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Mystik, Poesie und Widerstand

Die Reformation als Prozess im Spiegel eines bekennenden Bewunderers des Mannes aus Nazareth

Am 27. Mai 2017, zum Evangelischen Kirchentag anlässlich des Jubiläums 500 Jahre Reformation gab neben der Gruppe City auch Konstantin Wecker ein Konzert in der Lutherstadt Wittenberg. Ludwig Schumann nahm die Tatsache des Konzerts zum Anlass, mit Konstantin Wecker über Prägungen, die wiedergefundene Spiritualität, über Poesie, Mystik und Widerstand zu sprechen.

Von Konstantin Wecker und Ludwig Schumann

Ludwig Schumann: Sie haben sich viel mit den christlichen Mystikern befasst, Sie bezeichnen Dorothee Sölles Buch Mystik und Widerstand als ein Schlüsselerlebnis, weil sie in diesem Buch die Verbindungen aufzeigt von der religiösen Tradition des Mystik bis zu den Freiheitskämpfen der Gegenwart - in 2017 präsentierte der ehemalige Katholik Konstantin Wecker sein Programm auf protestantischem Boden. Keine Gewissensbisse?

Konstantin Wecker: Ach, wissen Sie, es gibt natürlich Menschen, Protestanten, die sich im Lauf der Geschichte großartig gezeigt haben. Ich nenne Dietrich Bonhoeffer, der am 9. April 1945 im KZ Flossenbürg wegen seines Widerstandes gegen die Nazi-Diktatur hingerichtet wurde. Sie haben einleitend auf Frau Sölle hingewiesen, die ich als Vorbild verehre. Ich habe mit Margot Käßmann das Buch Entrüstet Euch!, ein Buch zum Thema Pazifismus, geschrieben. Es gibt also einige Berührungen mit dem Protestantismus.

LS: Margot Käßmann kennen Sie. Sind Sie auch Dorothee Sölle begegnet?

KW: Ich habe Mystik und Widerstand in meiner Biographie erwähnt. Es ist mir ein ganz wichtiges Buch geworden. Was mich persönlich im Nachhinein ärgert: Wir sind uns öfter in der Friedensbewegung über den Weg gelaufen. Ich war freilich damals nicht so mit ihrem Werk, ihrer Arbeit, vertraut, wie ich es nach ihrem Tod wurde. Insofern gibt es keine wirkliche Begegnung mit ihr. Frau Sölle war in ihrer Kirche nicht unumstritten. Das ist wahrscheinlich das Schicksal von Menschen, die anderen Menschen religiös ein Vorbild sein können, dass sie mit ihren jeweiligen Amtskirchen Ärger kriegen. Mein Freund Eugen Drewermann ist ja letzten Endes auch aus seiner katholischen Kirche ausgetreten.

LS: Was sehr schade ist, weil die Kirchen solche Menschen eigentlich pflegen sollten.

KW: Ja, ohne Zweifel.

LS: 2015 ist das Buch Liturgie von links - Dorothee Sölle und das Politische Nachtgebet in der Antoniterkirche von Anselm Weyer erschienen. In den Politischen Nachtgebeten ging es Dorothee Sölle und ihren Kölner Mitstreitern darum, den christlichen Gottesdienst zu politisieren. Das gab viele unterschiedliche Reaktionen, sowohl seitens der Kirche, als auch eine Bespitzelung durch den Bundesnachrichtendienst. Aus dieser Arbeit ging bei Sölle die Gründung der Bewegung Christen für den Sozialismus hervor, einer Bewegung, die sich ursprünglich im Chile Salvador Allendes gegründet hatte. Liegt es eigentlich im Urgrund des Glaubens, in seiner Subversivität, die man ja schon im Alten Rom fürchtete, dass viele, die sich ernsthaft mit dem Glauben beschäftigten, zu linken Ideen kommen?

