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S21: “Dieses Projekt zementiert mit Millionen Tonnen Beton die Philosophie von gestern.”

Rede von Pfarrer Paul Schobel bei der 101.Montagsdemo in Stuttgart am 28.11.2011

Nach Scherzen ist uns heute Abend wahrlich nicht zumute. Aber mit Verlaub gesagt: Lieber hätte ich heute ein Staatsbegräbnis erster Klasse arrangiert und eine fulminante Grabrede auf S 21 gehalten. Ein paar Krokodilstränen für die trauernden Angehörigen gratis dazu - und dann ab mit der Kiste, mit Pauken und Trompeten tiefer gelegt. Soweit man eben einen Tiefbahnhof überhaupt tiefer legen kann.

Statt dessen ist nun eingetreten, was zu befürchten war: Das Volk folgte mehrheitlich den Trommeln und Schalmeien der Befürworter und will nun K 21 versenken und dem Aktionsbündnis das Totenglöcklein läuten.

Aber so wie ich Euch heute vor mir sehe, sind wir noch lange nicht tot. Wir haben zwar wenig Grund zum Jubel, aber allen Grund, auf uns stolz zu sein. Was dieses Bündnis in den letzten Jahren erkämpft und errungen hat, kann sich sehen lassen:

  • Eine solche Mobilisierung hat diese Republik bislang noch nie erlebt: Junge und Alte, Reiche und Arme, Arbeitende und Arbeitslose, GewerkschafterInnen und Arbeitgeber, Menschen aus allen Bildungsschichten und Parteien, Religionen und Gesangbüchern, Bürgerinnen und Bürger aus dem Stuttgarter Kessel, den Halbhöhenlagen und weit darüber hinaus.
  • Wie haben wir dieses in aller Welt manchmal als so bieder belächelte "Ländle" aufgemischt und politisiert. Das Volk hat sich auf der politischen Bühne zurückgemeldet. Das blieb in ganz Europa und weltweit nicht unbemerkt.
  • Das ist unsere Botschaft: Es ist also möglich, Partikularinteressen um eines größeren Ganzen willen zurückzustellen und sich im gewaltfreien Protest die Hand zu reichen. So sieht Friede aus.
  • An Kreativität und Phantasie waren diese Aktionen kaum zu überbieten. Wie oft konnten wir die Lacher auf unsere Seite bringen. Aber wenn es drauf ankam, war Schluss mit lustig, dann waren wir auch wütend und willensstark. Das beweist schon die Hartnäckigkeit, mit der wir hier ausgehalten haben bei Wind und Wetter, in sengender Hitze und eisiger Kälte.
  • Vor allem aber: Wir ließen uns nicht brechen. Polizeiknüppel und Wasserwerfer schlugen Wunden, aber sie schlugen uns nicht in die Flucht.
  • Wir haben die politischen und wirtschaftlichen Eliten das Fürchten gelehrt. Wir werden für sie unberechenbar, subversiv und gefährlich bleiben. Denn wir haben die Kraft und die Kompetenz, offen zu legen, zu entlarven und ganze Lügengebäude zum Einsturz zu bringen. S 21 - dieser Koloss steht finanziell, technisch und politisch auf tönernen Füßen!
  • Unsere wirtschaftliche und technische, unsere politische und soziale Kompetenz hier auf diesem Platz wird weiter gefragt sein. Tausende von Sachverständigen in unseren Reihen, die keine Mühe scheuen, sich in komplexe Zusammenhänge einzuarbeiten. Da lag das "Keferchen" manchmal hilflos auf den Rücken und zappelte verzweifelt mit seinen Beinchen. Unsere Intervention macht vielen Menschen Mut, sich nicht platt machen zu lassen und sogenannten "Sachzwängen" zu beugen. Es steckt mehr in uns, als den Technokraten und Bürokraten lieb sein kann.
  • Wir sind es, die Demokratie neu buchstabieren. Ein für allemal: Die "Basta-Politik" ist krachend gegen die Wand gefahren. Die repräsentative, parlamentarische Demokratie wird nachsitzen und ein neues Kapitel aufschlagen müssen. Sie muss Volkes Willen - mehr als bisher - einbeziehen. Die politische Kraft kommt von unten.
  • Wir haben die Betonfraktion in ihren Grundfesten erschüttert. Soweit das eben möglich ist, denn in vielen Betonköpfen bestehen die grauen Zellen aus Zement. Sofern sie es immer noch nicht kapieren, werden sie es fühlen müssen: Es wird in Zukunft keine Großprojekte mehr geben, die am Volk vorbei getrickst, geplant und verwirklicht werden.
  • Wir haben dem Kapitalismus die Stirn geboten. Denn dieses Projekt trug von Anfang an eindeutig dessen Signatur. Hier ging es mehr um Immobilien, als um ein neues Verkehrskonzept, mehr um gewichtige Kapitaltransfers als um einen zukunftsfähigen Bahnhof.
  • Als Betriebsseelsorger kenne ich diese Rosstäuschereien zur Genüge: Da wird erst kräftig de-investiert, um dann eine Verlagerung zu erzwingen. Da lässt man einen funktionsfähigen, ausbaufähigen Kopfbahnhof so verlottern, dass Hinz und Kunz am Ende keinen anderen Weg mehr sehen, als ihn zu vergraben.

