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Gewaltfreie Aufstände sind beinahe doppelt so erfolgreich wie bewaffnete Revolutionen

Die Erkenntnisse einer erstaunlichen Studie von Erica Chenoweth und Maria J. Stephan

Von Stefan Maaß

Erfordert die Schutzverantwortung militärisches Eingreifen?

Gewaltfreiheit wird oftmals als das ethisch bessere Mittel, Gewalt jedoch als das effektivere Mittel angesehen, um eine diktatorische Regierung zu stürzen. Deshalb wird Gewalt als letzter Ausweg oder notwendiges Übel im Angesicht einer ausweglosen Lage gewählt.

Der Ruf nach einem militärischen Eingreifen wird laut, in dessen Zusammenhang von "Schutzverantwortung" und der "Ultima ratio" gesprochen wird.

Dass militärisches Eingreifen bei schweren Menschenrechtsverletzungen manchmal notwendig ist, dieser Ansicht war bis vor einigen Jahren auch Erica Chenoweth, eine anerkannte Expertin in den Terrorismus betreffenden Fragen an der Wesleyan University in Middleton, USA.

Untersuchung aller Aufstände zwischen 1900 und 2006

Doch sie wollte es genau wissen und untersuchte daher gemeinsam mit der Wissenschaftlerin Maria J. Stephan alle Aufstände und Revolutionen zwischen 1900 und 2006 (323 Fälle, davon 105 gewaltfrei und 218 bewaffnet).

Die 2011 in den USA erschienene Studie "Why civil resistance works. The strategic logic of conflict" führte zu einem für sie überraschenden Ergebnis:

Gewaltfreie Aufstände sind beinahe doppelt so erfolgreich wie bewaffnete Revolutionen.Studie S. 9.

Als erfolgreich sehen die Autorinnen eine Kampagne an, wenn diese ihre Ziele zu 100 Prozent innerhalb eines Jahres erreicht hat, nachdem ihre Aktivitäten den Höhepunkt erreicht hatten. In den Jahren 2000 bis 2006 waren gewaltfreie Aufstände demnach sogar 5-mal erfolgreicher als bewaffnete Revolutionen.S. 8.  Gewaltfreie Kampagnen sind auch in allen Regionen der Welt erfolgreicher als bewaffnete Kämpfe.

Gründe und Bedingungen für erfolgreiche gewaltfreie Kampagnen

Die Autorinnen wählten für ihre Untersuchung den Begriff Kampagne. Sie verstehen darunter: eine Reihe von beobachtbaren, fortwährenden, zielgerichteten Massentaktiken oder Veranstaltungen mit der Absicht, ein politisches Ziel zu verfolgen.

Eine Kampagne kann von mehreren Tagen bis zu mehreren Jahren dauern. Es geht also nicht um eine einfache gewaltfreie oder bewaffnete Aktion, sondern um mehre Aktionen mit einem klaren Ziel. Wenn die Kampagne sich hauptsächlich auf den bewaffneten Kampf verließ, dann wurde sie als bewaffnet eingeordnet, wenn sie sich hauptsächlich auf gewaltfreie Methoden verließ, als gewaltfrei.

Die in der Studie analysierten Gründe, weshalb gewaltfreie Kampagnen erfolgreicher sind, können auch als Bedingungen für eine erfolgreiche gewaltfreie Kampagne betrachtet werden:

1. Die Fähigkeit, die Massen zu mobilisieren

Die durchschnittliche gewaltfreie Kampagne hat über 200.000 Teilnehmer - ungefähr 150.000 aktive Teilnehmer mehr als die durchschnittliche bewaffnete Kampagne.S. 33.

Die massenhafte Beteiligung ist einer der entscheidenden Faktoren für ein positives Ergebnis der Kampagne. Sie verstärkt die Widerstandskraft und erhöht damit die Wahrscheinlichkeit von Neuerungen.

