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Diyarbakir - eine verwundete Stadt

Von Ernst-Ludwig Iskenius und Gisela Penteker, beide IPPNW, zur Zeit in Diyarbakir

Die unmittelbar erfahrbaren Spannungen des Krieges in Diyarbakir haben im Vergleich zum letzten Jahr oberflächlich nachgelassen. Sie sind zu einer gewissen "Alltagsnormalität" geworden. Unser alt vertrautes Hotel am Rand der Innenstadt, im letzten Jahr noch geschlossen, konnten wir wieder beziehen. Viele Geschäfte in der Haupteinkaufsstraße haben wieder geöffnet, manche sogar dem "modernen Glanz einer deutschen Mittelstadt" entsprechend neoliberal und etwas gleichförmig aufpoliert.

Kommt man vom Flughafen in die Stadt, begegnet man in den weit ausgedehnten Vorstadtstadtteilen neu hochgezogenen, zwar freundlich angestrichenen, aber gleich und monoton aussehende "Schlaf"-Türmen. Sie wurden von der Baufirma einer von Erdogans Schwiegersöhnen in aller Eile zu 12 -14 Stockwerken hochgezogen und werden als Eigentumswohnungen angeboten. Der Verkehr ist in verschiedenen Teilen genauso wuselig wie in früheren Jahren, dagegen im Stadtteil Sur (die Innenstadt innerhalb der alten Stadtmauer) ist es besonders auffällig, wie wenig Menschen dort selbst tagsüber auf der Straße sind und wie früh jegliches Leben am frühen Abend schon stirbt. Selbst die bettelnden Kinder, unsere ständigen früheren Begleiter, sind verschwunden. Ausquartiert? Verjagt?

Das Ergebnis der Vertreibung

Viele Gassen sind nach wie vor mit hohen Betonplatten versehen, so dass man weder durchgehen, noch sie weiter einsehen kann. Man kann lediglich vermuten, dass dahinter alles eingeebnet ist, Platz für Neubauten mit zukünftigen hohen Renditen, die sich einige wenige davon erhoffen. Etwa 40.000 Menschen sollen allein aus dem Stadtteil Sur vertrieben worden sein. Diejenigen, die dort  unangemeldet gelebt haben, verloren alles, selbst einen Anspruch auf Ersatz für ihr zerstörtes Zuhause. Ihnen bleibt nur woanders, z.B. bei anderen Familienmitgliedern unterzuschlüpfen und woanders als Fremde von Neuem anzufangen. Viele Personen waren darunter, die schon einmal in den 90iger Jahren aus ihren Dörfern vertrieben und damals zwangsweise in die große Stadt gekommen sind.

Ansonsten wird der Wert eines verloren Hauses geschätzt und eine Eigentumswohnung am Rande der Stadt in einem der Erdogan-"Schlaftürme"  angeboten, allerdings zu einem sehr viel höheren Preis als sie für ihr altes Haus bekommen. Nimmt jemand dieses Angebot wahr, kann er es in monatlichen Mietraten abstottern. Nur die wenigsten können das auf die Dauer und verschulden sich. Damit wird die zweite Vertreibung, dann in völliger Verarmung, vorprogrammiert. Verloren hat diese Bevölkerung in mehrfacher Hinsicht:

  • Durch die physischen militärischen Angriffe auf ihren Stadtteil, in Sicherheit leben zu können ("Nichts ist mehr wie vorher", so eine Betroffene). Viele sind davon noch traumatisiert.
  • Sie haben aber keinen Anspruch auf Behandlung. Ärzten und medizinischem Personal war während dieser Kämpfe und Ausgangssperren verboten, Alte, Kranke, Kinder und Verwundete zu behandeln, die Impfungen konnten mehrere Wochen nicht durchgeführt werden. Wieviele Menschen durch diese Nicht-Versorgung umgekommen sind, wird wohl ewig im Dunkeln bleiben. Dokumentationen bestehen nicht, so kann auch später niemand zur Rechenschaft gezogen werden.
  • Sie haben ihr Haus und ihr soziales Umfeld verloren, wichtigste Voraussetzung, um ihre seelischen Wunden wieder schließen zu können.
  • Als Flüchtlinge im eigenen Land müssen sie ihren letzten Besitz einsetzen, um wieder ein eigenes Dach über den Kopf zu bekommen und müssen sich verschulden zugunsten weniger Reicher.
  • Viele verarmen zusätzlich. Ihnen droht allerdings dann erneute Obdachlosigkeit, wenn sie nicht bald eine neue Arbeit und finanzielle Grundlage für sich und ihre Familie finden.
  • Das Wichtigste ist aber: Sie verlieren ihre Hoffnung und können sich nicht gemeinsam wehren, sonst droht Verhaftung und Gefängnis.
  • Die vormals bestehenden Unterstützungsstrukturen und zivile Selbstorganisation sind verboten oder wurden systematisch zerschlagen

Besetzung

An vielen Ecken der Stadt spürt man, dass es Diyarbakir eine besetzte Stadt ist. Gepanzerte Fahrzeuge, Wasserwerfer und Absperrgitter stehen nicht nur vor allen öffentlichen Gebäuden wie vor einem Hochsicherheitstrakt, der nach außen abgeschirmt werden muss. Sie versperren auch alle wichtigen Ausfallstraßen und kontrollieren alles, was ihnen verdächtig vorkommt. Sie fahren massenhaft durch die Straßen mit Blaulicht oder pattroulieren selbst in den engen Gassen, die noch offen sind. Zur Zeit kann man nur im Gänsemarsch an mehreren Polizeikontrollen vorbei ins Rathaus gelangen, wo wir vor einigen Jahren frei ein- und ausgehen konnten und offen mit den Verantwortlichen Probleme und Entwicklungen diskutieren konnten. Heute sitzt dort, streng von der Bevölkerung abgeschirmt, ein vom Staat eingesetzter Verwalter statt dem von der Bevölkerung in freien Wahlen bestimmten Vertreter. Fast die gesamte Stadtverwaltung ist ausgetauscht. Wie in weiteren 86 von der BDP beherrschten Städten und kurdischen kommunalen Selbstverwaltungen sitzen die meisten Vertreter unschuldig im Gefängnis und sind durch staatlich eingesetzte Vertreter ersetzt. Viele der früheren selbst organisierten Strukturen, Vereine und Organisationen sind verboten oder aufgelöst.

