säure nicht durch eine Säure, sondern nur durch eine Lauge neutralisiert werden kann. Was aber ist - auf unser Thema bezogen - eine Lauge?

Gandhis Antwort lautet: Satyagraha, Festhalten an der Wahrheit, Gewaltfreiheit als Gesinnung und als Methode der Konfliktaustragung.

Satyagraha ist, ähnlich wie das Wort Gewaltfreiheit, ein von Gandhi geprägtes Kunstwort. Es ist zusammengesetzt aus den Sanskritworten satya = Wahrheit und agraha = festhalten, ergreifen, angreifen.

Was also ist Satyagraha bzw. Gewaltfreiheit? Ich beginne meine Erläuterung mit der Erklärung, was Satyagraha nicht ist. Mein Freund Theodor Ebert, der in diesem Kreis sicherlich einigen bekannt ist, hat dieses Wort in die deutsche Sprache eingeführt als Übersetzung von Gandhis Satyagraha-Begriff. Er wollte damit den Unterschied zwischen Gewaltlosigkeit und Gewaltfreiheit verdeutlichen. Gewaltlosigkeit bedeutet Gewaltverzicht im Sinne eines Verzichts auf verletzendes oder tötendes Handeln gegenüber Menschen, in erweitertem Sinn gegenüber Lebewesen überhaupt. Gewaltfreiheit meint dagegen nicht nur die Abwesenheit von Gewalt, sondern die Anwesenheit einer positiven, aufbauenden, schöpferischen und heilenden Kraft, die die Gewalt überwindet, sie förmlich wieder aus der Welt schafft. Gandhi unterscheidet daher auch zwischen einer Gewaltlosigkeit der Schwachen und einer Gewaltlosigkeit der Starken. Das, was wir Gewaltfreiheit nennen, heißt bei ihm Gewaltlosigkeit der Starken. Mit anderen Worten, Gewaltfreiheit bezeichnet die Kraft der Wahrheit, der Liebe (im Sinne von Nächstenliebe) oder der Seele (im Unterschied zu Körperkraft). Es ist die Kraft Gottes, die in uns und durch uns in der Welt wirkt. Es ist die Kraft, die uns von dem Zwang befreit, Gewalt mit Gewalt, Hass mit Hass und Böses mit Bösem vergelten zu müssen. Anders ausgedrückt, es handelt sich um eine Kraft, die uns umgestaltet und zu neuen Menschen macht. Das geschieht freilich nicht von einem Tag auf den anderen, sondern dazu bedarf es Jahre und Jahrzehnte. Der Prozess der Umgestaltung endet erst mit dem Tod.

In der Sprache der Chemie gesprochen: Diese Kraft ist die Lauge, die die Säure der Gewalt neutralisiert, sie gewissermaßen wieder aus der Welt schafft. In der deutschen Sprache ist der fundamentale Unterschied zwischen Gewaltlosigkeit im Sinne der Abwesenheit von Gewalt und Gewaltfreiheit im Sinne der Anwesenheit dieser Kraft leider verloren gegangen. Mein Freund Martin Arnold hat diesem Mangel abzuhelfen versucht durch die Einführung des Wortes Gütekraft für Satyagraha. Ich selbst neige dazu, sie Wahrheitskraft zu nennen, denn das ist die korrekte  Übersetzung von Satyagraha.

Erstaunlich, ja unfassbar ist, dass wir nach zweitausend Jahren Christentum, von dieser Kraft, die Jesus von Nazareth Gottesliebe, Nächstenliebe und Feindesliebe nannte, fast nichts mehr wissen, ja wir ahnen oftmals nicht einmal mehr, was es mit dieser Kraft auf sich hat. Sie ist aus unserem gesellschaftlichen und politischen Leben nahezu ganz verschwunden. Da gilt dann der berühmte Satz von Immanuel Kant: Begriffe ohne Anschauung sind leer. In unserer Alltagserfahrung begegnet uns diese Kraft praktisch nirgends. Es ist daher auch kein Wunder, dass Gottesliebe, Nächstenliebe, Feindesliebe weitgehend zu leeren Begriffen geworden sind.

