Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

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“Gewalt hat viele Gesichter”

Alltägliche Formen von Gewalt

Von Michael Schmid Vortrag beim Ökumenischen Nachmittag "Mit Gewalt Leben?" am 12. November 2000 in Bietigheim-Besigheim.

Bei Gewalt denken wir sofort an Krieg, an Mord und Totschlag, an Folter, an Schlägereien. Diese Gewaltformen stehen zwar vielfach auf der Tagesordnung in dieser Welt. Aber sie bestimmen zum Glück nicht - oder noch nicht - unseren Alltag. Es gibt aber noch ganz andere Formen von Gewalt, um die es nachfolgend gehen soll.

I. Beispiel von Gewalt

Ich möchte einen Ausschnitt aus einem Artikel der Frankfurter Rundschau vorlesen, das zeigt, in welcher Form Gewalt in unserem Alltag vorkommen kann.

Sabine A. ist, als sie die Stelle in der süddeutschen Kleinstadt antritt, gerade 48 Jahre alt. Ein früherer Kollege hatte sie von Hamburg geholt, da sich beide schon lange kannten und er selbst ein halbes Jahr zuvor die Leitung des Zweigbüros übernommen hatte.

"Wir hatten eine gute Zeit", erzählt die Frau mit den grauen Strähnen im Haar. Doch dann, nach zwei Jahren, Sabine A. kommt gerade von einer Urlaubsreise zurück, ist plötzlich alles anders: Ihr Chef ist tot, ein neuer Vorgesetzter sitzt auf seinem Stuhl. Der stellt der verdutzten Frau sofort ihre Nachfolgerin vor mit den Worten: "Sie werden doch hier nicht bleiben wollen." Sie will aber, hat immerhin zwei Jahre zuvor ihren gesamten Hausstand von Hamburg an diesen Ort verlegt.

Was die Architektin damals nicht ahnt, ist die Tatsache, dass mit diesem kurzen Dialog ihr Schicksal schon besiegelt ist. Sie soll gehen, ist aber mit 50 Jahren und guten Leistungen nicht so ohne weiteres kündbar.

Zunächst verhält man sich ihr gegenüber nur distanziert. Bald wird sie nicht mehr gefragt, ob sie an gemeinsamen Aktivitäten teilnehmen will. Im Gegenteil - als sie eine neue Kollegin ins Zimmer bekommt, steckt ihr Chef zu Mittag seinen Kopf durch die Tür, sagt zu der Neuen: "Frau X., gehen Sie mit uns essen?" Sabine A. erinnert sich bitter: "Ich existierte plötzlich nicht mehr, aber das war erst der Anfang."

Nach etwa einem weiteren Jahr kommt die frustrierte Architektin mit vier offenen Magengeschwüren ins Krankenhaus. Kaum wieder draußen, geht die vorher subtile Art der Kriegführung in offene Konfrontationen über. Ihr wird vermittelt, sie möge den wöchentlichen Konferenzen fernbleiben, sei nicht erwünscht.

Sabine A. reagiert nach außen hin stark. Doch innerlich bricht ihr Selbstwertgefühl zusammen. Sie meidet Menschen, bewegt sich nur noch zwischen Arbeitsplatz und Wohnung. In dieser Situation hilft ihr ein Arzt weiter. Langfristig vergebens. Ihre Arbeit wird der neuen Kollegin übertragen, ihr selbst gibt man minderwertige Jobs. Nur mit äußerster Mühe gelingt es ihr, immer wieder an den verhassten Arbeitsplatz zu gehen, bis der Arzt ihr zu einem Klinikaufenthalt rät.

Pflichtbewusst gibt sie den Aufnahmebescheid für die Klinik im Vorzimmer des Chefs ab und fährt nach Süddeutschland. Kaum dort angekommen, bekommt sie ein Einschreiben/Rückschein. Die ärztliche Krankmeldung fehle, man nähme an, sie verbringe dort ihren Jahresurlaub. Ein Nervenzusammenbruch ist die Folge. Da hilft es auch nicht, dass der Chefarzt ihr versichert, bei diesem Haus handele es sich um ein Akutkrankenhaus, da benötige man keine ärztliche Krankmeldung.

Nach drei Monaten kommt Sabine A. zurück und findet ihren Arbeitsplatz im Keller ohne Tageslicht, ohne Telefon. Man habe keinen anderen Platz mehr, wird ihr kühl erklärt, es wolle sie niemand bei sich haben.

