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Konstantin Wecker: Eine neue friedliche Politik braucht Spiritualität

Spiritualität - meinetwegen, da sind wir tolerant. Das heißt: wir ertragen Menschen, die privat religiöse Vorstellungen pflegen, vielleicht meditieren, beten oder Yogaübungen machen. Aber dann soll das Ganze bitte im stillen Kämmerlein bleiben; auf der politischen Bühne, dort wo es ernst wird, hat Spiritualität nichts zu suchen. So denken viele in "unserer" Szene. Aber ist das auch wahr? Konstantin Weckers Artikel könnte als heilsame Provokation dienen. Der Theologe Helmut Gollwitzer sagte: "Christen müssen Sozialisten sein". Umgekehrt müssen Linke nicht spirituell sein, um eine an Menschenrechten und am Gemeinwohl orientierte Politik zu betreiben; aber gerade wenn wir den Frieden wollen, hilft es, sich an Werten zu orientieren, die Verbundenheit von allem was ist erkannt und die Untiefen der eigenen Seele einmal gründlich erforscht zu haben. Freilich taugt nicht jede beliebige Form des Irrationalismus, des Dogmatismus und der Esoterik dafür. "Eine Spiritualität allerdings, die alle Grenzen der Religionen aufhebt, weil sie das Göttliche nicht auf Altären sucht, sondern im Menschen selbst." 

Von Konstantin Wecker

Wer sich ausschließlich auf das verlässt, was einem die jeweilige Gesellschaftsform, das jeweilige politische Staatsgefüge zu sagen hat, wird wohl ziemlich ungläubig der Tatsache gegenüber sein, dass er in den tiefsten Tiefen seines Wesens ein Selbst hat, das "weit über seine individuellen Bedürfnisse hinausgeht und ihn verbindet mit einer Welt jenseits konventioneller Normen!" (Ken Wilber) Ich glaube, dieses Verdrängen der eigenen Wirklichkeit, der Spiritualität, ist hauptsächlich verantwortlich für die Unzufriedenheit unserer gegenwärtigen Kultur.

Wer an der Welt leidet, wird gerne verlacht. Man wirft solchen Menschen vor, ihr Mitgefühl sei Attitüde. Das mag bei einigen zutreffen, andere klammern sich sogar so sehr an das Leiden, dass sie sich anders nicht mehr definieren können. Aber es gibt nun mal auch jene, die, warum auch immer, so sehr hinabgestiegen sind in den Urgrund des eigenen Wesens, dass sie die Verbundenheit mit allem was ist erspüren können. Nicht intellektuell, sondern so, wie man Hunger und Durst empfindet. Ab diesem Augenblick ist nichts mehr, wie es mal war.

Ken Wilber schreibt dazu die tröstlichen Worte: "Leiden schlägt das Behagen unserer normalen Empfindungen über die Realität in Stücke und zwingt uns, in einem besonderen Sinn lebendig zu werden, sorgfältig zu schauen, tief zu empfinden, mit uns selber und mit der Welt auf eine Weise in Berührung zu kommen, die wir bisher vermieden haben. Man sagt, Leiden sei die erste Gnade (…), denn es ist ein Zeichen für den Beginn schöpferischer Einsicht."

Ich sage das nicht, weil ich beschlossen habe, ab jetzt nicht mehr zu lachen, keinen Blödsinn mehr zu machen und das Leben nicht mehr zu genießen. Nur - ich kann nicht bewusst fröhlich sein mit der gebührenden Tiefe, wenn ich Elend, Leid und Tod aus meinem Leben ausklammere. Um nicht in ihm stecken zu bleiben, müssen wir das Leiden verstehen, es in Augenschein nehmen, zu seinen Wurzeln stoßen. Dazu bedarf es der sogenannten inneren Arbeit.

Und hier gerät man schnell in den Verdacht, ins Esoterische abzudriften. Nicht ganz zu Unrecht, denn einer der größten Fehler der meisten Esoteriker und Anhänger der "New Spirituality" ist es, den Erkenntnissen der Wissenschaft, des objektiv Beweisbaren, aus dem Weg gehen zu wollen. Zwar ist ohne Frage die herrschende Meinung immer noch bestimmt von einem streng wissenschaftlichen Weltbild und echte mystische und kontemplative Erfahrungen werden fälschlicherweise als Rückschritt in einen infantilen Narzissmus gedeutet.

Aber ebenso einseitig ist der Versuch, alle wie immer gearteten inneren geistigen Erlebnisse als Schritte zur Erleuchtung zu überhöhen. So wie unsere rein szientistisch und materiell bestimmten Meinungsmacher keine subjektive Wahrheit gelten lassen wollen, vertrauen jene ausschließlich dem eigenen Erleben und dem Irrationalen. Aber man entwickelt sich nicht weiter, wenn man die Vernunft ausschaltet, sondern nur, wenn man sie transzendiert, sie also mit einbezieht und über sie hinausschreitet. Wie käme ich dazu, auf die Errungenschaften der Aufklärung, des Liberalismus, der Naturwissenschaften, der westlichen Psychologie zu verzichten, um in ein mythisches Denken zurückzufallen.

Aber es gibt keine Alleinherrschaft des Wissens - und ebenso wenig möchte ich verzichten auf die aus der Stille und dem Nichtdenken geborene Weisheit eines Meister Eckhart, einer Theresa von Avila, eines Krishnamurti oder Ramana Maharshi.