Die Kraft, von der Jesus und Gandhi sprachen, verleiht uns die Fähigkeit, Böses mit Gutem zu vergelten. Sie verleiht uns die Fähigkeit, Gewalt hinzunehmen, ohne in Verteidigung oder Vergeltung Gewalt anwenden zu müssen. Wir erkennen dann, dass Gewalt nur so und nicht anders überwunden und wieder aus der Welt geschafft werden kann. Wir erkennen die Vergeblichkeit des Versuchs, Gewalt durch Gewalt überwinden oder durch die Androhung von Gewalt dauerhaft in Schranken halten zu wollen.

Gandhi und Jesus waren nach meiner Überzeugung Brüder im Geist. Ich versuche, das mit zwei Zitaten zu belegen:

Gandhi: "Gewaltfreiheit ist die größte Macht, die der Menschheit zur Verfügung steht. Sie ist machtvoller als die schlimmste Zerstörungswaffe, die der menschliche Erfindergeist je hervorbringen wird. Denn Zerstörung ist nicht das Gesetz der Menschen. Der Mensch lebt nur dann in Freiheit, wenn er notfalls bereit ist, von der Hand seines Bruders zu sterben, niemals aber dann, wenn er seinen Bruder tötet. Jeder Mord und jede andere Gewalttätigkeit, egal aus welcher Ursache man sie begeht, ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit." (Harijan, 20.7.35)

Jesus: "Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet; denn er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten, und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte." (Mt 5, 43-45)

Um die Fähigkeit, Böses mit Gutem zu vergelten, zu erwerben, bedarf es einer jahrelangen Beschäftigung mit den Klassikern der Gewaltfreiheit (Gandhi, King, Jesus und andere) und der Einübung der Gewaltfreiheit in Alltagskonflikten, wie sie jede und jeder von uns hat. Wer sie auf diese Weise eingeübt hat, sollte sich in einem zweiten Schritt mit Gleichgesinnten zusammentun, um Konflikte in Politik und Gesellschaft auf allen Ebenen zu lösen. So seltsam es auch klingen mag, die Ausbildung in gewaltfreier Aktion hat manche Ähnlichkeit mit der militärischen Ausbildung, nur dass am Ende eben ein gewaltfreier Kämpfer, Krieger oder Soldat dabei herauskommt.

Leider gab es nur wenige gewaltfreie Massenbewegungen in der Geschichte. Eine davon war die Bewegung der frühen Christen, die der geballten Gewalt des römischen Reiches mit der Bereitschaft begegneten, Verfolgung, Leiden und Tod hinzunehmen. Gandhi hat die ersten Christen, die dazu bereit und fähig waren, deshalb auch Satyagrahis, das heißt gewaltfreie Kämpfer, genannt und Jesus einen Fürsten des Satyagraha.

Allerdings verlor die "Stadt auf dem Berge" im Laufe der ersten drei Jahrhunderte ihren Glanz, das "Salz" verlor seinen Geschmack. Die frühen Christen und das Römische Reich näherten sich einander an. Das Reich wurde christlich und das Christentum römisch, das heißt intolerant, gewalttätig und imperial. Aus der verfolgten Minderheit wurde die verfolgende Mehrheit und das ist sie in manchen Teilen der Welt bis heute geblieben.

Jesus und die christlichen Märtyrer, Gandhi, Martin Luther King und - so meine ich - auch Dietrich Bonhoeffer sind den Weg der Gewaltfreiheit bis zum Ende gegangen. Doch dieses letzte und höchste Opfer wird nur selten gefordert. Es steht am Ende eines langen Weges, der mit einem ersten Schritt beginnt, nämlich mit dem Entschluss, von nun an der Unwahrheit, der Gier, dem Hass und der Gewalt abzuschwören. Ich möchte Sie ermutigen, diesen Weg zu beschreiten, sofern Sie es nicht bereits getan haben. Das Schöne ist, dass Sie bereits nach einiger Zeit die Früchte solcher Bemühung ernten können in Gestalt eines echten und dauerhaften Friedens, der das Ergebnis gelungener Konfliktlösung ist.