Die entsetzte Frau wendet sich an ihre Gewerkschaft. Eine schwache Resonanz, ohne dass Gespräche mit dem Arbeitgeber folgen. Sie greift zur Selbsthilfe, ruft das Gewerbeaufsichtsamt wegen des unzumutbaren Arbeitsplatzes an. Als ein Beamter sich die Büros ansehen will, hat der Chef keine Zeit. Die Mitarbeiterin führt ihn selber durchs Haus. Erste Abmahnung! Der folgt bald eine zweite, weil sie ein Privatgespräch von einem firmeneigenen Telefon geführt hatte. Die Ereignisse überschlagen sich. Die Frau unternimmt einen Selbstmordversuch und ist danach über zwei Jahre krank mit mehreren Klinikaufenthalten, wird innerhalb dieser Zeit entlassen mit einer Abfindung von nur 20.000 Mark. Der Anwalt empfiehlt ihr, es nicht auf einen Arbeitsprozess ankommen zu lassen. Mehr sei nicht zu erwarten nach nur fünf Jahren Firmenzugehörigkeit.

Auszug aus: Margrit Himmel-Lehnhoff: Ein Arbeitsplatz im Keller. Frankfurter Rundschau vom 15.01.2000.

Dieses Beispiel zeigt, Gewalt ist nicht nur da, wo Krieg mit Waffen geführt oder gemordet wird. Gewalt kann sich auch hinter einem anderen Gesicht verbergen. Bei Mobbing etwa, wie in diesem Fall.

II. Gewaltdefinition

Darüber, was Gewalt ist, gibt es unterschiedliche Auffassungen. Ich verstehe unter Gewalt eine Kraft, die Leben behindert, verletzt, quält, zerstört, eine Kraft, die dem Wohl der Menschen und der Natur entgegensteht. Gewalt stellen also Aktionen, Situationen und / oder Ausbrüche dar, welche entweder die Existenz, oder die Identität oder Integrität von Sachen oder Lebewesen durch die Androhung oder Anwendung entsprechender Mittel gefährden, beschädigen oder zerstören.

Gewalt kann man erkennen entweder an den damit verbundenen Schädigungsabsichten oder an den Schädigungsfolgen. Das heißt, Gewalt ist häufig beabsichtigt - wie in unserem obigen Mobbing-Beispiel gezeigt. In allen solchen Fällen sticht Gewalt als Mittel dadurch hervor, dass ihr Einsatz denjenigen, die sie wählen, besonders geeignet erscheint, ihren Willen entgegen dem anderer auszuüben, weil diese anderen mit Hilfe der Gewalt besonders verletzt werden können.

Schädigungsfolgen durch Gewalt können auch unbeabsichtigt sein. Wenn ich als Kollege mich zwar nicht aktiv am Mobbing beteilige, aber in einem solchen Fall wegschaue, dann beabsichtige ich zwar nicht die Schädigung, aber ich nehme billigend in Kauf, dass jemand geschädigt wird. Oder wenn ich Bananen kaufe, dann ist es nicht meine Absicht, jemand zu schädigen. Ich kaufe sie, weil sie mir schmecken. Aber ich unterstütze damit wahrscheinlich die Ausbeutung von Arbeitern und Arbeiterinnen in der "Dritten Welt", die Auslaugung ihrer Böden durch Monokultur, massiven Einsatz von Dünger und Pestiziden, die Monopolisierung des internationalen Handels. Mit einer alltäglichen Handlungsweise wie dem Bananenkauf trage ich also dazu bei, dass irgendwo anders auf dieser Welt Menschen und ihre natürlichen Lebensgrundlagen zu Schaden kommen, ohne dass ich dies unmittelbar beabsichtige.

Schon diese wenigen Ausführungen zeigen, dass Gewalt ein sehr komplexes Phänomen ist, das in vielen Formen und Bereichen mit unterschiedlicher Intensität auftritt. Sie hat viele, oft wechselnde Gesichter. Gewalt wird mit den unterschiedlichsten Motivationen und Mitteln ausgeübt. Sie ist in fast allen Lebensbereichen anzutreffen.