Es ist an der Zeit, die Wahrheiten zu integrieren. Es ist an der Zeit, die Kriege zu beenden, die Kriege in unseren Herzen, in unseren Köpfen und die auf den Schlachtfeldern. All diese Kriege sind in Wirklichkeit ein einziger großer Krieg in uns selbst, entstanden aus der Angst, seine Vorstellung von sich und der Welt zur Verwandlung frei zu geben.

Wir haben den Kontakt zur Wirklichkeit verloren. Wir können nicht mehr unterscheiden zwischen der Art, wie die Dinge sind, und zwischen der Art, wie sie beschrieben werden. Wir verwechseln den Finger, der auf den Mond zeigt, mit dem Mond. Das Gedankengebilde mit der Welt. Das Teil mit dem Ganzen. Interessant ist auch hier die Projektion: Jeder wird als weltfremd und wirklichkeitsfremd beschimpft, der diesem Bild von der Wirklichkeit nicht entspricht.

Aber die Wirklichkeit ist eben nicht das Fernsehbild oder das Gedankenmodell. (Ich persönlich habe gar nichts dagegen als weltfremd bezeichnet zu werden. Diese gewalttätige und profitgierige Welt ist mir wirklich fremd.) Der Mensch schreitet in seiner normalen Entwicklung vom Ich zum Wir, von egozentrischen Gefühlen fort zu soziozentrischen, ethnozentrischen. Hier dürfen wir aber nicht stehen bleiben, denn nun kommt das "weltzentrische Stadium, in dem man sich nicht mehr ausschließlich mit der eigenen Nation, Rasse oder Religion identifiziert, sondern wo einem schmerzlich auffällt, dass man mit der ganzen Welt verbunden ist." (Wilber)

Die Globalisierung, so schrecklich sie sich in ihrer rein materiellen Erscheinungsform auf die Armen und Ärmsten der Erde auswirkt, ist ein untrügliches Zeichen für diesen Paradigmenwechsel. Aber wenn wir weiterhin alles nur aus der Perspektive der Wirtschaft und der Politik betrachten und nicht endlich auch aus einer spirituellen, steuern wir unweigerlich dem Abgrund entgegen.

Leider gibt einem die heutige weltpolitische Situation kaum Anlass zur Hoffnung auf einen geistigen Wandel. Das Denken in mythischen Kategorien als Kampf zwischen Gut und Böse, wird fast unwidersprochen hingenommen. Als derselbe Versuch gegen den Kommunismus unter Ronald Reagan gestartet wurde, gab es noch weltweit Proteste. Heute sind wir indoktriniert genug, um die wenigen, die noch protestieren, als unbelehrbare Pazifisten zu beschimpfen, als ewig Gestrige zu verspotten oder mit Berufsverbot zu belegen. Nun haben wir wieder einen Krieg, in dem die Gegner ausschließlich als "Kämpfer" bezeichnet werden, und die eigenen Kämpfer als "Soldaten". In dem jeder Staatsterror "Kampf gegen den Terrorismus" genannt wird.

"In diesem Durcheinander wird Gewalt immer wieder geboren werden", schreibt Eugen Drewermann in seinem wegweisenden Buch: "Krieg ist Krankheit, keine Lösung". "Es hilft nichts, dass wir gewöhnt sind, die staatlich organisierte Gewalt von vorneherein für legal zu halten und damit auch schon mit dem Schatten des Legitimen zu versehen, während wir die noch nicht staatlich gebundene Gewalt prinzipiell als das Zügellose und Anarchische begreifen. Auf diese Weise äußern wir nicht Rechtsempfinden sondern nur den Respekt vor faktischen Organisationsformen; dieses Recht steht aber von vornherein auf Seiten der Herrschenden. Macht und Recht sind indessen zweierlei".

"Darf man Menschen mit Waffen der Moderne ausstatten, deren Mentalität sich im Paläolithikum aufhält?", fragt Drewermann an anderer Stelle, und ich frage mich, wie wir diesen geistigen Rückschritt wieder umkehren können.

Wie können wir uns wehren? Einerseits ist es notwendig, mit klarem Verstand die wirklichen politischen und vor allem ökonomischen Hintergründe und Zusammenhänge, jenseits aller Propaganda, nüchtern zu durchschauen. Das Internet bietet übrigens gute Möglichkeiten, totgeschwiegene Fakten und Meinungen intelligenter, unabhängiger Autoren kennen zu lernen. Darüber hinaus bin ich der festen Überzeugung, dass eine wirklich neue, friedliche Politik ohne eine neue Spiritualität nicht möglich ist. Eine Spiritualität allerdings, die alle Grenzen der Religionen aufhebt, weil sie das Göttliche nicht auf Altären sucht, sondern im Menschen selbst.

Wir müssen wieder zu sprechen bereit sein von der Untrennbarkeit des Menschen von der Welt. Der Verbindung unserer biologischen Existenz mit dem Universum. Unserer geistigen Verbundenheit mit allem, was lebt. Wir müssen wieder zu sprechen beginnen von der Liebe und der Schönheit des Daseins, die nur in der Stille erfahren werden kann.

Und ich weiß, dass es viele Menschen gibt, die dazu bereit sind. Viel mehr, als es uns die Medien glauben machen wollen.

Quelle: Hinter den Schlagzeilen - 29.03.2017.

Veröffentlicht am

31. März 2017

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