In diesem Zusammenhang möchte ich noch einige Beispiele für gewaltfreie Massenbewegungen in der neueren Geschichte erwähnen: Dazu gehören Gandhis Kampagnen gegen die Rassendiskriminierung der Inder in Südafrika, sein Kampf um Indiens Unabhängigkeit sowie seine Kampagne gegen die Unberührbarkeit, ferner Martin Luther Kings von Jesus und Gandhi inspirierter Kampf gegen die Rassendiskriminierung, den Vietnam-Krieg und die Armut in den USA.

In dem von mir bereits erwähnten Gandhi-Film von Richard Attenborough mit Ben Kingsley in der Hauptrolle wird unter anderem der Versuch einer Armee von gewaltfreien Kämpfern ins Szene gesetzt, die Salzwerke von Dharasana zu erobern. Gandhi hatte diese Aktion vorher angekündigt und wollte sie anführen, wie er das bei vielen seiner Aktionen tat, wurde aber am Vorabend verhaftet. Die Salzwerke wurden von indischen Soldaten verteidigt, die von ihren Lathis, das sind eisenbeschlagene Holzknüppel, ausgiebig Gebrauch machten. Es gab Schwerverletzte und Tote.

Aus der Physik kennen wir das Gesetz von der Erhaltung der Materie und das Gesetz von der Erhaltung der Energie. In Gandhis Satyagraha-Lehre gibt es sozusagen ein Gesetz von der Entstehung, der Erhaltung, der Vermehrung und der Überwindung der Gewalt. Die Entstehung der Gewalt hat etwas zu tun mit dem Sündenfall, der Abkehr des Menschen von Gott. Mit diesem Akt erhebt sich der Mensch zu seinem eigenen Gesetzgeber. Er wird autonom. Es ist meines Erachtens kein Zufall, dass der erste Brudermord, die Ermordung Abels durch Kain, im unmittelbaren Anschluss an den Sündenfall erzählt wird. Gewalt, wo immer sie in unserer Gesellschaft erscheint, gleichgültig ob im Angriff oder in der Verteidigung, vergrößert die bereits vorhandene Menge an Gewalt und wirkt wie ein Gift, das unsere gesellschaftlichen Beziehungen zersetzt. Dieses wachsende Gewaltpotenzial kann nur abgebaut werden, wenn sich Menschen bereit finden, Gewalt, die ihnen angetan wird, hinzunehmen ohne Hass oder den Wunsch nach Vergeltung. Das erklärt auch, weshalb das Gewaltpotenzial in der Menschheit im Laufe der Geschichte immer größer wurde, denn die gewaltfreien Gegenbewegungen waren, aufs Ganze gesehen, viel zu selten, um es wesentlich zu reduzieren.

Viele werden an dieser Stelle vehement widersprechen mit dem Argument: Konflikte, gleichgültig ob klein oder groß, unblutig oder blutig, finden irgendwann ein Ende und Friede kehrt ein. Das ist jedoch meiner Meinung nach eine Täuschung. Der norwegische Friedensforscher Johan Galtung erweiterte den Gewaltbegriff, indem er drei Kategorien von Gewalt unterschied: personelle Gewalt, strukturelle Gewalt und kulturelle Gewalt. Unter personeller Gewalt versteht er die Gewalt, die Menschen einander mit Worten oder Taten antun. Strukturelle Gewalt ist die in den Macht- und Besitzverhältnissen gleichsam geronnene Gewalt und kulturelle Gewalt zeigt sich unter anderem in Gewalt rechtfertigenden oder verherrlichenden Ideologien wie Faschismus, Nationalsozialismus, Stalinismus, Rassismus, Fundamentalismus und übersteigerter Nationalismus.