III. Formen von Gewalt

Dem norwegischen Friedensforscher Johan Galtung verdanken wir grundlegende Untersuchungen und Definitionen zur Unterscheidung verschiedener Formen der Gewalt. Seit einigen Jahren arbeitet Galtung mit einem Dreieck, in dem er zwischen direkter, struktureller und kultureller Gewalt unterscheidet.

Direkte oder personale Gewalt: Die direkte Gewalt hat einen Täter und ein Opfer. Sie kann sich gegen den Körper richten, aber auch gegen das Denken und den Geist. Dazu gehören eindeutig das Töten, Verletzungen, Folterungen, dauerhafte körperliche und/oder psychische Schädigungen.

Es gehören aber auch Formen dazu wie

  • Verleumdung (besonders krasses Beispiel: Das erbarmungslose Umgehen mit Christoph Daum),
  • Demütigung und Diskriminierung (z.B. Heimleiterin eines Asylbewerberheimes lässt einfach die Tischtennisplatte entfernen, welche die Kinder geschenkt bekommen haben; Flüchtlinge erhalten keine Reisegenehmigung, um den Landkreis zu verlassen, in dem sie zufällig untergebracht wurden),
  • Mobbing, wie oben gezeigt. Mobbing in Betrieben betrifft inzwischen in Deutschland über 1,5 Millionen Menschen, die entwürdigt, erniedrigt und ohne Selbstwertgefühl in ihrer Arbeit dahinvegetieren.

Die Folgen dieser psychischen Formen von Gewalt können ebenfalls bis hin zu schweren seelischen und körperlichen Schädigungen, ja bis zum Tod reichen. So soll jeder sechste vollendete Selbstmord auf Mobbing zurückzuführen sein.

Strukturelle Gewalt: Strukturelle Gewalt äußert sich meist indirekt und hat keine unmittelbar sichtbaren Verursacher. Sie liegt nach Galtung immer dann vor, wenn Menschen so beeinflusst werden, dass sie sich aktuell nicht so verwirklichen können, wie dies eigentlich potentiell möglich wäre. Wenn also jemand im 18. Jahrhundert an Tuberkulose starb, kann dies nicht als Gewalt ausgelegt werden, weil dies damals kaum zu vermeiden war; wenn aber heute jemand trotz aller medizinischen Hilfsmittel der Welt daran stirbt, dann haben wir es mit struktureller Gewalt zu tun. Eine Lebenserwartung von dreißig Jahren war in der Steinzeit kein Ausdruck von Gewalt; strukturelle Gewalt ist aber zum Beispiel die vermeidbare Katastrophe, dass täglich 40.000 Kinder aufgrund mangelhafter Nahrungsversorgung sterben müssen.

Strukturelle Gewalt ist als Ungleichheit in Bezug auf Machtverhältnisse und Lebenschancen, also in Form ungerechter Sozialverhältnisse, in das politische und wirtschaftliche System eingebaut. Fehlende Bildung bzw. Ausbildung, Arbeitslosigkeit, fehlende hygienische und medizinische Standards mit der Folge von Seuchen, Epidemien und Kindersterblichkeit, entwürdigende Wohnverhältnisse zählen beispielsweise dazu. Auch in unserer Gesellschaft wächst Armut enorm an.

Neben den direkten Auswirkungen auf Gesundheit und Leben zieht strukturelle Gewalt eine Störung des Selbstwertgefühls und selbstzerstörerische Ohnmachtsgefühle nach sich. Alkoholismus, Drogenabhängigkeit und politisch-soziales Flucht- bzw. Rückzugsverhalten liegen in ihrem Machtbereich.

Kulturelle Gewalt: Kulturelle Gewalt ist jene Gewalt, die andere Formen der Gewaltausübung begleitet, rechtfertigt und damit ermöglicht. So kann zum Beispiel ein Mord, der für das Wohl des Staates verübt wurde, als moralisch richtig interpretiert werden, wenn er dagegen aus individuellem Motiv geschah, als moralisch falsch.

Kulturelle Gewalt kann aber gleichzeitig eine eigenständige Form der Gewalt sein, die selbst Verletzungen hervorruft. Das kann mit der Schmähung und Beleidigung eines "Anderen" anfangen, mit der Aussonderung einer bestimmten Bevölkerungsgruppe weitergehen (Ausländer, Behinderte, Randgruppen). Es kann münden in Ideologie-Gebäuden, die erklären, warum die einen Menschen besser, höherstehend, lebenswerter als die anderen sind. Die Appelle, zu einem "auserwählten Volk" oder zu einer "überlegenen Rasse" zu gehören, sind Beispiele kultureller Gewalt.