KW: Der Revolutionär Jesus aus Nazareth, ich nenne ihn lieber wie Eugen Drewermann den Mann aus Nazareth, ist der Urgrund der barmherzigen Revolution. Für mich ist er der größte Revolutionär der Menschheitsgeschichte. Er hat in der Zeit der Massenmörder - nehmen wir nur die Kaiser des Römischen Reiches als Beispiel - das Recht auf Unversehrtheit des einzelnen Menschen, hat die Nächstenliebe zur Botschaft erhoben. Was für ein Paukenschlag in der Menschheitsgeschichte. Die Erkenntnis des Mannes aus Nazareth entwickelte eine solche Kraft, dass es nicht einmal den Kirchen gelang, diese Botschaft, trotz des häufigen Missbrauchs, zu zerstören. Ein großer Lichtblick ist da für mich als ehemaligen Katholiken der heutige Papst Franziskus. Ein erstaunlicher Mann, der es trotz zunehmender Machtfülle schafft, revolutionärer, uneitler und weniger der Macht verfallen zu sein. Er ist in seiner Kirche ja auch nicht unumstritten. Das macht für mich einen Mystiker aus. Mystiker ecken in ihrer Kirche an. Indem sie über ihre direkte Begegnung mit Gott sprechen können und keinen Vermittler brauchen - sich damit freilich auch der Aufsicht entziehen - also aus Innen leben, entziehen sie sich auch der Kontrolle der Kirchen. Damit können Institutionen überhaupt nicht umgehen.

LS: Ich darf noch mal erinnern: Kommen Ihrer Meinung nach Menschen, die sich einem politischen Glauben zuwenden, zwangläufig links an? Zumindest fallen mir da Namen wie Sölle, wie Friedrich Schorlemmer, der den Kapitalismus an seinem Ende sieht, wie Jean Ziegler, der sich kürzlich noch einmal zu seiner Vision, dass am Ende dieser klassenkämpferischen Zeit der Kommunismus stehe, bekannte, Bodo Ramelow, der thüringische Ministerpräsident, ein.

KW: In einer Karikatur der New York Times sagten Börsianer: Wir wissen ganz genau, dass der Kapitalismus am Ende ist. Aber bis dahin wollen wir noch viel als möglich absahnen.

LS: Vom englischen Autor Paul Mason erschien das Buch Postkapitalismus über den Niedergang des Kapitalismus. Seine These ist, dass die Informationstechnologie als treibende Kraft den Kapitalismus den Garaus macht, weil Wissen keine verkäufliche Ware mehr sein wird, Informationen für alle zugänglich sind und damit Märkte und Eigentum zerstört werden.

KW: Jedenfalls scheint mir die These richtig zu sein, dass der Kapitalismus seinem Ende entgegen sieht. Ich verstehe Jean Ziegler, den ich sehr schätze, durchaus, wenn er auf den Kommunismus hofft. Allerdings habe ich ein Problem mit -ismen überhaupt, also mit Ideologien. Von meinem idealistischen Gedankenbild her steht am Ende die Anarchie. Und zwar so, wie ich sie verstehe: Nicht als Chaos, das Böses schafft. Vielmehr als die gewaltfreie liebevolle Gesellschaft. Wenn das im Kommunismus möglich ist, wenn jemand den Kommunismus in dieser Weise träumt, dann kann ich diese Gesellschaftsform auch so nennen. Freilich habe ich im Hinterkopf, dass wir miterlebt haben, wie der Kommunismus von den verschiedensten Kadergruppen missbraucht worden ist. Die Grabenkämpfe der Linken haben dazu dem Neoliberalismus, der auf der Ideologie der Chicago-Boys beruht, die mit ihrer Theorie sich aufgemacht hatten, das Chile nach Allende wirtschaftspolitisch zu beglücken und dort krachend gescheitert sind, die Türen geöffnet und so mussten auch wir in den vergangenen Jahren erleben, wie die neoliberalistische global angerichtete Praxis eines ungezügelten Kapitalismus diesen scheitern ließ. Als Poet möchte ich darauf verweisen, dass jede Gesellschaftsordnung, der die Zärtlichkeit fehlt, scheitern wird.

LS: Weil die Zärtlichkeit die Ideologie aushebelt?