Ein Vergleich mit einem Naturphänomen kann uns helfen, diesen Zusammenhang besser zu verstehen. So wie es in bei Naturstoffen verschiedene Aggregatzustände gibt (fest, flüssig, gasförmig), so gibt es bei der Gewalt verschiedene "Aggregatzustände" (strukturell, personell, kulturell) und so wie in der Natur die Aggregatzustände leicht ineinander übergehen können, ohne dass sich die Substanz verändert, so kann auch in der Gesellschaft die Gewalt leicht von einem Aggregatzustand in den anderen wechseln, ohne dass sie ihre Substanz verändert. In der Natur sind uns die Aggregatzustände des Stoffes mit der Chemischen Formel H2O, nämlich Eis (fest), Wasser (flüssig) und Wasserdampf (gasförmig) bestens vertraut. In der Gesellschaft gilt das Gleiche. Wenn wir beispielsweise in Caesars Bellum Gallicum lesen, dass die Besiegten (Männer, Frauen und Kinder) in die Sklaverei geführt wurden, so ist klar, dass hier die personelle Gewalt des Krieges in den strukturellen Gewaltzustand der Sklaverei überführt wurde. Der Friede mit dem die Kriegshandlung endet, ist folglich nur eine Art optische Täuschung. In Wahrheit geht die personelle Gewalt in einen anderen Aggregatzustand über. Sie wird zur strukturellen Gewalt der Sklaverei. Beim Sklavenaufstand hingegen geht die strukturelle Gewalt wieder in personelle über.

Bei aller Ähnlichkeit des "Naturprozesses" mit dem "Sozialprozess" gibt es zwischen beiden jedoch einen fundamentalen Unterschied. Beim Naturprozess verändert sich die Menge des Naturstoffes beim Übergang von einem in den anderen Aggregatzustand nicht, während beim Sozialprozess jeder neue Gewaltakt oder jeder Tag, den der Unrechtszustand der Sklaverei andauert, die Menge der Gewalt vermehrt.

Ich möchte noch kurz auf einen weiteren Römerspruch eingehen. Er lautet: Tertium non datur. Ein Drittes gibt es nicht. Wir alle lernen im Laufe unseres Lebens, dass die Welt geteilt ist in Gewinner und Verlierer, Sieger und Besiegte, Herrschende und Beherrschte, Täter und Opfer usw. Man gehört entweder zu den Gewinnern oder den Verlierern, zu den Siegern oder den Besiegten usw. Tertium non datur. Doch Gandhi sagt: Tertium datur! Er will weder zu den Gewinnern noch zu den Verlierern, weder zu den Siegern noch zu den Besiegten, weder zu den Tätern noch zu den Opfern gehören. Gandhi lehnt folglich nicht nur die Täterrolle, er lehnt auch die Opferrolle ab. Er fällt der Gewalt und dem Hass nicht zum Opfer, sondern er überwindet sie, indem er sie erleidet. Anders ausgedrückt, er besiegt nicht den Feind, er besiegt den Hass, das Unrecht und die Gewalt. Gewalt wirkt stets in beide Richtungen. Sie erniedrigt den, gegen den sie sich richtet, und den, der sie gebraucht. Das Gleiche gilt für die Gewaltfreiheit. Auch sie wirkt in beide Richtungen. Sie erhöht den, der sie erfährt, und den, der sie anwendet.

Gandhis Ziel ist es, eine Gesellschaft aufzubauen, in der die Gegensätze zwischen Reich und Arm, Mächtig und Machtlos so weit als irgend möglich ausgeglichen sind. Die gewaltfreie Aktion und die Aufbauarbeit sind die Mittel, mit denen dieses Ziel erreicht werden kann. Unter Aufbauarbeit oder konstruktivem Programm versteht er den Aufbau einer Gesellschaft, in der die Grundsätze der Gerechtigkeit, des Friedens und der Bewahrung der Schöpfung - um die Formel des "Konziliaren Prozesses" aufzugreifen - so weit wie möglich verwirklicht sind.