Übrigens lässt die aktuelle Debatte über rechte Gewalttaten leider allzu oft den Blick auf die gesellschaftlichen Ursachen vermissen. In unserer Gesellschaft wird das Konkurrenzdenken verabsolutiert und die Gesellschaft immer brutaler. Das Denken kreist in unserem Land immer mehr darum, den Wirtschaftsstandort Deutschland zu stärken. In einer Art "neoliberaler Wettbewerbswahn" wird suggeriert, die Deutschen stünden auf den internationalen Märkten einer Welt von Feinden gegenüber und müssten großen Erfindungsgeist, Fleiß und Opfergeist zeigen, um Überlegenheit zu beweisen. Von Unternehmern, marktradikalen Politikern und liberal-konservativen Publizisten wird der Kampf aller gegen alle propagiert. Dieses Konkurrenzdenken, diese Ellbogenmentalität, diese Haltung, dass nur noch der Starke, Erfolgreiche zählt, sitzt also im Zentrum unserer Gesellschaft. Und aus der Mitte unserer Gesellschaft heraus werden beispielsweise im Zusammenhang mit Asyl Bedrohungsszenarien entwickelt und Feindbilder gegen Fremde konstruiert. Erinnert sei an Parolen wie "Das Boot ist voll" und "Kinder statt Inder". Das alles kommt aus der Mitte der Gesellschaft. Die extreme Rechte spitzt diese Tendenzen aus dem Zentrum der Gesellschaft nur weiter zu. Untersuchungen zeigen, dass rechte Gewalt im gleichen Maße gewachsen ist wie die Ellbogenmentalität in unserer Gesellschaft.

Ein anderer Bereich kultureller Gewalt ist dort zu sehen, wo das Konzept einer durch das männliche Geschlecht begründeten Überlegenheit benutzt worden ist, um Gewalt zwischen den Geschlechtern in verschiedenster Ausprägung zu rechtfertigen. Beispielsweise sind in unserer Gesellschaft Frauen und Kinder in einem erschreckenden Ausmaß nach wie vor Betroffene von körperlicher, psychischer und sexueller Gewalt gerade auch im "privaten Bereich".

Kulturelle Gewalt, soviel hierzu zusammenfassend, verschleiert die Realität insoweit, dass es den Menschen häufig nicht mehr möglich ist, einen Gewaltakt oder eine Gewalttatsache auch als solche zu identifizieren.

IV. Alltägliche Gewalt

Die vorgenannten Beispiele machen deutlich, dass viele davon unmittelbar unsere konkreten Handlungs- und Lebenszusammenhänge berühren. Diese alltägliche Gewalt wirkt also auf unsere alltäglich erfassbare soziale Welt in unserem unmittelbaren Nahbereich ein und ebenso in innergesellschaftlichen Lebensfeldern. Gewalt gehört zu unserem Alltag. Dieser Gewalt liegen direkte, strukturelle oder kulturelle Gewalterfahrungen zugrunde. Von daher erscheinen die üblichen Auswirkungen und Folgen alltäglicher Gewalt fast so "normal" wie Essen und Trinken! Der Psychiater und Schriftsteller Friedrich Hacker hat wohl recht mit seiner Bemerkung: "Gewalt ist ansteckend wie Cholera. An Gewalt kann man sich gewöhnen."

Aber an Gewalt sollten wir uns nicht gewöhnen. Sie wirkt sich negativ, menschenfeindlich aus. Sie hat Auswirkungen auf jeden von uns. Natürlich sind die einen mehr Opfer als die anderen. Diejenigen, die materiell oder psychisch bedroht werden, die bevormundet und benachteiligt, misshandelt, ausgenutzt und ausgebeutet werden, denen wird mit ihren Leiden, Ängsten, psychischen und materiellen Nöten häufig ihre Menschenwürde geraubt. Mühsam erworbene Fähigkeiten werden zerstört, persönliche Lebensgrundlagen und Lebensvorstellungen werden reduziert bzw. zerstört. Das Elend ist groß, auch wenn es oft nicht gleich auf den ersten Blick zu erkennen ist. Aber Gewalt hinterlässt ihre tiefen Spuren. Deshalb sollten wir uns nicht mir ihr abfinden.