KW: Das ist die Chance der Zärtlichkeit, richtig. Sie hebelt die Ideologien aus. Aber ich will noch einmal auf Frau Sölle zurückkommen. Sie beeindruckte mich durch den aufrechten Gang, den sie immer bewiesen hat. Noch mehr beeindruckte mich, dass sie nie von ihrer Spiritualität, von ihrer Tiefe, von ihrem religiösen Grundbewusstsein Abstand genommen hat. Wobei sie nicht nur aus ihrer Kirche Angriffe erlebte, sondern auch aus der linken Szene, von den linken Materialisten. Was mich aber am meisten beeindruckte, war, dass sie aus ihrer Beschäftigung mit Theologie und Politik zu einem in seiner Konsequenz einschneidenden Schluss kam, übrigens nach ihrer Begegnung mit der großen alten Dame eines kompromisslosen Katholizismus, der Gründerin von Catholic Worker und Brot und Rosen, Dorothy Day, zugleich auch Pazifistin und Anarchistin: Sie stellte die entscheidende Frage nach dem Recht auf Eigentum des Menschen. Wieso gibt es eigentlich das Recht des Menschen auf Besitz? Das ist natürlich die Frage, die im Kapitalismus auf extremen Widerstand stößt. Bei Eugen Drewermann hörte sich das kürzlich in einem Vortrag folgendermaßen an: Ich möchte Ihnen, meine Damen und Herren, jetzt eine Frage stellen, die Sie wahrscheinlich erschüttern wird, Aber wollen wir nicht einmal die Frage zum Eigentum, zum Recht des Einzelnen auf Eigentum, aufwerfen?

LS: Das ist für mich auch die Schlüsselfrage, um die sich die Linke aus parteitaktischen Gründen bis heute herumdrückt.

KW: Diese Konsequenz fehlt der Linken weitgehend, ja. Das versuche ich ja in meinem Webmagazin www.hinter-den-schlagzeilen.de zu betonen. Ich bin der Meinung, dass eine politische Bewegung eine neue Spiritualität braucht. Die braucht sie, weil sonst dem Materialismus, diesem heute weltweit herrschenden Abgott, dessen Ideologie der Neoliberalismus ist, nicht beizukommen sein wird. Das eigene Bewusstsein, das Erkennen derselben, das bedarf der Spiritualität. Das kann man nicht in ideologische Zwangsjacken stecken. Das muss man selbst erfahren.

LS: Dorothee Sölle hatte im Nachdenken zum Ausgang der Politischen Nachtgebete in Köln formuliert: Unser Ziel war nicht die Gottesdienstreform, sondern reale Veränderungen mithilfe der Politisierung des Gewissens. Aus diesem Denken heraus entstand 1968 die Gruppierung Christen für den Sozialismus. Wie müsste denn das Ziel der Christen 500 Jahre nach der Reformation beschrieben werden?

KW: Papst Franziskus hat ja wiederholt darauf hingewiesen, dass ein wirkliches Christsein mit dem Kapitalismus, wie er sich heute wieder offenbart - und wie er schon immer war - nicht möglich ist. Ich würde mich nicht Christ nennen wollen, ich verstehe mich eher als ein bekennender Bewunderer des Mannes aus Nazareth.
Krishnamurti hat einmal gesagt: Ich bin Christ oder ich bin Moslem oder ich bin Jude ist schon eine Kriegserklärung. Dieser Kriegserklärung möchte ich ausweichen. Ich möchte keinen Krieg erklären.

LS: Wie lautet Ihre Hoffnung angesichts des erstarkenden nationalistischen Denkens. Ich vermeide den Begriff des Populismus im Zusammenhang mit den rechten Parteien, weil zum einen der Begriff des Populismus denunziert wird, er zum anderen kaschiert, dass es sich um knallharte nationalistische Bewegungen handelt. Der Umgang der AfD mit Björn Höcke zeigt es schreiend deutlich. Wer die Erinnerung an die deutsche Geschichte um 180 Grad drehen will, wer den Begriff des Völkischen wieder in den deutschen Sprachgebrauch integrieren will, wer in Goebbelscher Manier von Lügenpresse redet, ist nicht populistisch unterwegs, sondern im braunen Sinne nationalistisch.