Das Schöne an der Satyagraha-Lehre Gandhis ist: Wir müssen nicht warten, bis wir die Staatsmacht erobert haben, um auf dem Weg der Gesetzgebung diese Gesellschaft durch Zwangsmaßnahmen von oben her einzuführen, sondern jede und jeder kann an dem Ort, an dem sie oder er lebt, mit der Verwirklichung dieser Grundsätze beginnen. Sie oder er darf darauf vertrauen, dass sich die Veränderung ihres oder seines Lebens in ihrem sozialen Umfeld ausbreitet wie die konzentrischen Kreise, die von einem ins Wasser geworfenen Stein ausgehen. Deshalb kann Gandhi auch sagen: Sei du die Veränderung, die du in der Gesellschaft sehen möchtest. Gandhi ist überzeugt, dass der Versuch, die klassenlose Gesellschaft auf dem Weg der Eroberung der Staatsmacht - sei es auf demokratisch-friedlichem oder revolutionär-gewaltsamem Weg - zum Scheitern verurteilt ist. Wir wissen heute, durch die Geschichte der siegreichen bürgerlichen und kommunistischen Revolutionen belehrt, wie Recht er hatte.

Der amerikanische Pazifist Abraham Muste hat gesagt: "Je mehr Gewalt, desto weniger Revolution." Vielleicht ist das der Grund, weshalb die großen Revolutionen des 18., 19. und 20. Jahrhunderts weitgehend gescheitert sind. Die amerikanische Revolution von 1763-83 führte zu zahlreichen Expansionskriegen, dem Bürgerkrieg von 1861-65 und schließlich zum amerikanischen Imperium, das heute noch die Welt beherrscht, denn die Tage des amerikanischen Imperiums sind gezählt. Die Französische Revolution von 1789 brachte die Schreckensherrschaft eines Robespierre hervor und den "Welteroberer" Napoleon, die Russische Revolution von 1917 die Schreckensherrschaft eines Lenin und Stalin, und die Chinesische Revolution von 1927-49 die Schreckensherrschaft Mao Tsedongs, von den faschistischen Revolutionen ganz zu schweigen.

Gewaltfreie Aktion und konstruktives Programm bilden folglich die beiden Eckpfeiler von Gandhis Satyagraha-Lehre. Die gewaltfreie Aktion dient dem Abbau der alten Gesellschaft, die mit Gewalt und Ungerechtigkeit voll gesaugt ist wie ein Schwamm mit Wasser; das Aufbauprogramm dient dem Aufbau einer neuen Gesellschaft, in der Gerechtigkeit, Frieden und Naturerhalt soweit als möglich verwirklicht sind.

Gestatten Sie mir noch eine weitere Bemerkung zum Thema Leiden und politischer Widerstand bei Gandhi: Wir können uns nicht vorstellen, dass es außer den beiden Prinzipien Aktivität und Passivität noch ein Drittes gibt, nämlich aktive Passivität oder passive Aktivität. Es ist die Bereitschaft und die Fähigkeit, Gewalt hinzunehmen in dem Bewusstsein, dass sie nur so überwunden und wieder aus der Welt geschafft werden kann. Der mittelalterliche Denker Nikolaus von Kues (1401-1469), auch bekannt unter dem Namen Nikolaus Cusanus, hat das Wesen Gottes beschrieben als das Zusammenfallen der Gegensätze (coincidentia oppositorum). Das ist in der Tat eine zutreffende Beschreibung Gottes. Die Fähigkeit, Gewalt hinzunehmen, und zwar nicht allein im politischen Kampf, sondern immer und überall, wo sie uns begegnet, ist das, was Gandhi Satyagraha nennt, das heißt die Kraft Gottes in uns, die Gewalt und Unrecht, Hass und Gier in uns und in der Welt überwindet.

Gesetzt den Fall, ein Forscherteam aus grünen oder roten Männchen würde vom Mars oder, da wir mittlerweile wissen, dass es auf dem Mars kein Leben gibt, aus einem fernen Sonnensystem auf unserer Erde landen, was würden sie wohl über uns an ihren fernen Heimatplaneten berichten? Ich vermute, etwa das Folgende: "Dieser seltsame Planet, der von den Eingeborenen "Erde" genannt wird, ist in großer Zahl von höchst seltsamen Wesen bevölkert. Wir haben in ihren Gemeinschaften extreme Unterschiede zwischen Mächtigen und Machtlosen, Reichen und Armen, Angesehenen und Verachteten, Gebildeten und Ungebildeten beobachtet. Diese Gegensätze führen zu blutigen Auseinandersetzungen, Kriege genannt, um Land, Rohstoffe und Produktionsanlagen. Im Ganzen betrachtet, ist die Weltgesellschaft gespalten in Gewinner und Verlierer, Sieger und Besiegte, in Täter und Opfer. Viele Erdbewohner oder Erdlinge hängen dem Irrglauben an, diese Gegensätze könnten nur mit Zwang und Gewalt überwunden oder durch die Androhung von Gewalt dauerhaft in Schranken gehalten werden.