Was können wir zu einer Kultur des Friedens und der Gewaltfreiheit beitragen?

I. Sensibilisierung

Die Gewaltdefinition von Galtung öffnet den Blick für viele Facetten von Gewalt und macht vor allem Zusammenhänge sichtbar. Wenn wir uns nicht einfach damit abfinden wollen, dass es halt Gewalt gibt, sondern wenn uns daran liegt, uns für den Abbau von Gewalt einzusetzen, dann ist es wichtig, uns bewusst zu machen, wo und wodurch Gewalt ausgeübt wird. Nur so können wir uns konstruktiv damit auseinandersetzen. Gewalt gegenüber sensibel zu werden ist also wichtig.

Galtung weist nachdrücklich darauf hin, dass alle drei Faktoren im Gewaltendreieck (direkte, strukturelle und kulturelle Gewalt) gleichberechtigt sind. In jeder Ecke des Dreiecks können Gewaltausbrüche beginnen und in den anderen Ecken Verschärfungen auslösen. Andererseits muss jeder einzelne Aspekt verändert werden, wenn wir auf dem Weg der Gewaltfreiheit weiterkommen wollen. Wenn z.B. die kulturelle Legitimation von Gewalt abnimmt, kann dies zur Eindämmung struktureller und direkter Gewalt führen.

Sensibilisierung für die unterschiedlichen Formen von Gewalt ist auch aus folgendem Grund wichtig: Wer sich glaubwürdig für die Überwindung von Gewalt einsetzen und etwas zu einer Kultur des Friedens beitragen will, muss bemüht sein, Weg und Ziel zur Deckung zu bringen. Zwar wird es uns wohl trotz aller Sehnsucht nach Frieden und bei allem Plädoyer für Gewaltfreiheit nie gelingen, der Gewalt ganz zu entrinnen. Wir sind keine Übermenschen. Dennoch gilt es aufmerksam zu sein für eigene Gewaltpotentiale. Also: wo und wie wenden wir selber Gewalt an? Wie stehe ich zur Gewalt? Wo erlebe ich Gewalt? Wie begegne ich Gewalt? Unter welchen Bedingungen lehne ich Gewalt ab, wann legitimiere ich Gewaltanwendung? Entstehen dabei "Glaubwürdigkeitslücken"?

Je sensibler wir gegenüber den Formen der Gewalt werden, um so mehr werden wir feststellen, an wievielen Punkten wir in Gewalt verstrickt sind, und dass wir uns in vielen Konflikten befinden. Ich möchte einige Punkte nennen, welche für eine gewaltfreie Haltung wichtig sind. Dazu gehören folgende Normen und Kriterien:

  • Mit Erfolg gewaltfrei handeln kann nur, wer in einem Konflikt den Gegner bzw. die Hintergründe eines Konfliktes und von Strukturen des Unrechts versteht. Dafür ist es wichtig, sich in die Lage des Gegners einzufühlen; sich verletzender oder schädigender Handlungen zu enthalten, aber auch verletzender oder schädigender Worte und Gedanken. So erhält das Gegenüber den Respekt, den er/sie als Mensch verdient, so lässt sich eher abschätzen, wie das Gegenüber auf mein Verhalten reagiert, so entsteht schließlich im und durch den Konflikt die Chance zur Begegnung.
  • Das gewaltfreie Handeln setzt zwar auf große Ziele, doch zugleich oder gerade deswegen scheint in ihm die Kultur des Verzichts durch. Verzicht auf materielle Vorteile oder Statusvorteile durch den Konflikt, Verzicht auf Wahrheitsanspruch und die Selbsteinschätzung der Unfehlbarkeit. Irren können und irren dürfen und Fehler offen zugeben - so wächst die Grundlage von Verständigung.
  • Wichtig ist die Unterscheidung von Übel und Übeltäter. Der Kampf von Gewaltfreien richtet sich gegen den Missstand und nicht gegen Personen, eher gegen den Träger von Status und Rolle als gegen den sich darunter verbergenden Menschen. Ohne diese Unterscheidung lässt Trennendes sich nicht überwinden. Sie kalkuliert immer mit ein, dass hinter Ungerechtigkeit und Missstand oft weniger die persönliche Bosheit als vielmehr Unwissenheit oder Gedankenlosigkeit stehen. Zwar kann daraus kein Freisprechen von Schuld resultieren. Doch es hält sich zumindest die Chance auf Begegnung von Mensch zu Mensch, die Chance auch zu Einsicht und Umkehr. Den anderen moralisch nicht zu erniedrigen, nicht zu demütigen und seine Schwächen nicht auszunutzen, gehört zu dieser Haltung. Gewaltfreie zerstören bei allem Widerstand und bei aller Kritik nicht das Selbstwertgefühl des Gegenüber, sondern geben ihm vielmehr die Chance, sich neu aufzubauen. Letztlich braucht jeder von uns die Anerkennung und Bestätigung als Mensch.