KW: Ganz genau. Das sind faschistische und nationalistische Gruppierungen. Da gibt es nichts zu beschönigen.

LS: Ja, und meine Erfahrung der letzten Jahre ist, dass in unserer Gesellschaft in ganz starkem Maße das Gespräch der Menschen untereinander, miteinander fehlt.

KW: Es ist ganz interessant, das fällt mir in diesem Zusammenhang ein, dass der italienische marxistische Schriftsteller, Philosoph und Aktivist in der Tradition der Autonomen, Franco Bifo Berardi, den ich sehr schätze, kürzlich Deutschland als die letzte Demokratie in Europa bezeichnete. Das hängt damit zusammen, dass wir Deutschen, wie ich auch glaube, unsere Vergangenheit wirklich gut aufgearbeitet haben. Wir hatten die schrecklichste Vergangenheit in Europa, und die Aufarbeitung war dringend und bitter nötig. Ich habe das als Alt-68er miterlebt. Ich glaube, wir haben, mehr als andere europäische Länder, erkannt, was für ein unglaublich verbrecherischer Wahnsinn Teil unserer Geschichte war. Gerade darum ist die 180-Grad-Forderung von Höcke an Dummdreistigkeit nicht zu überbieten.
Ich habe nichts für Nationalismus übrig, in der Folge auch nichts für Patriotismus. Patriotismus ist nichts anders als Nationalismus in folkloristischem Gewand.
Ich habe erst kürzlich zum Thema ein Gedicht geschrieben:

Warum ich kein Patriot bin?

Weil ich gut ohne Patria leben kann,
ohne eine
in einen Nationalstaat gezwängte
Heimat,
ohne Vaterland.
Weil die ganze Welt, ja das ganze Universum,
meine Heimat ist
und weil ich mich den Tieren fernster Kontinente
manchmal näher fühle
als gewissen Menschen meines Heimatlandes.
Weil ich da zu Hause bin,
wo ich mir in der Stille selbst begegnen kann,
wo herzliche und offene Menschen meinen Weg säumen,
egal,
wo mich das Schicksal gerade hin verschlagen hat.
Weil mir mein Klavier heimatlicher ist
als ein grenzbewehrtes,
von Uniformierten bewachtes Land.
Weil ich meine von Kindheit erlernte Sprache
überall hin mitnehmen kann
und weil sie mich,
selbst wenn ich nicht verstanden werde,
immer versteht.
Ich bin kein Patriot,
weil Patriotismus ein erster Schritt ist
zu Überheblichkeit und letztlich
zu bewaffneten Auseinandersetzungen.
Weil gerade wir Deutschen doch gelernt haben sollten,
wie wichtig die Bewältigung
und zwar die immerwährende Bewältigung
der Schuld ist.
Einer Schuld,
die aus Patriotismus und Nationalismus
geboren wurde.
Die Welt darf nie aufhören
über den Holocaust nachzudenken,
denn er hat uns gezeigt,
zu welchen Schreckenstaten wir Menschen fähig sind.
Es ist nicht vorbei,
es schlummert ständig in uns allen.
Nationalismus ist eine lebensbedrohliche Seuche
und der Patriotismus dasselbe
in folkloristischem Gewand.
Ich bin kein Patriot,
weil nur Idioten
wieder diesem billigen Lockmittel
verantwortungsloser Menschenfänger
auf den Leim gehen.
Ich bin nicht stolz ein Deutscher zu sein,
denn was kann ich schon dafür
in dieses Land geboren worden zu sein.
Was hab ich dafür getan?
Im Nationalismus liegt keine Freiheit,
wie es uns die Parolen brüllenden Populisten der Rechten
einreden wollen.
Der Nationalismus ist der Anfang vom Ende der Freiheit.
Mein Credo?
Kein Volk, kein Staat, kein Vaterland.
Freie Menschen brauchen keine Krücken,
die aus geschichtsvergessener Dummheit
geschnitzt sind.

