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1957: Wie im Mittelalter

Der Journalist Henri Alleg schreibt sein Buch "La Question" über die Folterkeller französischer Militärs in Algerien, deren sadistische Praktiken Wut und Abscheu erregen

Von Rudolf Walther

Während sich zwischen März und Mai 1954 mit der Schlacht um das Fort Dien Bien Phu eine französische Niederlage im Indochinakrieg anbahnt, formiert sich in Algerien das Comité Révolutionnaire pour l’Unité et l’Action (CRUA). Sein Ziel ist es, das Land vom Kolonialjoch Frankreichs zu befreien. Als am 1. November 1954 der Aufstand losbricht, ist man davon zwar noch Jahre entfernt, doch beginnt ein Unabhängigkeitskrieg, der nirgendwo sonst in Nordafrika seinesgleichen hat. Er dauert acht Jahre und sorgt dafür, dass die IV. Republik in einer Dauerkrise versinkt. Obendrein erschüttern immer wieder terroristische Anschläge das Mutterland.

Die Regierung in Paris überträgt deshalb General Jacques Massu, Kommandeur der 10. Fallschirmjägerdivision, am 7. Januar 1957 unter Missachtung einer rechtsstaatlichen Trennung von ziviler und militärischer Gewalt die polizeiliche Generalvollmacht für die Kolonie in Aufruhr. Massu soll Algerien "pazifizieren", sprich: von den Kämpfern der Nationalen Befreiungsfront (FLN) säubern. Es beginnt eine gnadenlose "Schlacht um Algier". Massu lässt im Stadtviertel El Biar ein Folterzentrum einrichten, in dem mutmaßliche Mitglieder der FLN so lange gequält werden, bis sie Geständnisse ablegen sowie Namen und Adressen von Mitkämpfern preisgeben. Am 28. Mai 1957 "antwortet" die FLN mit dem Massaker von Melouza (Mechta-Kasbah), bei dem über 300 Zivilisten ums Leben kommen.

General Massu erklärt seinerzeit, dass ein Krieg gegen den "internationalen Kommunismus" nicht allein "mit klassischen Kampfmethoden", sondern auch mit "verdeckten Operationen" geführt werden müsse, die "notwendig und moralisch gerechtfertigt" seien. Was das bedeutet, erlebt Harry Salem, der sich Henri Alleg (1921-2013) nennt, am eigenen Leib. Er ist Chefredakteur der Tageszeitung Alger républicain und wird zusammen mit dem Mathematiker Maurice Audin im Juni 1957 verhaftet. Während der Verhöre wird er geschlagen, mit brennenden Zigaretten gequält und mit Elektroschocks gefoltert. Während Audin die Tortur nicht überlebt und irgendwo verscharrt wird, kommt Alleg nach vier Wochen des Grauens in ein Zivilgefängnis und verfasst heimlich einen Report über Zustände und Praktiken im Folterzentrum von General Massu. Am 12. Februar 1958 erscheint Allegs aus dem Gefängnis geschmuggeltes, gut hundert Seiten umfassendes Buch unter dem Titel La Question im Pariser Résistance-Verlag Minuit. "Question" beziehungsweise "peinliche Befragung", das war die euphemistische Bezeichnung für den Gebrauch der Folter zwischen dem Mittelalter und dem 18. Jahrhundert. Obwohl Allegs Schrift sofort verboten wird, lassen sich Entsetzen und Empörung nicht mehr verhindern, so dass die französische Regierung eine Untersuchungskommission einsetzen muss. Es mehren sich die Berichte über sadistische Handlungen ebenso wie die Rechtfertigungsversuche. "Sogar Militärgeistliche wussten den Einsatz derartiger Mittel theologisch zu legitimieren", schreibt der Historiker René Rémond.

Schon vor der förmlichen Übertragung von Sondervollmachten an General Massu war es Ende 1956 im Dorf Melouza in der Kabylei nach dem Mord an einem französischen Offizier zu Repressionen gegen die Zivilbevölkerung gekommen. Die Armee ließ einige Männer des Dorfes verhaften und erschießen, willkürlich und ohne Gerichtsprozess. Zur Abschreckung wurden die Leichen der Getöteten auf einen Lastwagen gehievt und durch das Dorf und die umliegende Gegend gefahren. Der Bevölkerung sollte so verdeutlicht werden, was sie bei Widerstand gegen die Kolonialmacht zu erwarten hatte - eine kriegsrechtswidrige Methode, die im Algerienkrieg üblich war. Die unmittelbare Folge der Exekutionen war, dass der FLN den größten Teil der Dorfeinwohner für sich gewann. Bis dahin galten die meisten als Anhänger des rivalisierenden Mouvement National Algérien (MNA) von Mohammed Bellounis (1912 - 1958). Der verhandelte daraufhin mit französischen Offizieren und stellte den Ort Melouza - gegen den FLN - unter den Schutz der Kolonialarmee. Dorfangehörige denunzierten in den folgenden Wochen mehrere FLN-Kämpfer und lieferten sie so an die Franzosen aus, worauf der regionale FLN-Kommandeur ein Exempel statuieren wollte, aber zurückwich, weil die Dorfbevölkerung seiner Absicht entschlossen entgegentrat. Während der Schutz, den die französische Armee dem MNA gewährte, für ein labiles Gleichgewicht sorgte, vergifteten mehrere Niederlagen von FLN-Kämpfern in der Umgebung von Melouza das Verhältnis zwischen beiden Bewegungen noch mehr, als das ohnehin schon der Fall war.