Soweit einige Kennzeichen einer Haltung von Gewaltfreiheit. Diese Grundhaltung hat übrigens Mahatma Gandhi als `Festhalten an der Wahrheit´ (Satyagraha) und Martin Luther King `Kraft zum Lieben´ bezeichnet.

Nach ihrem Verständnis ist also Gewaltfreiheit eine Kraft, die verändern will und mit der Veränderungen herbeigeführt werden können, und zwar in allen Lebensbereichen.

II. Realistische Perspektive

Jede und jeder von uns wird feststellen müssen, dass wir trotz all unseres Bemühens Gewalt nicht einfach überwinden und gewaltfrei leben können. Gewaltüberwindung ist in konkreten Situationen durchaus möglich. Aber die Annahme wäre illusorisch, in überschaubaren Zeiträumen die Gewalt als solche überwinden zu wollen. Übrigens hat die Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) im Dezember 1998 eine "Ökumenische Dekade zur Überwindung von Gewalt" für den Zeitraum 2001-2010 ausgerufen. Als Dekadenmotto wurde mit Bedacht nicht die Überwindung der Gewalt gewählt, sondern "Überwindung von Gewalt".

Es gilt also zu schauen, was überhaupt leistbar ist. Denn es gibt sehr tiefe und verfahrene Konflikte, die nur äußerst schwer oder gar nicht zu lösen sind. Und es gibt Konfliktparteien, denen es um Zerstörung und nicht um konstruktive Konfliktbearbeitung geht. Bei manchen Konflikten wäre schon sehr viel gewonnen, wenn sie in eine solche Form überführt werden könnten, dass sie überhaupt zu bearbeiten sind. Das erfordert entsprechende Fähigkeiten und die Bereitschaft dazu. Es gibt also unter Umständen enge Grenzen, innerhalb derer einer Eskalation vorgebeugt werden kann. Deshalb wäre ein frühzeitiges Erkennen von Konflikten wichtig. Und eine konstruktive Bearbeitung, die so frühzeitig ansetzt, dass ein Konflikt nicht bis in brutale Gewalt eskaliert. Hier gibt es viel zu lernen.

III. Qualifizierung: Friedens- und Konfliktfähigkeit lässt sich lernen

"Wir sind großenteils Friedens-Analphabeten und hilflos im Umgang mit Konflikten. Ist es vorstellbar, dass wir Studenten der Universitäten oder höheren Schulen ihre Diplome geben würden, ohne sie je in Mathematik zu unterrichten, und ihnen dann sagen würden: viel Glück, wurstelt euch irgendwie durch? Aber so gehen wir mit Konflikten um: Wir geben Durchwurstlern ihre Diplome und fragen uns mit falschem Erstaunen, wieso das Land so gewalttätig ist."

Dieser schon vor gut zehn Jahren geschriebene Kommentar aus der Washington Post weist wohl auf eine Kernherausforderung für die Überwindung von Gewalt und für Gewaltfreiheit hin. Dem Bildungsbereich kommt ein hoher Stellenwert bei der Vermittlung von Friedenskompetenzen und Konfliktfähigkeit zu. Die neuen Aufgaben der Friedenspädagogik und Friedensarbeit - z.B. die Verfahren der Vermittlung in Konfliktsituationen, der Streitschlichtung oder der Mediation - erfordern von den beteiligten Personen ein hohes Maß an Wissen und sozialen Fähigkeiten. Die Verbesserung der Fähigkeit zum Umgang mit Konflikten sollte hier eine zentrale Rolle spielen. Für Konflikte und Gewalt sensibel zu werden und mit Konflikt- und Gewaltsituationen konstruktiv im Sinne einer Deeskalation umzugehen, kann gelernt werden. Die Dekade zur Überwindung von Gewalt beispielsweise sollte genutzt werden, diese Angebote auszubauen.