Und Nationalismus ist deshalb so gefährlich, weil in seiner Folge sich ein Volk über das andere erheben kann, das eine Volk sich wertvoller als das andere fühlt. Es ist nichts, was irgendwie gewachsen ist. Da wird mit Begriffen wie Vaterland hantiert. In meinem Lied Vaterland II habe ich gesagt:

Und glaubt mir Freunde, mir genügt
Mein Vater zur Genüge.
Ein ganzes Land als Vater war
schon immer eine Lüge.

Was ist ein Vaterland? Zäune, Grenzen, die durch Kriege willkürlich festgelegt wurden. Ich möchte dagegen alte Grenzen und Zäune niederreißen. In meiner Utopie gibt es keinen Platz für Vaterländer. Die große Chance nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges war dieses eine Europa, um, was ja 60 Jahre auch gelungen ist, nie wieder Krieg in Europa führen zu müssen. Ich habe das Glück gehabt, seit meiner Geburt, seit siebzig Jahren also, in Frieden leben zu dürfen. Ich lebe in einem Land, das seither den Krieg nicht kennt. Freilich ziehen inzwischen kleinere Kontingente Soldaten in die halbe Welt, die Bundesrepublik am Hindukusch und anderswo zu verteidigen. Das heißt, wir schicken schon wieder junge Leute in den Krieg. Damit kommt der Krieg auch verstärkt zu uns zurück.

LS: Es ist schon faszinierend zu beobachten, dass momentan mit Pulse of Europe aus der Erfahrung von AfD, der Entfaltung rechtsnationalistischer Bewegungen, dem Brexit und der Wahl Donald Trumps eine Bürgerbewegung entsteht, in der Menschen wieder motiviert sind, sich mit Körper und Stimme für dieses Europa einzubringen.

KW: Mir fehlen freilich noch Aussagen, für welches Europa diese Bewegung einstehen will. Ich vermisse noch ein Bekenntnis, dass es sich um ein Europa handelt, das nicht ausschließlich den Konzernen dient. Aber ich finde es schön, dass sich die europäische Idee auf diese Weise bei jungen Menschen wieder findet.

LS: Dazu gehört, dass sich ganz offenbar in stärkerem Maße als bis dahin für möglich gehalten, junge Leute angesichts der Tatsache, dass die solange für sicher geglaubte Demokratie bedroht ist, wieder politisieren und erkennen: Kämpfen wir nicht um diese Demokratie, besteht inzwischen die Gefahr, dass wir sie verlieren.

KW: Ein ganz wunderbarer, aber auch nötiger Effekt.

LS: Kommen wir zurück auf die Mystiker. Was finden Sie bei Ihnen Zukunftsweisendes?

KW: Was mich an der Mystik immer schon fasziniert hat war, um es ganz einfach zu sagen, dass sie Gott ohne Umwege oder Vermittlung durch einen Priester finden, dass sie Gott offensichtlich in ihrem tiefsten Innern finden, dass Gott sie selber anredet. Das hat zur Folge, dass sie sich kontrollierenden Strukturen entziehen. Daher rührt es, dass sie in allen Religionen verfolgt werden. So war beispielsweise am 17. Februar in den Medien von einem Angriff des IS auf einen Sufi-Schrein in Pakistan zu lesen. Ein Selbstmordattentäter sprengte sich inmitten der Gläubigen, die den Lal-Shabaz-Qualandar- Schrein besuchten, in die Luft. Die Sufi sind ein mystischer Orden im Islam. Von 80 Toten und 200 Verletzten war die Rede. Die Mystiker mit ihrer direkten Erfahrung Gottes stellen immer eine Bedrohung fester Strukturen und auf Kontrolle ausgerichteter Systeme dar. Sie gelten als subversiv, weil sie keine Macht zwischen sich und Gott in Anspruch nehmen. Sie sind also der Art ihres Zusammenlebens und -glaubens und ihrer Unbedingtheit im Gebet wegen für Organisationen und Institutionen nicht erträglich, die auf die Kontrolle von Menschen ausgerichtet sind. Wobei man festhalten muss: Mystiker haben nie angegriffen. Immer waren sie die Angegriffenen. Man kann aus der Geschichte der Mystiker erfahren, dass es bestimmte Kreise stört, wenn da einer ganz in Ruhe da sitzt und sagt: Hey, Leute, ich habe etwas erfahren: Die Welt gehört zusammen. Sie ist nicht geteilt. Menschen sind empathische Wesen, wie mir mein Freund, der deutsch-schweizerische Schriftsteller, Psychologe und Psychoanalytiker Arno Gruen, der 2015 im Alter von 92 Jahren verstarb, kurz vor seinem Tod gesagt hat. Seine Theorie, die er seit Jahrzehnten verbreitet hat, besagt, dass ein Menschenkind als ein empathisches Wesen geboren wird. Diese Erkenntnis wird mittlerweile auf wissenschaftlicher Ebene vehement bekämpft. Warum? Wirtschaftlich ist natürlich der Mensch als Wolf unter Wölfen viel interessanter. Nicht das empathische Wesen, sondern dass es ein Naturgesetz sei, dass der Mensch gierig ist, dass er andere übervorteilen möchte, dass er ein ausschließlich materialistisches Wesen sei, entspricht dem neoliberalistischen Weltbild, dem beispielsweise Herr Trump verfallen ist. Dieses Bild vom unsolidarischen Menschen dient bestimmten herrschenden Kreisen als erstrebenswertes Vorbild.