Es gibt jedoch einige seltene Exemplare unter ihnen, die in der Vergangenheit die Auffassung vertraten, das Übel, das geheilt werden soll, würde durch Zwang und Gewalt nur verschlimmert. Sie hießen Gotama Buddha, Sokrates, Jesus von Nazareth, Franz von Assisi, Mahatma Gandhi, Martin Luther King, Dietrich Bonhoeffer usw. Sie blieben jedoch einsame Rufer in der Wüste. Der Mainstream der Menschheit rauschte an ihnen vorüber und wälzt sich mit wachsender Geschwindigkeit auf einen atomaren Weltkrieg zu, der nicht nur die gegenwärtig lebende und alle künftigen Generationen, sondern auch alles höhere Leben auf diesem sonderbaren Planeten zu vernichten droht.

Die Nachricht an ihren Heimatplaneten schloss mit einer Warnung: "Wir empfehlen dringend, künftig von einer Landung auf diesem Planeten Abstand zu nehmen, denn es ist davon auszugehen, dass er als eine radioaktiv verseuchte Wüste still die Sonne umkreist."

Zum Schluss möchte ich noch kurz die vielleicht wichtigste Frage an Gandhis Satyagraha-Lehre ansprechen. Woher sollen wir jene geheimnisvolle Kraft nehmen, die uns befähigt, Böses mit Gutem, Hass mit Liebe und Gewalt mit Gewaltfreiheit zu vergelten?

Wenn wir uns in der Welt umschauen, stellen wir fest, dass wir in einer Wüste vom Ausmaß der Sahara leben. Diese Wüste schreit förmlich nach Wasser. Satyagraha, Gewaltfreiheit oder Wahrheitskraft ist das Wasser, das diese Wüste in einen blühenden Garten Eden verwandeln würde, wenn es uns gelänge, jenes Reservoir anzuzapfen, das mit einer unerschöpflichen Menge dieses lebendigen Wassers gefüllt ist. Gandhi wusste, wie man das macht. Sein Leben und Werk zeugen davon. Also fragen wir ihn. Seine Antwort ist schlicht und für viele sicherlich enttäuschend. Er sagt: Es ist meine Religion.

An diesem Punkt drohen freilich schwerwiegende Missverständnisse. Gandhi war Hindu, ja er nannte sich gelegentlich sogar einen rechtgläubigen Hindu, aber seine Religiosität war von ganz anderer Art als die der meisten Menschen. Es war die Religion der Wahrheit. Diese Religion erlaubte es ihm, all das, was er in den Weltreligionen an positiven Ansätzen fand, aufzunehmen und sich anzueignen: zum Beispiel aus dem Christentum die Bergpredigt Jesu, aus dem Buddhismus und Dschainismus die Ehrfurcht vor dem Leben und nicht zuletzt aus dem Islam die bedingungslose Hingabe an Gott. Und sie erlaubte es ihm, alles abzulehnen, was er in ihnen als falsch und verhängnisvoll zu erkennen glaubte, zum Beispiel im Hinduismus die Unberührbarkeit, die Hierarchie der Kastengesellschaft, die Tieropfer und die Kinderheirat, im Christentum die Dogmen oder im Islam die Gewaltrechtfertigung in Verbindung mit dem Dschihad. Seine Religion der Wahrheit schließt aber nicht nur die positiven Aspekte anderer Religionen ein, sie schließt auch die Philosophie eines Sokrates oder selbst den Atheismus eines Charles Bradlaugh ein, eines bekannten englischen Atheisten, an dessen Beerdigung er als Student in London teilgenommen hatte.

