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Friedrich Schorlemmer: 22. Juni 1941: Verpasste Chance

Die Erinnerung an den Überfall auf die Sowjetunion vor 75 Jahren stehen allzu sehr im Schatten der aktuellen deutschen Russland-Politik

Von Friedrich Schorlemmer

Meinst du, die Russen wollen Krieg?", fragte 1961 der Dichter Jewgeni Jewtuschenko, als das Verhältnis des Westens zur Sowjetunion in ähnliche Fahrwasser geraten war wie heute das zu Russland.

Warum ringt sich der Bundespräsident, nachdem er jeden Kontakt zur russischen Führung so lange und beharrlich gemieden hat, nicht wenigstens zum 75. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion dazu auf, seine stoische Distanziertheit aufzugeben? Er müsste nicht unbedingt nach Moskau fliegen. Ein Auftritt im Bundestag täte es auch. Dazu freilich müssten Regierung und Parlament umdisponieren. Sie scheinen bei der Erinnerung an das "Unternehmen Barbarossa", dem 27 Millionen Menschen zum Opfer fielen, auf ein protokollarisches Understatement bedacht. Es wird auf eigene Gedenkveranstaltungen verzichtet, im Bundestag ist heute lediglich eine Stunde für die Beschäftigung mit einem Menschheitsverbrechen sondergleichen vorgesehen, ohne jeden feierlichen Rahmen, ein Tagesordnungspunkt unter anderen. Und Joachim Gauck ist an diesem Tag ausgerechnet nach Rumänien gereist, wo 1941 das Antonescu-Regime mit Soldaten an der Aggression beteiligt war.

Offenbar ist dieser so zurückhaltende wie fragwürdige Umgang mit deutscher Vergangenheit von der Sorge überlagert, zu viel Feierlichkeit assoziiert zu viel Russlandnähe.

Tatsächlich wird nicht nur eine Chance zur Entspannung verspielt, sondern auch das Gebot des historischen Anstands verletzt. Eine Geste der Demut wäre angebracht gewesen, zumindest ein Moment des Innehaltens angesichts des unermesslichen Leids, das mit dem 22. Juni 1941 begann.

Sakraler Raum

Ganz anders war die Stimmung noch am 27. Januar 2014, als der Schriftsteller Daniil Granin in den Bundestag geladen war. Man gedachte gemeinsam der 70. Wiederkehr des Tages, an dem 1944 die Belagerung Leningrads durch die deutsche Wehrmacht zu Ende ging. Granin sprach als Kriegsveteran und Verteidiger der Stadt an der Newa aus, was er zusammen mit den Eingeschlossenen und Todgeweihten selbst erlebt und erlitten hatte. Stets war die Reflexion des "Russland-Feldzugs" in Deutschland weitgehend von der Tragödie in Stalingrad bestimmt; viel weniger von der Blockade und dem Aushungern Leningrads. Viel mehr von der harten Gefangenschaft deutscher Soldaten in der Sowjetunion bis 1955, viel weniger oder gar nicht vom Schicksal drei Millionen gefangener Sowjetsoldaten, die erschossen und erschlagen wurden oder durch Hunger und Zwangsarbeit starben.

Daniil Granin sagte, er habe lange gebraucht, um diesen Krieg angemessen zu beschreiben und "dass wir einen Sieg errungen haben, der gerecht war. Es gibt wahrscheinlich einen sakralen Raum, in dem der Mensch des Sieges teilhaftig wird. Wo das Wichtigste die Liebe zu den Menschen und zum Leben ist."

Die Bundesregierung sollte wissen, was Geschichtsvergessenheit anrichten kann, was gemiedene oder falsche symbolische Handlungen bewirken. Sie sollte sich erinnern, welche Rolle die Russen bei der Vereinigung 1990 spielten. Dass sie an unsere redlichen Absichten glaubten und zu manch schmerzlichem Zugeständnis bereit waren. Vom postsowjetischen Raum abgesehen, brachten die Russen danach niemandem so viel Vertrauen und Sympathie entgegen wie den Deutschen. Heute sehen nur noch zwei Prozent der Bürger Russlands in Deutschland ein befreundetes Land. Wer das aus einer Fokussierung auf den autoritären, um neue Stärke bemühten Präsidenten Putin erklärt, der irrt. Es muss andere Gründe für diesen Stimmungswandel geben - und es gibt sie.

Noch 1990 prägte nicht nur eine geduldige, mit Augenmaß geführte Entspannungspolitik das Verhältnis beider Völker. Obwohl fast in jeder Familie zwischen Brest und Wladiwostok erlittenes Kriegsleid präsent war, hatten die Russen den Deutschen verziehen. Als gelebte Versöhnung konnte man den Abzug russischen Militärs aus dem Osten Deutschlands verstehen. Warum wurde dann das zwischen Helmut Kohl und Michail Gorbatschow einst besprochene Agreement, keine NATO-Truppen auf dem Gebiet der DDR zu stationieren, so kategorisch angetastet? Und jetzt dieses Säbelrasseln an Russlands Grenzen, das Außenminister Steinmeier zu recht beklagt.

Nie zu tilgen

Um richtig verstanden zu werden, 1941 hatte ein verbrecherischer Diktator einen anderen verbrecherischen Diktator "betrogen". Nach 1990 haben demokratische Staaten Europas ein sich demokratisierendes Russland getäuscht. Bestehende Abrüstungsverträge wurden aufgekündigt oder ausgehöhlt. Mit der NATO-Osterweiterung entstand eine veränderte strategische Balance in Europa, weil sich das westliche Militärbündnis weit nach Osten schob. Warum sollte sich Russland - auch weil der 22. Juni 1941 nie aus dem kollektiven Gedächtnis seines Volkes zu tilgen sein wird - davon nicht bedrängt fühlen? Die viel beschworene Friedensordnung, die mit dem Pariser KSZE-Gipfel vom November1990 den Kontinent auf immer zu vereinen versprach, ist daran gescheitert, dass ein Denken in Interessensphären erhalten blieb. Auch haben sich die Wertesysteme den sehr unterschiedlichen politischen Kulturen im vermeintlich "Gemeinsamen Haus Europa" nicht so weit geöffnet, wie es nötig gewesen wäre. So wird Russlands Präsident heute dämonisiert und nicht als Repräsentant des Volkes wahrgenommen, dessen Angehörige mit dem 22. Juni 1941 zu "slawischen Untermenschen" erklärt wurden.

"Meinst du, die Russen wollen Krieg?" fragte Jewtuschenko und schrieb: "Nicht nur fürs eigene Vaterland/Starb der Soldat im Weltenbrand./Nein, dass auf Erden jedermann/Sein Leben endlich leben kann."

Quelle: der FREITAG vom 21.06.2016. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

23. Juni 2016

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