LS: Damit haben Sie die Schulpädagogik der letzen dreißig Jahre glänzend beschrieben.

KW: Ja, das ist es, wogegen auch Arno Gruen vehement vorging.

LS: Ihr letztes Programm hieß Revolution. Ihr neues, das Sie sich zum bevorstehenden 70. Geburtstag am 1. Juni geschenkt haben, heißt Poesie und Widerstand. Was heißt für Sie Revolution. Und warum ersetzen Sie Mystik durch Poesie?

KW: Von Rosa Luxemburg stammt das schöne Zitat:

Eine Welt muss umgestürzt werden, aber jede Träne, die geflossen ist, obwohl sie abgewischt werden konnte, ist eine Anklage; und ein zu wichtigem Tun eilender Mensch, der aus roher Unachtsamkeit einen Wurm zertritt, begeht ein Verbrechen. Das entspricht meinem Verständnis von Revolution. Ich strebe keine Revolution zur Gewalt an, sondern eine Revolution der Zärtlichkeit. Was das ist, erfährt man, wenn man in der Stille mit sich ab und an eins ist. Da wären wir wieder bei den Mystikern. Es gibt ja diese Erlebnisse, die man nur in der Stille findet. Ich durfte einen solchen Moment erleben. Ich saß unter einem Maulbeerbaum. Und plötzlich spürte ich: Das ist der absolute Friede. Das war ein Moment, an dem ich nichts brauchte, nichts wollte. In dem ich nicht allein war, aber auch nicht jemanden neben mir gebraucht hätte. Ich spürte einfach nur friedvoll da zu sein. Es scheint in uns etwas zu geben, was die Kirche das Paradies nennt, das freilich dort erst nach dem Tod zu erfahren ist. Die Mystiker erfahren es mitten im Leben. Wer das spüren darf, wird beileibe kein besserer, aber ein anderer Mensch. Das Wesen der zärtlichen Revolution ist, dass sie unverträglich mit Ideologien und festgefügten Strukturen ist.
Zur Poesie will ich sagen, dass mein Widerfinden der Spiritualität und des Religiösen mit meinem Verhältnis zur Sprache, zur Poesie zu tun hat. Weil ich mittlerweile anerkannt habe, dass Worte einfach Symbole sind. Wie das die Buddhisten so schön sagen: "Der Finger, der auf den Mond zeigt, ist nicht der Mond." Aus diesem Grund habe ich für mich auch nicht mehr das Problem, das Wort "Gott" zu verwenden. Früher viel mir das schwer, weil es für mich so belastet war. Ich habe mich in den letzten Monaten viel mit der Frage beschäftigt, was mich ein Leben lang an der Poesie gehalten hat. Rilke hat zur Poesie gesagt: "Die Dinge singen hör ich so gern." Und: "Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort." Und ich kam zu dem Schluss: Die Erkenntnis, dass nichts zu Ende interpretierbar ist, und dass wir gerade darum die Interpretationshoheit nicht den Mächtigen überlassen dürfen, das hat mich wohl lebenslang an der Poesie gehalten.

