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Anschlag in Kabul - Ein kalter Technokrat

Über afghanische Zustände und einen Innenminister, der sie bewusst ignoriert und das Ressentiment füttert.

Von Thomas Seibert

Zum Abschluss der Reise, die uns Ende April nach Kabul führte, gehörte der Besuch der Deutschen Botschaft im Distrikt Wazi Akbar Khan: einem Stadtteil der Reichen und der Diplomaten, deshalb der am stärksten bewachte Stadtteil Kabuls. Nämlicher Stadtteil also, in dem jetzt das verheerende Bombenattentat stattfand. Damals gingen meine Kollegin Eva Bitterlich und zwei Mitarbeiter unserer afghanischen Partnerorganisation AHRDO in die von hohen Mauern umstellte Botschaft, wie alle anderen Häuser der Straße mehrfach abgeriegelt. Begrüßt wurden sie von einer Botschaftsangestellten, die sich zum Gang in den Innenhof eigens eine schusssichere Weste angelegt hat. Beim Betreten des Gebäudes legte sie die Weste wieder ab.

"Die Abschiebungen werden aber rasch nachgeholt." Thomas de Maizière

Ich selbst blieb mit Yonos, einem AHRDO-Kollegen, draußen vor der Tür. Unseren alten Toyota parkten wir am Straßenrand schräg gegenüber der Botschaft. Um uns die Wartezeit bis zur Rückkehr der Kollegen zu vertreiben, stiegen wir aus dem Wagen, beobachteten den vorüberrollenden Verkehr und die bewaffneten afghanischen Wachen vor dem Eingang zur Botschaft. Einen Monat später, am 31. Mai, wird ein Wachsoldat genau an dieser Stelle zum Opfer eines ungeheuren Sprengstoffanschlags: wie über 90 andere Passant*innen zerfetzt von einer Sprengstoffladung, deponiert auf der Ladefläche eines LKW, der Fäkalien aus den umliegenden Sickergruben abtransportierte. Der Fahrer zündete seine tödliche Fracht etwa an der Stelle, wo unser Toyota stand.

An eben diesem grauenvollen Tag hätte ein deutsches Flugzeug eine Gruppe afghanischer Geflüchteter von Frankfurt nach Kabul ausfliegen sollen. Nach den Meldungen aus Kabul sieht sich der deutsche Innenminister genötigt, den Flug abzusagen. Das allerdings nicht in Revision seiner Behauptung, wonach Afghanistan zwar nicht im Ganzen, doch in Teilen ein sicheres Herkunftsland sei. Auch nicht, wie man hätte denken können, aus Pietät oder wenigstens aus einem Anflug von Scham angesichts der Toten und der über 300 Verletzten. Nein, de Maizière stoppt den Flug, weil "die deutsche Botschaft eine wichtige logistische Rolle beim Empfang rückgeführter Personen vor Ort hat, die dortigen Mitarbeiter so kurz nach dem Anschlag aber Wichtigeres zu tun haben, als solche organisatorischen Maßnahmen vorzubereiten." Der Minister fährt fort: "Die Abschiebungen werden aber rasch nachgeholt."

Am Abend dieses Tages verlese ich diese ungeheuerlichen Sätze im Rathaus von Offenbach-Mühlheim, auf einer Veranstaltung, zu der der "Freundeskreis der Mühlheimer Flüchtlinge" und der städtische Ausländerbeirat eingeladen haben. Die etwa 60 Gäste, darunter der Bürgermeister des Ortes, sind fassungslos. In Mühlheim sind fünfzig afghanische Geflüchtete von der Abschiebung nach Afghanistan bedroht. Die im Saal versammelten Bürger*innen wollen das nicht hinnehmen. Ich berichte ihnen von der gerade zurückliegenden Reise und von der Lage im Land. Dazu gehören die Zahlen, die - wie eigentlich alle wissen - den deutschen Innenminister und seine Regierung längst schon der offenkundigen Lüge überführen. Ich erinnere, dass der bewaffnete Konflikt in Afghanistan allein im Jahr 2016 11.418 Zivilist*innen das Leben gekostet hat: die höchste Zahl an Toten seit 2002, und doch eine Zahl, die aller Wahrscheinlichkeit viel zu niedrig geschätzt ist - ganz abgesehen davon, dass sie nur die getöteten Zivilist*innen nennt. 30% des Landes sind heute unter der Kontrolle der Taliban, in 14 von 34 Provinzen herrscht offener Krieg. Er wird nicht nur zwischen den Taliban, den sog. afghanischen Sicherheitskräften und den verbliebenen ISAF-Truppen, sondern von einer kaum zu überblickenden Vielzahl bewaffneter Verbände geführt. Obwohl alle diese Milizen politische Ansprüche vertreten, handelt es sich stets auch um Raub- und Söldnerbanden, die wortwörtlich auf eigene Rechnung operieren. Das gilt nicht nur für die befehlshabenden Warlords, sondern für alle ihre Kämpfer, auch für die der Taliban oder den afghanischen IS: viele schließen sich diesen Verbänden an, weil man so ein Einkommen erhält. 80% der afghanischen Jugend ist einkommenslos. Der weitgehende Abzug der ISAF-Truppen hat tausende Jobs gekostet. Halbwegs sichere Einkünfte hat nur, wer ein Staatsamt sein eigen nennen kann. Alle anderen überleben eher schlecht als recht in der städtischen oder ländlichen Subsistenzökonomie, das heißt von der Hand im Mund. Ökonomisch aussichtsreich ist allein der Opiumanbau. All’ das weiß auch der deutsche Innenminister.

