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Dorothee Sölle: Minderheiten zählen

Anlässlich ihres 10. Todestages von Dorothee Sölle veröffentlichen wir nachfolgenden Text von ihr aus dem Jahr 1983.

Von Dorothee Sölle

1. Mose 18, 20-33

Ironie ist ein in biblischer Literatur relativ sparsam verwandtes Stilmittel; umso erfreulicher zu sehen, wie sie in dieser Geschichte, die in frommer Nomenklatur "Abrahams Fürbitte für Sodom" genannt wird, am Werk ist. Abraham handelt mit Gott wie ein orientalischer Vieh- oder ein texanischer Autohändler. Daraus möchte ich zwei Lehren ziehen; vielleicht ist es richtiger, von zwei möglichen Hoffnungen zu sprechen.

  1. Gott lässt mit sich reden,
  2. Minderheiten zählen.

Gott lässt mit sich reden, ist eine Voraussetzung des Gebets. Gott ist weder die stumme Macht des Schicksals, an die die Atheisten glauben, noch die Großmacht, die Ergebenheitsadressen anzunehmen geruht. "Ja, was wollen Sie denn, junge Frau", versichert mir der Taxifahrer im Gespräch über den Frieden in Europa, "kaputt gehen wir hier doch so oder so." Der Trivialatheismus ist gebetsfrei und schicksalsgläubig; viele wissen, dass Sodom und Gomorrha morgen hier stattfinden wird, und haben doch nie etwas von Abraham gehört. Keine Fürsprache, keine Intervention von Seiten der Opfer, kein Protest, kein Nein, nur Ergebenheit in das, was von oben kommt.

Die christliche Version dessen ist noch ekelhafter. Viele Christen verwechseln Gebet mit Ergebenheitsadressen. Wenn der Atomkrieg kommt, dann kommt er eben, sagen amerikanische Christofaschisten. Dann war es eben Gottes Wille. Kein Gebet, kein Handeln mit Gott, kein Abraham weit und breit. Gott ist stumme, dumpfe, autoritäre Macht. Die Ergebenheitsadresse ist die einzige Form des Umgangs mit Macht, andere Methoden wurden nicht entwickelt, und die beiden westdeutschen Großkirchen versäumen gerade jetzt die Stunde des Widerstands, des Nein ohne jedes Ja.

Dabei wäre soviel von Abraham zu lernen. Wie er die Mittel der Höflinge und Hoftheologen benutzt. "Ich habe mich unterfangen, mit meinem Herrn zu reden, obwohl ich Staub und Asche bin", und sicher kein Experte. Und: "Zürne nicht, wenn ich nochmals rede", obwohl ich doch schon in Bonn, in Amsterdam, in Rom, in Berlin dasselbe gesagt habe… Abraham macht einen sehr listigen Gebrauch vom Stil der Ergebenheitsadresse; er verwandelt sie in Gebet. Er bleibt bei der Sache, zeigt keinerlei Freude oder Genugtuung, wenn er die himmlische Großmacht ein wenig heruntergehandelt hat. Er geht weiter, so weit, wie er gehen kann. Wie weit ist, "so weit, wie wir gehen können"?

Das ist eine der zentralen Fragen des Textes. Es ist eine theologische und eine politische Frage. Theologisch gesprochen, ist es der Vater des Glaubens, Abraham, der die Minderheiten vertritt. Dom Helder Camara, der brasilianische Erzbischof, spricht von den "abrahamitischen Minderheiten", die in jeder Gesellschaft leben, auch in solchen, die vom militärisch-industriellen Komplex beherrscht sind und sich einbilden, Sodom und Gomorrha für andere vorbereiten zu können. Wie groß müssen diese bewussten Minderheiten sein, ehe sie zählen? Ist zehn Prozent der Bevölkerung eines Landes genug? Oder zwanzig? Oder fünfzig? Was haben wir versäumt, dass wir immer noch eine belächelte Minderheit sind? Warum haben so viele Menschen nichts aus dem Widerstand gegen Hitler gelernt, im Gegenteil: marschieren seit Dezember 1979 wieder mit, hinein in die totale Aufrüstung? Und was bedeutet es, in der Abweichung, im Dissens, im Protest, im konstruktiven Nein zu Krieg und Kriegsspiel, zu Manövern und Waffenmessen, zu medizinischer und pädagogischer Vorbereitung der Endlösung zu leben? Es ist eine theologisch-politische Frage, und wir müssen an der Verbindung beider Wörter, am Bindestrich zwischen ihnen festhalten. Niemand kann uns einreden, es sei "nur" eine Frage militärischer Zweckmäßigkeit, eine Frage des rationalen Kalküls. Es ist eine Frage des Glaubens - und Abraham, der hier mit Gott handelt im Namen der bewussten Minoritäten, ist der Vater des Glaubens. Nicht der Vater des Kompromisses, des Abwartens, bis die Leute ihr Fähnchen nach dem Wind gedreht haben.

Ich habe viel von Henry Thoreau (1817-1862) gelernt. Er lebte in der Zeit der Sklaverei und der Annexionskriege und hat, wie kaum jemand vor ihm, und nach ihm vor allem Gandhi, das Problem der bewussten Minderheit reflektiert. "Die Leute glauben im allgemeinen, unter einer Regierung, wie wir sie jetzt haben, sollten sie warten, bis sie die Mehrheit zu den Änderungen überredet haben." Aber dieses Warten, dieses bloße Anderer-Meinung-Sein, dieser schöne demokratische Glaube an die Kraft der Argumente, reicht nicht aus. In einem demokratisch legitimierten Unrechtssystem, das Krieg und Sklaverei rechtfertigt (das in unserer Zeit an Ausbeutung der Ärmsten und Vorbereitung der atomaren Endlösung teilnimmt), versucht Thoreau, die Rolle der Minderheit neu zu definieren. Genau das, was Abraham Gott gegenüber tut. Es ist nicht genug, zu warten und zu überzeugen. "Eine Minderheit ist machtlos, wenn sie sich der Mehrheit anpasst; sie ist dann noch nicht einmal eine Minderheit; unwiderstehlich aber ist sie, wenn sie ihr ganzes Gewicht einsetzt. Vor der Wahl, ob er alle anständigen Menschen im Gefängnis halten oder Krieg und Sklaverei aufgeben soll, wird der Staat mit seiner Antwort nicht zögern."

Abraham glaubte an die Gerechten in einer Stadt des Verbrechens. Thoreau erklärte, dass jedes Gemeinwesen auf die Kooperation der bewussten und aktiven Minderheiten angewiesen ist. Der entscheidende Schritt ist erst dann getan, wenn die Minderheit nicht mehr auf die nächsten Wahlen wartet - und sich durch ein quantitatives Demokratieverständnis lähmen lässt, sondern wenn sie jetzt, im Angesicht des demokratisch legitimierten Verbrechens, den Gehorsam aufkündigt. Dass die Aufrüstung ein Verbrechen an den Armen ist, wissen indessen die meisten Christen. "Man sollte nicht den Respekt vor dem Gesetz pflegen, sondern vor der Gerechtigkeit", sagte Thoreau. Minderheiten zählen. Jedenfalls in der Bibel. Jedenfalls für Abraham. Gott ist kein Computer.

Quelle: Junge Kirche. Eine Zeitschrift europäischer Christen, 5/6 83, Mai/Juni 1983 44. Jahrgang, S. 295f.

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Veröffentlicht am

28. April 2013

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