LS: Ich will noch mal auf das Faszinosum zu sprechen kommen, das die Mystiker bis heute umgibt. Wenn Sie sagen, dass die zärtliche Revolution unerträglich für Ideologien und fest gefügte Strukturen ist und daraus eher ungewollt der Widerständler wächst, scheint mir das ja auch für die Wirkweise der Mystiker zu gelten. Auch, um mal auf die Magdeburger Stadtheilige sprechen zu kommen, bei Mechthild von Magdeburg erwächst aufgrund der Bilder, die sie sieht, ein für sie endlich auch lebensgefährlicher Widerstand gegen die (un)geistlichen Strukturen der Kirche. So beschimpft sie beispielsweise die Domherren als stinkende Böcke. Andererseits ist sie ebenso klarsichtig, wenn sie die später selige Jutta von Sangerhausen, die in die vom Deutschen Ritterorden gerade besetzten ostpreußischen Gebiete geht, um dort in der Pflege ganz bewusst das andere Christentum, nicht das erobernde, sondern das mitleidende, zu verkörpern, lobt. Sie nimmt ihre Zeit hellwach wahr und gleicht sie mit den Bildern ab, die sie sieht. Das macht ihre Faszination bis heute aus.

KW: Mechthild, ja. Interessanterweise findet man unter den Mystikern viele Frauen. Allein im Umfeld Mechthilds von Magdeburg leben im Kloster Helfta, dem wichtigsten Frauenkloster des Mittelalters in Deutschland, die Mystikerinnen Gertrud die Große, die Patronin Südamerikas, und Mechthild von Hakeborn. Interessant ist auch, dass die Mystikerinnen auf Augenhöhe mit den Männern jener Zeit geredet haben. Auch in Feindschaften wie die der Magdeburger Domherren zu Mechthild steckt letzten Endes Achtung. Ihre Lebensleistungen wurden nicht unbedingt geliebt, aber anerkannt.
Ich war als Sprecher an dem Hörbuch Sophie Scholl - Das Verhör beteiligt. Ich sprach den das Verhör der Sophie Scholl führenden Kriminalobersekretär der Gestapoleitstelle München, Robert Mohr. Sophie Scholl wurde von Anna Clarin gesprochen. Wir verwendeten erstmalig die bis 1989 teils im zentralen Parteiarchiv des Instituts für Marxismus-Leninismus der SED, teils im Archiv des Ministeriums für Staatssicherheit in Dahlewitz-Hoppegarten gelagerten, bis dahin verschollen geglaubten Originalverhörprotokolle. Mir wurde bei diesem Gespräch schnell klar, dass Sophie Scholl, die mit einer solchen Ruhe in ihren Untergang ging, den sie aber eher als Notwendigkeit sah, eigentlich auch eine Mystikerin war. Ich staunte über die tiefe Erkenntnis und Verbundenheit mit ihrem Glauben dieser doch noch sehr jungen Frau, die ich da aus ihren originalen Antworten hörte.
Jetzt haben wir freilich nicht viel über Luther geredet.

LS: Wir haben eigentlich viel über Luther geredet. Für mich gehört er in die Reihe der Mystiker. Er kommt aus dem mittelalterlichen Denken. Er besitzt eine Tiefe des Glaubens wie selten einer, dazu eine Liebe zum Leben wie selten einer. Er gewinnt seine neue Erkenntnis aus der Tiefe seines Glaubens und lässt sie sich um nichts in der Welt abhandeln.

KW: Ja, ich denke auch so. Ohne dass er in dieser Tradition stünde, wäre er wahrscheinlich nicht zu dieser mutigen, konsequenten Haltung gekommen.

