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Heinrich Albertz: Wir wollen wissen, was kommt

Am 10. Oktober 1981 kamen 300.000 Menschen zur inzwischen legendären Demonstration gegen die atomare "Nachrüstung" auf die Bonner Hofgartenwiese. Sie protestierten gegen die von der NATO geplante Stationierung von "Pershing II"-Mittelstreckenraketen und "Cruise Missiles"-Marschflugkörpern und forderten ein atomwaffenfreies Europa und das Ende der Blockkonfrontation. Wir erinnern mit dem Redebeitrag von Heinrich Albertz an dieses wegweisende Ereignis vor 35 Jahren.

Wir wollen wissen, was kommt

Von Heinrich Albertz

Liebe Freunde - ja, das war damals noch ein Traum, vor einem Jahr in Gießen -100.000 in Bonn. Aber nun sind wir hier, wir alle, die meisten von Euch die Nacht gefahren und in der Nacht wieder zurück. Nun aber ist es Tag, ich hoffe, ein Tag der Wahrheit und der Hoffnung und des friedlichen Kampfes. Warum sind wir hier? Warum geht diese Welle durch unser Land, immer stärker und unübersehbarer und nun durch die Nervosität der Mächtigen heute als eine Kundgebung des Friedens, an der niemand mehr vorbeikann? Warum geriet der Kirchentag in Hamburg gegen alle Ängstlichkeit zum massierten Widerstand gegen die Vernichtung unseres Landes und womöglich der ganzen Welt?

Zuerst aus einem sehr einfachen Grunde, sozusagen aus einem demokratischen Grundprinzip. Wir wollen wissen, was ist, und wir wollen wissen, was kommt. Und: wir wollen nicht über unsere Köpfe hinweg unser Schicksal und das unserer Kinder und Enkel entscheiden lassen. Ist dies falsch? Muss man deswegen in den politischen Quartieren von Bonn aufgeregt sein? Natürlich: wir haben ein demokratisch gewähltes Parlament, eine aus diesem Parlament korrekt hervorgegangene Regierung. Aber wenn in diesem Parlament Abgeordnete, die unsere Ängste, unsere Fragen, unsere Hoffnungen vorzutragen wünschen, nicht mehr zu Worte kommen, dann müssen wir reden, hier auf diesem Platze, öffentlich, laut. Das ist nicht nur unser von der Verfassung geschütztes Recht, sondern unsere Pflicht. Ich bin äußerst erstaunt, wieviel Unruhe das ausgelöst hat. Diese Art von Unruhe zeugt nicht von der sicheren Überlegenheit derer, die uns zu vertreten haben.

Wir wollen wissen, was ist und was kommt. Nach mir werden andere Freunde davon im einzelnen reden. Ich stelle nur die Fragen: Ist es richtig, dass Krieg heute in Europa die Vernichtung unseres Landes und allen Lebens bedeutet? Ist es richtig, dass also Verteidigung nur um den Preis der Zerstörung alles dessen, was wir gerade aufgebaut haben, möglich ist? Ist es richtig, dass es demnach für das, was man bisher die Zivilbevölkerung nannte, keinen Schutz, ja nicht einmal ärztliche Hilfe gibt? Ist es richtig, dass kein Deutscher im Ernstfall mit zu entscheiden hat, ob und wann und welche atomare Waffen eingesetzt werden? Wenn dies alles richtig ist, und ich fürchte, niemand wird das Gegenteil beweisen können, was bedeutet dann die Sicherheit, die die Supermächte der Bundesrepublik Deutschland und der DDR anzubieten haben? Ja, ich rede ausdrücklich und natürlich auch von der anderen Seite. Denn in keinem Land der Welt bedeutet Krieg zugleich die Zumutung, dass ein Teil des Volkes, zu dem wir doch angeblich noch alle gehören, den jeweils anderen als erstes Opfer umbringen soll. Diese Fragen sind zu stellen.

Diese Fragen blieben bisher unbeantwortet. Wir werden nicht Ruhe geben, bis sie beantwortet sind.