Allerdings auch nochmals die Warnung: Es wäre verhängnisvoll, die Ausbildung für konstruktiven Austrag und die Chancen auf Konfliktbearbeitung zu überschätzen. Es wird immer Konflikte geben, die nicht bearbeitbar sind, weil beispielsweise die Konfliktparteien dies gar nicht wollen. Und es wird immer die sinnlose, zerstörerische Gewalt geben. Zudem bringen nicht alle Menschen die Fähigkeiten mit, sich auf den langen und oft zähen Prozess der Konfliktauseinandersetzung einzulassen. Dennoch wachsen die Chancen zur Überwindung von Gewalt, wenn Menschen zumindest Kenntnisse über die grundsätzlich vorhandenen Handwerkszeuge erhalten.

IV. Ermutigung

Jede und jeder von uns kennt wohl den Satz, der uns in unterschiedlichen Situationen immer wieder in den Sinn kommt: "Wir können sowieso nichts daran ändern".  So verständlich dieser Satz ist, so fatal ist er in seiner Auswirkung. Denn wenn wir angesichts von Gewalt resignieren - wenn wir dazu schweigen, die Augen verschließen, sie verdrängen oder verleugnen -, dann tragen wir mit zu ihrer Vermehrung bei. Wir resignieren oft, weil uns der Berg an Aufgaben zu riesig vorkommt und wir dagegen als ziemlich klein und unbedeutend erscheinen. Gefühle der Ohnmacht, der Aussichtslosigkeit und des Ausgeliefertseins kommen auf. Die geradezu sprunghafte Zunahme psychischer und psychosomatischer Erkrankungen, vor allem in den reichen Staaten und bei den empfindsamsten Menschen, hängen damit zusammen.

Gegen diese Resignation, gegen den "Luxus der Hoffnungslosigkeit" - so die nicaraguanische Dichterin Gioconda Belli - hilft es u.a., wahrzunehmen, dass es sehr viele Baustellen gibt, auf denen an der Überwindung von Gewalt und für eine Kultur des Friedens und der Gewaltfreiheit gearbeitet wird: Ob wir uns als Eltern um eine gewaltfreie Beziehung zu unseren Kindern bemühen, ob als Erzieherin im Kindergarten oder als Lehrer in der Schule, die sich um Friedenspädagogik oder interkulturelle Bildung bemühen; ob als Pfarrerin, die sich in ihrer Konfirmandengruppe kritisch mit der Jugendgewalt auseinandersetzt oder für ein gewaltminderndes Projekt in Süditalien oder Übersee Geld sammelt; ob als Sozialarbeiterin, die sich gegen die Mittelkürzung für das Frauenhaus wehrt oder mit zum Tabubruch gegenüber häuslicher Gewalt beiträgt; ob die Verkäuferin im Weltladen, die zur Bezahlung von gerechteren Preisen beiträgt oder als Mitarbeiter von ai, der für die Freilassung von politischen Gefangenen kämpft; ob das Engagement in Anti-AKW-Gruppen, in Friedensinitiativen oder in Initiativen für eine demokratische Kontrolle der internationalen Finanzmärkte, etc. - es ist wichtig, zur Kenntnis zu nehmen, dass in unserer Gesellschaft und weltweit etwas in Bewegung ist. Weltweit suchen Menschen nach einer besseren Gesellschaft, die Lebensunterhalt und Würde für alle bietet. Tagtäglich widerstehen Menschen der Zerstörung und der Gewalt. Diese weltweiten Kämpfe, dieses tagtägliche Widerstehen, dieses vielgestaltige Einsetzen für ein besseres Leben zur Kenntnis zu nehmen, ist also wichtig für unsere eigene Hoffnung. Wir sind nicht allein! Wer genau hinsieht, findet viel Ermutigendes auf dem langen und steinigen Weg des Friedens. Damit aber der Prozess für die Entwicklung einer Kultur des Friedens weitergeht, kommt es auf jede und jeden von uns an. Denn der Ort, an dem sich eine Kultur des Friedens entwickeln kann, ist das einzelne Individuum, das einzelne Gesellschaftsmitglied und seine Beziehung zum Anderen, zum Nächsten wie zum Entferntesten, Fremden.

Fußnoten

Veröffentlicht am

21. August 2001

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