Breit angelegte Aktionen können die Kosten für das Regime erhöhen, den Status Quo zu erhalten. Außerdem können Unterstützer des Regimes wie z.B. Sicherheitskräfte dadurch besser erreicht und überzeugt werden. Gewaltfreie Aktionen können viele Menschen mobilisieren:

… durch größere physische Beteiligungsmöglichkeit

Die aktive Beteiligung an einer bewaffneten Kampagne erfordert bestimmte physische Fähigkeiten wie Beweglichkeit und Ausdauer, die Bereitschaft zur praktischen Übung und die Fähigkeit, mit Waffen umzugehen und diese zu benutzen. Zusätzlich dazu wird eine psychische Stabilität abverlangt, da eine solche Kampagnenaktivität oftmals mit gesellschaftlicher Isolierung einhergeht. Gewaltfreie Kampagnen verfügen über mehr Möglichkeiten der Beteiligung. Sie bieten neben hochriskanten Aktivitäten (z.B. Demonstrationen, da es hier zu einer Konfrontation mit der Staatsmacht kommt) auch Aktivitäten mit geringerem Risiko (z.B. Streik oder Boykott). Gewaltfreie Kampagnen sind darüber hinaus offener für Frauen und für ältere Menschen.

… durch größere Öffentlichkeit

Die meisten Menschen beteiligen sich eher an Protesten, wenn sie erwarten, dass viele andere daran teilnehmen. Da bewaffnete Kampagnen in der Regel im Untergrund aktiv sind, sind sie schwerer wahrzunehmen.

Gewaltfreie Kampagnen können offener zu Aktionen aufrufen und werben. Gewaltfreie Veranstaltungen haben manchmal geradezu eine "Festival Atmosphäre". So kann es bei Demonstrationsveranstaltungen Konzerte, Straßentheater, Kabarett und Satire geben.

… durch kleinere Risiken und größere moralische Integrität

Gewaltfreie Kampagnen bieten den Menschen verschiedene Möglichkeiten zur Beteiligung, die sich in ihrer Verbindlichkeit und in ihren Risiken unterscheiden. Bewaffnete Kampagnen müssen sich viel stärker auf ihre Teilnehmenden verlassen.

Bei bewaffneten Kampagnen kommt die Hürde des Tötens hinzu. Menschen müssen trainiert werden, diese Hürde zu überwinden. In einem bewaffneten Kampf müssen sich die Anführer darauf verlassen können, dass ihre Milizen zum Töten bereit sind.

Da die Aktivitäten ein sehr hohes Risiko mit sich bringen, werden die Teilnehmenden geprüft, ob sie verlässlich sind. In gewaltfreien Kampagnen entfällt eine solche Art von Prüfung, da es weniger riskante Aktionsmöglichkeiten gibt.

2. Geringere Isolierbarkeit der beteiligten Personen

Ein weiterer Erfolgsfaktor ist die Heterogenität der Teilnehmenden. Die Akteure müssen sich aus vielen unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen zusammensetzen, damit eine gewaltfreie Kampagne erfolgreich ist.

"Je verschiedenartiger die Teilnahme am Widerstand ist - im Hinblick auf Geschlecht, Alter, Religion, Volkszugehörigkeit, Ideologie, Beruf und sozioökonomischen Status - desto schwieriger ist es für den Gegner, Teilnehmende zu isolieren …" Es fällt einem Regime in solch einer Situation schwerer, Repressionen anzuwenden und durchzusetzen.

3. Methodenwechsel erschweren Repressalien

Die gewaltfreie Kampagne wird effektiver, wenn sie zwischen verschiedenen Taktiken und Methoden variiert. Bei Methoden der Konzentration engagieren sich viele Menschen an einem zentralen Ort für ein gemeinsames politisches Ziel (z.B. Demonstrationen). Die Methoden der Dispersion finden an verschiedenen Orten statt und folgen eher dem Prinzip der Nichtkooperation (z.B. Boykott, Streiks). Der Wechsel zwischen den Methoden macht es einem bestehenden Regime schwerer, ein System von Repressionen aufrechtzuerhalten.

Hilfreich ist die Fähigkeit zur Innovation. Wenn sich das bestehende System auf eine Taktik eingestellt hat, kann es von Vorteil sein, wenn die Kampagne schnell eine neue Taktik entwickelt. Gewaltfreie Kampagnen verfügen aufgrund ihrer vielfältigeren und größeren Teilnehmendenzahl über mehr Möglichkeiten, neue Taktiken und Ideen zu entwickeln.

Weitere Vorteile von gewaltfreien Kampagnen

Ein Hauptargument aus der vorliegenden Studie für gewaltfreie Kampagnen ist die größere Wahrscheinlichkeit auf einen Erfolg. Es lassen sich aber noch einige weitere Vorteile nennen:

1. Weniger Tote, Verletzte und Zerstörungen

Auch bei gewaltfreien Kampagnen kann es Tote, Verletze und traumatisierte Personen geben. Aber die Zahl ist wesentlich geringer als bei bewaffneten Kämpfen. Dies macht auch die Versöhnung leichter. Erica Chenoweth nennt als Beispiel in einem Vortrag für den gewaltsamen Aufstand 2011 in Libyen 30.000 bis 50.000 Tote, dagegen im gleichen Jahr beim gewaltfreien Aufstand in Tunesien nur 221 Tote.Chenoweth, Erica: Why civil resistance works: Nonviolence in the past and future, Vortrag v. 3.2.2012 Rockefeller Center, Dartmouth College Hanover: http://www.youtube.com/watch?v=EHkzgDOMtYs ; 5 S. 213/216; 6 S. 217.

