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Afghanistan: Halb und halb

Aus der NATO-Ausbildungsmission "Resolute Support" in Afghanistan wird zusehends ein Kampfeinsatz. Die Taliban reagieren mit Operationen wie gegen die US-Basis Bagram

Von Lutz Herden

Eine der Zitadellen des Gegners zu treffen, ist seit jeher ein begehrtes Ziel von Aufständischen. Der Vietcong erschütterte zwischen Januar und Juni 1968 mit der Schlacht um den als uneinnehmbar geltenden US-Stützpunkt Khe Sanh in Südvietnam die Siegesgewissheit der US-Armee. Die konnte ahnen, was absehbar war. Das Überraschungsmoment galt als Elixier des Effekts, Demoralisierung als Antrieb der Aktion. Kaum anders verhält es sich, wenn afghanische Taliban, wie vor Tagen geschehen, die US-Basis Bagram angreifen, indem sie dort eindringen und vier Soldaten töten. Immerhin handelt es sich um das größte Feldlager der NATO-Truppen in Afghanistan und liegt nur 40 Kilometer von Kabul entfernt.

Wer sich dort zeigt, erbringt mehr als einen Existenznachweis. Der will demonstrieren, Besatzungsmacht kann selbst dort verwundbar sein, wo sie sich unangreifbar verschanzt wähnt. Dabei holten die Taliban mit dem Unternehmen Bagram zur zweiten relevanten Operation innerhalb von 48 Stunden aus, nachdem zuvor durch Beschuss und Bomben das deutsche Konsulat in Masar-i-Sharif attackiert worden war.

Warum die Massierung? Um den Gegner zu demütigen? Vermutlich eher, um auf Gewalt mit Gewalt zu antworten, sprich: einen asymmetrischen Krieg auf Augenhöhe zu führen. Offiziell haben die NATO-Verbände seit dem Generalabzug Ende 2014 keinen Kampfauftrag mehr. Aber sie kämpfen längst, weil die afghanische Nationalarmee (ANA) weder zuverlässig noch belastbar ist. Es hat sich für die Nachfolgemission "Resolute Support" als womöglich willkommener Trugschluss erwiesen, dass sich die NATO auf Beratung und Ausbildung afghanischer Sicherheitskräfte beschränkt. Besonders US-Einheiten unter den 12.000 Soldaten dieses Kontingents greifen seit einem Jahr wieder vermehrt in Gefechte ein und spielen ihr Luftmonopol aus. Unter anderem deshalb haben sich die Angreifer von Masar-i-Sharif zu Rächern für mehr als 30 tote Zivilisten erklärt, die zuvor bei einem US-Luftangriff im Raum Kundus starben. Das heißt, die Aufständischen behaupten sich als reale Gegenmacht ohne realistische Machtoption. Sie können das, weil die Regierung des Präsidenten Ashraf Ghani wegen fehlender politischer wie moralischer Autorität als Gegengewicht ausfällt. Weil sie als Teil eines oligarchischen Systems dem Land eine Perspektive ohne Besatzung schuldig bleibt. Unter diesen, von ihnen mit zu verantwortenden Umständen folgen die USA mit ihren Alliierten, darunter Deutschland, einer Counterterrorism-Strategie, die darauf bedacht ist, einem afghanischen Kernstaat das Überleben zu sichern. Dank Lufthoheit und Kill-or-Capture-Operationen wird den Taliban bestenfalls regionale Herrschaft überlassen. Wie das im Osten und Süden seit längerem der Fall ist.

Ein solches Vorgehen birgt den Vorteil, das NATO-Korps vorerst nicht aufstocken zu müssen und die Kabuler Administration über lebensverlängernde Maßnahmen steuern zu können. So mag eine Besatzung des dosierten Aufwands noch Jahre oder Jahrzehnte dauern. Sie hält das Land im Schwebezustand zwischen Fremd- und Selbstbestimmung, halb Protektorat, halb Staat. Wer weiß, wofür das Muster sonst noch taugt. Offenbar haben die USA aus ihrem Vietnam-Exit Anfang der 70er Jahre gelernt, dass Kampf- und Spezialverbände nie vollends abgezogen werden dürfen, um ein Land nicht vollends aus der Hand zu geben. Siehe Irak, siehe Afghanistan.

Quelle: der FREITAG vom 17.11.2016. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

18. November 2016

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