Repression

Alles, was sich widersetzt, wird ausgeschaltet, Personen werden willkürlich festgenommen und bis 23 Tage ohne Angabe von Gründen im Gefängnis festgehalten. So wurde zwei Tage vor unserem Besuch beim IHD, einer renommierten Menschenrechtsorganisation, der 1. Vorsitzende inhaftiert und sitzt ohne Angabe von Gründen in Haft. Personen, die zu einer oppositionellen Organisation wie z.B. der Gesundheitsgewerkschaft gehören, werden entlassen oder aus ihrem Beruf verjagt. Türkeiweit sind über  2.500 Personen aus dem Gesundheitswesen entlassen, mehrere 100 auch im Bezirk Diyarbarkir.

Wir wohnten einer Protestveranstaltung dieser in ihrer Lebensgrundlage bedrohten Kolleginnen und Kollegen bei, die von der Gesundheitsgewerkschaft SES organisiert wurde. Aus Angst vor massiver physischer Gewalt durch Polizeikräfte wurde diese Protestveranstaltung nicht auf offener Straße, sondern in einen Raum verlegt. Eine Ärztin der Anästhesie, die sich gleichzeitig im Vorstand der Ärztekammer engagiert, wurde von einem Tag auf den anderen ohne Angaben von Gründen gekündigt, diese Stelle wurde bisher nicht wieder besetzt und sie fehlt ihren Kolleginnen und Kollegen im Alltag. Die an vielen Stellen aus Personalmangel sowieso defizitäre Gesundheitsversorgung der Bevölkerung wird dadurch deutlich verschärft. Operationen können nicht mehr durchgeführt werden, ganze Stadtteile wurden ihrer letzten Ärzte beraubt, die dort für Tausende Menschen die Notversorgung aufrecht erhalten haben. In manchen Kliniken hat sich der Personalpflegenotstand deutlich verschärft. Erdogan hat schon offen gedroht, dass er solches Gesundheitspersonal, das nur den Anschein zeigt sich zu widersetzen, nicht brauche, sondern es durch anderes Personal aus anderen Ländern z.B. Aserbaidschan ersetzen könne.

Die Repression ist aber dort am schärfsten, wo der Erdogan-Regierung politischer Widerstand besonders im Wege steht. So werden Mitglieder oppositioneller Parteien unter nichtigem Vorwand in Haft genommen und auf unbestimmte Zeit festgehalten. Die Ko-Vorsitzende der HDP, die wir gesprochen haben, ist erst kürzlich aus ihrer 29-tägigen Haft entlassen worden. So etwas verunsichert, nicht nur die aktiven Parteigänger, sondern dass gesamte Umfeld und auch einzelne, außenstehende Bürger, die es nicht mehr wagen, mit der Partei Kontakt aufzunehmen. Gerade jetzt im Wahlkampf um das Referendum ist dieses eine große Behinderung, andere Meinungen als die für die Annahme des Referendums zu verbreiten.

Das Schweigen Europas

Besonders schmerzhaft empfinden die politisch Aktiven, dass sie aus Europa und gar aus Deutschland zu wenig offene Unterstützung für ihre Bemühungen erfahren würden, demokratische und rechtsstaatliche Strukturen zu bewahren. "Wir versuchen die Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu verteidigen, und ihr schweigt dazu." In den Auseinandersetzungen stehe man häufig allein, die Stimme Europas, wenn überhaupt hörbar, käme meist zu spät, offensichtlich sei die Angst vor den Flüchtlingen größer als die Bewahrung der eigenen demokratischen Prinzipien und Wertvorstellungen. Aber auch die Stimmen der engeren Freunde in den westlichen Ländern hätten sie auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen  oft vermisst. "Ich habe mich, als ich während der Kämpfe selbst zu Tode bedroht war und Freunde von mir vor meinen Augen erschossen wurden, furchtbar einsam gefühlt. Nicht die physische Bedrohung, sondern die Einsamkeit war das Schlimmste. Niemand hat von Euch, die wir uns seit Jahren kennen, angerufen und sich nach unserem Schicksal erkundigt. Wenn ich nicht für meine jüngeren Nichten und meine Mutter hätte sorgen müssen, ich glaube, ich wäre heute nicht mehr bei Euch."

Statt wie so häufig hilfloser Zuschauer solcher Ereignisse zu sein, wäre wieder neu darüber nachzudenken, wie konkrete Solidarität auch in Kriegs- und Konfliktsituationen aussehen könnte, welchen konkreten spürbaren Beitrag für die betroffenen Menschen jeder von uns leisten kann. Manchmal stärkt ein Wort, ein Brief, ein Telefonat die Widerstandskraft dieser Menschen mehr als irgendwelche theoretischen Analysen und politischen Diskussionen und trägt so mehr zur Verhinderung einer Entwicklung bei, die auch für unsere demokratischen Prinzipien tödlich enden kann.

Quelle:  IPPNW-Blog - 20.03.2017.

Veröffentlicht am

21. März 2017

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