Wir wissen: Heute ist kein Tag des Jubels. Das wird echt krass, wenn wir nun erleben müssten,

  • wie unsere Stadt umgepflügt und eine Parklandschaft zerzaust wird, eine neue Stadtmitte entsteht, die niemand braucht und will, außer die Investoren und Spekulanten;
  • wie gigantische Bohrmaschinen im Untergrund wühlen und Mineral- und Grundwasser und Häuser gefährden.
  • Wenn wir erleben müssten, dass wir irgendwann in den nächsten Jahrzehnten, wenn die Milliarden verbuddelt sind, weniger Bahnhof haben als heute. Eine Katakombe mit all den Erschwernissen für Kinder, Alte und Behinderte. Mit Risiken im Ernstfall, die nicht zu kalkulieren sind.

Für mich bleibt es ein Rätsel,

  • wie man heute noch milliardenschwer in "Wachstum" investieren kann, während die Menschheit händeringend nach einem Wirtschaftssystem jenseits des Wachstums sucht;
  • wie man heute noch auf Beschleunigung setzt, während die Menschen sich nach Entschleunigung sehnen, weil sie endlich wieder Zeit haben wollen füreinander. Sie wollen - gut vernetzt und vertaktet - mit der Bahn bequem und preisgünstig zueinander kommen und nicht unter der schönen Landschaft hindurch über irgendwelche Magistralen in irgendwelche Metropolen hineingeschossen werden.

Dieses Projekt zementiert mit Millionen Tonnen Beton die Philosophie von gestern. Der Tag der Einweihung von S 21 im nächsten Jahrzehnt wird zum Tag einer Denkmalenthüllung für ein längst verstaubtes Gesellschaftsmodell. Gesellschaft tickt heute schon anders, aber hier wird sie wieder ins alte Gleisbett zurückgezwungen, nämlich in das von Wachstum und Beschleunigung.

Wir haben keinen Grund zur Resignation. Ich bin nicht hier, um die "Letzte Ölung" zu spenden, sondern um uns Mut zu machen.

Wenn wir hier als Protestbewegung vom Platz gehen, dann erhobenen Hauptes. Und wir werden erhobenen Hauptes zurückkehren als Demokratiebewegung.

Ich bitte Euch inständig: Bleibt einander verbunden, habt acht aufeinander. Nehmt jene an die Hand, die den Mut verloren haben. Was zwischen uns in all den Jahren gewachsen ist, wird nicht einfach verdampfen. Solidarität macht stark, Solidarität ist schön.

Bleibt wachsam - nicht nur im Blick auf S 21, sondern auf alles, was um uns herum geschieht. Die entfesselten Kapitalmärkte treiben die Menschheit an den Abgrund. Die Welt ist zur Spielhölle geworden. Weltweit ist die Politik nicht willens oder schon gar nicht mehr in der Lage, die Casinos zu schließen und die Wirtschaft auf ihre eigentliche Aufgabe hin zu fixieren, nämlich "Gutes Leben für alle!"

Und mein dritter Rat, den ich als Christ der Bibel entnehme: "Machts wie Gott, werdet Mensch…". Das ist für mich die Botschaft des Advents und der Weihnacht. Sorgt für Wärme und Menschlichkeit in dieser manchmal eiskalten Welt. Mich fasziniert immer wieder jene Vision aus dem Buch Ezechiel im Alten Testament: "Ich schenke euch ein anderes Herz. Ich reiße das Herz aus Stein aus eurer Brust und gebe euch ein Herz aus Fleisch…"  (11, 19). Je mehr Menschlichkeit, je mehr Herzlichkeit, desto weniger Beton!

Nein - ich schließe nicht mit jener bekannten Redensart: "Die Hoffnung stirbt zuletzt". Das ist mir viel zu defätistisch, dann stirbt sie ja doch. Hoffnung ist unsterblich!

Ich setze vielmehr darauf, dass wir uns eine "trotzige Hoffnung" bewahren. Eine "trotzige Hoffnung" - das kann man übrigens viel plakativer und verständlicher formulieren, und dann lautet das: "Oben bleiben".

Paul Schobel ist katholischer Priester und Betriebsseelsorger i.R.
 

Veröffentlicht am

30. November 2011

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