Man muss dazu wissen: FLN wie MNA waren aus der Abspaltung vom Parti du Peuple Algérien - Mouvement pour le Triomphe des Libertés Démocratiques (PPA - MLTD) entstanden und sollten sich in der Zeit des Unabhängigkeitskrieges (1954 - 1962) in Frankreich wie Algerien heftige Kämpfe um die Vorherrschaft liefern und gegenseitig des Verrats bezichtigen. Dieser Bruderkrieg wurde mit solch erbarmungsloser Härte ausgetragen, dass ihn rund 10.000 Algerier nicht überlebten und doppelt so viele Verletzte zu beklagen waren. Mehrere Versuche, FLN und MNA zu versöhnen, scheiterten an der Unnachgiebigkeit beider Seiten. Eine komfortable Situation für den französischen Geheimdienst, um mit verdeckten Aktionen Misstrauen und Hass zwischen beiden Organisationen zu schüren und dies für eigene Zwecke zu nutzen. Bekannt geworden sind besonders die Operationen "Force K" und "Oiseau bleu", mit denen der FLN in der Kabylei bekämpft werden sollte, die jedoch gründlich schiefgingen. Ahmed Zaïdat (1913-2007), damals der mutmaßliche Gewährsmann des französischen Geheimdienstes, stand tatsächlich in den Diensten des FLN.

Ein spektakulärer Zusammenstoß der schwer verfeindeten Lager ereignet sich am 28. Mai 1957. Zuvor sind mehrere FLN-Kommandeure von der französischen Kolonialbehörde verhaftet worden - angeblich nach einer Denunziation durch MNA-Kader. Daraufhin kesselt ein Kommando von rund 350 Kämpfern der Armée de Libération Nationale (ALN) - so nennt sich der bewaffnete Arm des FLN - in den frühen Morgenstunden des 28. Mai das Dorf Melouza ein. Den schwachen Widerstand der MNA-Einheiten brechen die Angreifer innerhalb weniger Stunden, da den Gegnern die Munition ausgeht. Die ALN-Kombattanten lassen dann die männlichen Dorfbewohner auf dem Marktplatz antreten, führen die Wehrlosen in den nahegelegenen Weiler Mechta-Kasbah und erschießen, erstechen oder erschlagen 315 von ihnen, wie das französische Militär registriert, das erst zwei Tage später in dem zum Schlachthaus gewordenen Ort eintrifft.

Das Massaker löst weltweit Bestürzung aus. Die französische Armee tut, was sie kann, um Korrespondenten nach Melouza zu lotsen und eine Propagandalawine auszulösen. Obwohl es sich um eine blutige Abrechnung zwischen zwei rivalisierenden Widerstandsorganisationen handelt, gelingt es mit der Kampagne, eine angebliche Parteinahme der Dorfbevölkerung für die Franzosen als Grund für die mörderische Racheaktion des FLN hinzustellen. MNA-Chef Mohammed Bellounis unterstellt seine Kämpfer dem französischen Oberbefehl und kollaboriert nun erst recht mit der Kolonialmacht.

Der FLN unternimmt den ebenso aussichtslosen wie hilflosen Versuch, "die volle Verantwortung für die Brutalität des Gemetzels gegenüber der zivilisierten Welt", wie es in einer Erklärung heißt, der französischen Kolonialarmee in die Schuhe zu schieben. Das ist wenig glaubhaft. Der legendäre Haudegen Saïd Mohammedi (1912-1994), Deckname "Si Nacer", der Kommandeur des FLN-Kommandos in Melouza, räumt 1991 in einem Dokumentarfilm des Historikers Benjamin Stora freimütig ein, 1957 den Befehl erteilt zu haben, die männlichen Bewohner Melouzas "als Verräter zu erschießen".

Quelle: der FREITAG vom 26.07.2017. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Rudolf Walther und des Verlags.

Veröffentlicht am

02. August 2017

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