Wie ist das möglich? Verwickelt sich Gandhi da nicht in unlösbare Widersprüche? Meine Antwort lautet: Überhaupt nicht. Seine Lösung dieses Problems ist so einfach wie genial. Im Sanskrit heißt Wahrheit satya und Sein heißt sat. Die Wurzel des Wortes Wahrheit ist folglich das Sein. Dieses Sein betrachtet er als den ewigen, unvergänglichen und unzerstörbaren Urgrund alles Seienden. Mit dem "Seienden" im Unterschied zum Sein ist die zeitliche, vergängliche und zerstörbare Welt gemeint, die uns umgibt. In dem Maße, wie wir Wahrheit in unserem Denken und Reden, Handeln und Sein verwirklichen, gewinnen wir Anteil an jenem unvergänglichen Sein, in dem der religiöse Grundbegriff Gott und der philosophische Grundbegriff Sein zusammenfallen. Dieses Sein ist die Kraftquelle, aus der Gandhi schöpft. Man kann seine Religion oder Philosophie daher auch in einer Kaskade von drei Worten zusammenfassen.

Sat (Sein, Gott, Nirwana), und daraus abgeleitet
Satya (Wahrheit) daraus wiederum abgeleitet
Satyagraha (Festhalten an der Wahrheit, Kraft der Wahrheit und der Liebe).

Zum Schluss möchte ich noch einmal Gandhi selbst zu Wort kommen lassen:
"Meine ständige Erfahrung hat mich davon überzeugt, dass es keinen anderen Gott gibt als die Wahrheit. Die kleinen flüchtigen Lichtblicke, die ich von der Wahrheit bis jetzt erhalten habe, können kaum eine Idee vom unbeschreiblichen Ganz der Wahrheit liefern, einem Glanz, der eine Million Mal intensiver ist als der der Sonne, die wir täglich mit unseren Augen sehen. Tatsächlich ist das, was ich gesehen habe, nur ein winziger Abglanz dieses mächtigen Glanzes. Aber so viel kann ich aus Erfahrung mit Sicherheit sagen, nämlich dass die vollkommene Schau der Wahrheit nur zu dem kommt, der die Gewaltfreiheit (ahimsa) vollständig verwirklicht hat." (Young India 7.2.1929)

Wenn Sie aus meinen Ausführungen nur fünf Grundsätze mit nach Hause nehmen und auf ihren Wahrheitsgehalt prüfen, sehe ich mich für meine Mühe reichlich belohnt. Diese fünf Grundsätze sind:

  1. Wir erhalten stets, was wir vorbereiten.
  2. Es ist vergebliche Mühe, Gewalt durch Gegengewalt überwinden oder durch die Androhung von Gegengewalt dauerhaft in Schranken halten zu wollen. Sie verschlimmert nur das Übel, das geheilt werden soll.
  3. Das Heilmittel heißt: gewaltfreier Widerstand in Form von Protest und Verweigerung der Zusammenarbeit (Streik, Boykott und dergleichen) sowie ziviler Ungehorsam und gewaltfreie Intervention (z.B. der Versuch, die Dharasana-Salzwerke durch eine Armee von Satyagrahis zu erobern). Nicht weniger wichtig ist aber auch die Entwicklung und Verwirklichung konstruktiver Alternativen zu dem, was wir ablehnen.
  4. Leiden und politischer Widerstand sind aufs engste miteinander verbunden. Die Bereitschaft, Leiden auf sich zu nehmen um der Wahrheit und der Liebe willen, ist nach Gandhis Überzeugung die Kraft Gottes, die in uns und durch uns in der Welt wirksam wird, indem sie Hass, Gewalt und Unrecht überwindet.
  5. Der tragende Grund für Gandhis Leben und Wirken ist die Religion der Wahrheit. Sie befähigte ihn dazu, Hass mit Liebe, Böses mit Gutem und Gewalt mit Gewaltfreiheit zu vergelten.

Fußnoten

Veröffentlicht am

16. Juni 2015

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