LS: Denn darin wird offenbart die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, welche aus dem Glauben kommt und zum Glauben führt; wie geschrieben steht: Der Gerechte wird aus dem Glauben leben. Das war der Satz aus dem Brief des Paulus an die Römer, der Luther in seinem Turmerlebnis die entscheidende zukunftsweisende Erkenntnis gab: Die Gnade Gottes muss man sich nicht verdienen, die erhält man im Glauben an Jesus geschenkt. Mit anderen Worten: Plötzlich war der Bürger frei und zugleich in Verantwortung. Für die Begegnung mit Gott brauchte es keinen Mittler mehr. Und wenn Mittler, also Pfarrer, dann musste der Bürger den Pfarrer kontrollieren, ob er noch die Kenntnis der Bibel verbreitete. Dazu musste der Gläubige aber Lesen und Schreiben können. Also brauchte es eine Schulbildung für alle, nicht nur für die Eliten. Das war revolutionär. Und wurde durchgesetzt. Wir verdanken letztlich unser Bildungssystem der Reformation. Wenn wir aber festhalten, wo wir heute stehen, braucht es wieder eine Korrektur. Es braucht den freien Zugang zum Bildungssystem. Sonst kommen wir wieder da an, dass die Bildungszugänge eben nicht mehr frei sind, weil es eine Reihe beispielsweise sozialer Hindernisse auf dem Wege zur Bildung gibt. Zudem muss man Bildungsinhalte neu definieren. Reformen können sich nicht in einer Digitalisierungsvorbildung erschöpfen. Ja, und die andere große Errungenschaft des freien Bürgers ist die Verantwortung für die Gesellschaft, beispielsweise in der Einrichtung des Armenkastens, der die willkürliche Almosenvergabe der Kirchen ablöste. Die Bürger mussten dafür sorgen, dass der Armenkasten gefüllt war, sie mussten also soziale Verantwortung, heute würde man von Solidarität reden, übernehmen. Das war und ist der Preis der Freiheit: Das Mühen um Bildung und die Verantwortung für soziale Gerechtigkeit zu sorgen. Das ist mit der 500-Jahr-Feier nicht erledigt.

KW: Ich möchte gern hinzufügen, was mich trieb, anlässlich des Reformationsjubiläums in fremden Gefilden zu wildern. Es gibt in den Kirchen, da schließe ich die katholische Kirche mit ein, einfach ganz wunderbare, sehr engagierte Menschen, die beispielsweise in der Flüchtlingshilfe, in der Kranken- und Altenpflege tätig sind und anderweitig sich engagieren. Diesen vielen großartigen Menschen, denen man da begegnet, bin ich für ihre Arbeit, ihr Dasein dankbar. Das sind die, die still sind, nicht laut. Für die gilt, was ich in meinem Lied schrieb:

Es sind nicht immer die Lauten stark,
nur weil sie lautstark sind.
Es gibt so viele, denen das Leben
ganz leise viel echter gelingt.

Mein Engagement ist mithin nichts anderes als ein Dank für das Engagement dieser Menschen, die unserer Demokratie das menschliche Gesicht geben.

LS: Danke. Damit schließt sich der Kreis zum Anfang unseres Gesprächs. Ich höre daraus einen Nachklang des Politischen Nachtgebets und finde einen ehemaligen Katholiken als sanften Revolutionär auf protestantischem Boden. Danke für das Gespräch, lieber Konstantin Wecker.

Anselm Weyer: Liturgie von links. Dorothee Sölle und das Politische Nachtgebet in der Antoniterkirche. Herausgegeben für die Evangelische Gemeinde Köln von Markus Herzberg und Annette Scholl. 104 Seiten mit 20 s/w Abbildungen. Klappenbroschur
Format 12,5 x 20,5 cm, 9.90 Euro. 978-3-7743-0670-7

Konstantin Wecker: Poesie und Widerstand. 2 CDs. Label: Sturm & Klang, 2017. Bestellnummer: 6485964. Erscheinungstermin: 26.5.2017

Sophie Scholl - das Verhör. Audio CD: 4 Seiten (2. November 2015). 4 Seiten Anzahl Disks/Tonträger: 1. Label: Rabenmütter Verlag (Delta Music). ASIN: 394233612X

Quelle: Hinter den Schlagzeilen - 17.07.2017.

Veröffentlicht am

19. Juli 2017

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