Zweitens: Wir sind hier, um denen, die unmittelbare politische Verantwortung tragen, ihr Gewissen zu schärfen, dass sie, wie es in ihrem Amtseid heißt, Schaden vom deutschen Volke abzuwenden haben. Ich unterstelle niemand, dass sie dies nicht versuchen. Aber ich frage, ob nach allem, was seit den letzten Jahren geschehen ist - der NATO-Doppelbeschluss, die Entscheidung für die Neutronenbombe und die entsprechenden Entscheidungen der Sowjetunion -, sich die Interessen der Vereinigten Staaten und die der Europäer noch decken. Jedermann weiß, dass dies nicht so ist. Jedermann weiß, dass nach dem heutigen Stand der Rüstung und der strategischen Pläne Deutschland in seinen beiden Teilen Schießplatz der Supermächte sein wird. Und dies im Zustand völliger Abhängigkeit, ohne volle Souveränität, ohne Friedensvertrag in einem geteilten Land. Als ich dies in Hamburg den Bundeskanzler öffentlich fragte, löste ich Empörung aus. Nun ist es etwas stiller geworden in dieser Sache. Ein Ausschuss des Bundestages, höre ich, prüft den Deutschlandvertrag und den Truppenvertrag auf diese Frage. Ich bin gespannt, was dabei herauskommt. Ich frage dies alles übrigens als Deutsche wenn ihr wollt, als deutscher Patriot. Warum sollen wir die nationalen Interessen eigentlich immer der Reaktion überlassen?

Drittens und letztens: Ich stehe hier als einer, der versucht, ein Christ zu sein. Andere haben andere Überzeugungen. Ich achte sie. Ich habe keine Ängste vor einer breiten Front aller Gutwilligen. Aber gerade weil ich mich etwa der "Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste" - seit den Tagen ihrer Gründung verbunden fühle, frage ich nun besonders die Kirchen in unserem Lande: Wie lange wollt ihr von Amts wegen das Sowohl-als-Auch noch durchhalten? Die Schaukelformel vom "Friedensdienst mit und ohne Waffen" ist nicht mehr haltbar, wenn unsere Soldaten gezwungen werden sollen, die Waffen der Massenvernichtung und damit eines neuen, unvorstellbaren Holocaust mit zu bedienen. Diese Waffen, das hat das II. Vatikanische Konzil schon vor Jahren festgestellt, sind ein Verbrechen gegen Gott und die Menschen. Wollen wir alle Verbrecher werden? Wollen wir es?

Dies alles sage ich und frage ich, ohne damit irgendjemand stürzen zu wollen. Ich sage und frage es, weil ich denen, die ihre Verantwortung zu tragen haben, helfen will. Es ist mir völlig unbegreiflich, wie man vom Dolchstoß in den Rücken der Regierung, von plattem Anti-Amerikanismus, von Einäugigkeit reden kann. Sind die Damen und Herren taub? Merken sie nicht, welche Stärke sie gewinnen können, wenn sie in ihren Verhandlungen auf uns verweisen: Seht Euch diese Massen an, diese Menschen, vor allem diese jungen Menschen! Wann hat es jemals in Deutschland so etwa gegeben? Die wollen keine fremden Länder mehr besetzen - höchstens mal ein rechtswidrig leerstehendes Haus -, die wollen freilich auch nicht auf ewig in einem besetzten Land leben. Warum nehmen die Mächtigen das nicht an und auf? Sind sie nicht mehr handlungsfähig? Hier brauchte doch nur einer herzukommen und zu sagen: "Ich freue mich über Euch, ich verstehe Euch. Ich bin vielleicht nicht in allem und jedem Eurer Meinung. Aber wir wollen Verbündete sein."

Keiner der Regierenden kommt. Die über 60 Bundestagsabgeordneten, sie begrüßen wir herzlich. Aber dafür werden sie und der tapfere Erhard Eppler unter einen immer unerträglicheren Druck gesetzt.

Und deshalb wird es bald zu spät sein für die Parteien, die jetzt das große Wort führen.

Nun: Wir jedenfalls sind hier Und wir werden wiederkommen und weiter reden und fragen und kämpfen - nicht mit Steinen -, aber mit Argumenten und nicht müde werden. Ich danke Euch, dass ihr hier seid. Ich danke Euch, dass wir in einem einzigen Jahr so viele geworden sind. Ich danke Euch sehr.

Quelle: Buch "Bonn 10.10.1981", Friedensdemonstration für Frieden und Entspannung in Europa, Reden, Fotos .., Lamuv-Verlag 1981.

Veröffentlicht am

10. Oktober 2016

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