2. Höhere Wahrscheinlichkeit für eine Demokratie nach dem Konflikt

Bei erfolgreichen gewaltfreien Kampagnen ist die Wahrscheinlichkeit für die Durchsetzung einer Demokratie innerhalb von 5 Jahren nach der Revolution wesentlich größer als bei bewaffneten Aufständen.S 213/216.

Selbst gescheiterte gewaltfreie Kampagnen tragen nach Chenoweth und Stephan anders als bewaffnete Aufstände zu demokratischen Veränderungen bei.

3. Geringere Wahrscheinlichkeit für einen anschließenden Bürgerkrieg

Die Wahrscheinlichkeit, dass es erneut zu einer kriegerischen Auseinandersetzung kommt, ist bei bewaffneten Kämpfen wesentlich höher als bei gewaltfreien. Fast jeder zweite erfolgreiche bewaffnete Kampf ruft innerhalb von 10 Jahren einen erneuten bewaffneten Kampf hervor.S. 217.

4. Gewaltfreie Kampagnen benötigen weniger Zeit

Die durchschnittliche Dauer eines bewaffneten Aufstandes beträgt neun Jahre. Im Gegensatz dazu dauert eine gewaltfreie Kampagne durchschnittlich lediglich drei Jahre.

Externe Akteure sollten gewaltfreie lokale Gruppen unterstützen

Die Studie von Chenoweth und Stephan stellt fest, dass bei bewaffneten Kämpfen externe Hilfe in Form von Waffenlieferungen und Geld die Erfolgswahrscheinlichkeit steigern kann. Allerdings kam es in keinem dieser Länder zum Untersuchungszeitpunkt (2006) zu demokratischen Verhältnissen. Nach den Kämpfen herrschte sogar eine Situation im Land, die noch repressiver war als vorher.

Gewaltfreie Revolutionen bauen auf die Bevölkerung und die Institutionen, die sie versuchen zu überzeugen, d.h. sie bereiten auf diese Weise der Demokratie den Weg. Externen Akteuren (UNO, EU usw.) wird daher empfohlen, gewaltfreie lokale Gruppen zu unterstützen und ihnen die Koordination von Aktionen vor Ort zu überlassen.

Eine starke externe finanzielle Unterstützung kann auf der anderen Seite die Entschlossenheit der Oppositionsbewegung mindern, wenn die Frage nach dem Interesse der eingreifenden Länder auftaucht. Gewaltfreie Bewegungen könnten besser unterstützt werden, indem Trainings von gewaltfreien Aktionen angeboten werden oder Teilnehmende der gewaltfreien Kampagne die Möglichkeit haben, sich mit gleichgesinnten Akteuren aus anderen Ländern auszutauschen.

Die Ergebnisse der Studie ermutigen, sich gewaltfrei für Veränderungen einzusetzen

Leider zweifeln nach wie vor viele am Erfolg des gewaltfreien Widerstands. Deshalb möchte ich zum Schluss ein Zitat von Chenoweth und Stephan anführen, das an Zweifel anknüpft: "Aufständische, die behaupten, dass bewaffneter Widerstand notwendig ist, liegen wahrscheinlich immer falsch. In der Tat vermuten wir, dass viele Gruppen, die die Gewalt als letzte Zuflucht beanspruchen, möglicherweise niemals strategische gewaltfreie Aktionen angewendet haben, weil sie sie von vornherein, als zu schwierig beurteilten."

Stefan Maaß ist Diakon und Mitarbeiter der Arbeitsstelle Frieden der Evangelischen Landeskirche in Baden.

Das Buch zur Studie "Why Civil Resistance Works: The Strategic Logic of Nonviolent Conflict" von Erica Chenoweth und Maria J. Stephan ist 2011 im Verlag Columbia University Press erschienen und unter ISBN 0231156820 erhältlich.

Quelle: gewaltfrei konkret, Oktober 2013.

Fußnoten

Veröffentlicht am

27. November 2013

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