Nirgendwo ist es sicher

Sicher ist es unter diesen Umständen nirgendwo. Das aber resultiert nicht nur aus der allgegenwärtigen Gewalt und aus der ökonomischen Aussichtslosigkeit, sondern auch aus den zugrundeliegenden ethnisch-religiösen Spaltungen und ihrer unermesslichen Vertiefung in den Jahrzehnten des Krieges. Dort, wo es etwas weniger unsicher ist als anderswo, kann sicher nur leben, wer die ethnische Herkunft und religiöse Orientierung der Leute vor Ort teilt. Wer anderer Herkunft oder anderen Glaubens ist, ist in jedem Fall von Ausgrenzung, in vielen Fällen von Gewalt, nicht selten vom Tod bedroht. Weil das so ist, hat sich die Einwohner*innenzahl der Hauptstadt Kabul in den letzten fünfzehn Jahren vervielfacht: von 500.000 auf rund sieben Millionen Menschen. Doch sind eben deshalb 70% der Wohngebiete Kabuls Slums. Die Stadt wächst täglich um Hunderte Männer, Frauen und Kinder an. Allein im Jahr 2016 wurden 1, 2 Millionen Afghan*innen von ihrem angestammten Wohnort vertrieben, über 620.000 infolge direkter militärischer Gewalt. Hinzuzurechnen sind - wiederum allein für das vergangene Jahr - über eine Million afghanische Geflüchtete, die zum Teil Jahrzehnte in Iran und Pakistan gelebt haben und von den dortigen Regimes jetzt zur Rückkehr gezwungen werden - aus Pakistan aktuell täglich 5000. Nach UN-Schätzungen werden im laufenden Jahr insgesamt 9, 3 Millionen Afghan*innen in ihrem täglichen Überleben von humanitärer Hilfe abhängig sein: im Vergleich zu 2016 ein Zuwachs von 13%.

Wenn der deutsche Innenminister trotzdem weiter abschiebt, unterscheiden sich seine Motive nicht um ein Komma von den Motiven der Regime in Teheran und Islamabad. Sie folgen allein rein innenpolitischen Machtkalkülen im Blick auf die rassistischen Einstellungen eines erheblichen Teils ihrer jeweiligen Wähler*innen. Weil das so ist, bleibt ihnen nur die schamlose Lüge. Der deutsche Innenminister sticht dabei durch die Kälte seines technokratischen Jargons hervor, verdichtet noch einmal in den furchtbaren Sätzen, mit denen er die vorübergehende Aussetzung von Abschiebungsflügen zu begründen sucht. Auf ihn und auf seine europäischen Amtskolleg*innen können die von brutaler Missachtung, vom Elend und vom Tod Bedrohten so wenig rechnen wie auf die zuständigen Minister Pakistans und des Iran. In Offenbach-Mühlheim betrifft das aktuell 50 Menschen. Unmittelbar bedroht sind in Europa zurzeit 80.000 afghanische Geflüchtete, in Deutschland etwa 11.000. Sie können im Moment auf nichts anderes zählen als auf den Mut einiger ihrer Mitbürger*innen am Ort ihrer jeweiligen Zuflucht. Der Stadtrat von Würzburg hat am 12. Mai mit einer Mehrheit von 23 zu 22 Stimmen beschlossen, sich Abschiebungen afghanischer Mitbürger*innen zu verweigern. Am Tag des Anschlags von Kabul haben Nürnberger Schüler*innen trotz brutaler Polizeigewalt versucht, einen afghanischen Mitschüler aus den Klauen derer zu befreien, die ihn zur Abschiebung zwingen wollen. Das ist nicht viel, aber doch ein Anfang. Mehr als diesen Anfang haben wir nicht. Minister de Maizière hat demgegenüber nichts als die Lüge, die Gewalt und die Einstimmung ins rassistische Ressentiment.

Quelle: medico international - 01.06.2017.

Veröffentlicht am

01. Juni 2017

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