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Algerien: Zuflucht auf Zeit

Die Bauwirtschaft des Maghreb-Staates lebt von Zuwanderern aus westafrikanischen Ländern, die größtenteils nach Europa weiterziehen wollen

Von Sabine Kebir

Migranten aus Mali, Niger, Gambia, Senegal, Tschad, der Elfenbeinküste oder aus Kamerun trifft man oft in diesem Land. Die Strecke, die sie von hier aus über das Mittelmeer nach Europa zurücklegen wollen, ist lang. Weil das Geld dafür oft erst nach und nach erarbeitet werden muss, halten sich viele längere Zeit in Algerien auf. Das Land kann zum Refugium auf Zeit werden. Besonders für Familien ist es schwer, auf ihrem Weg nach Norden voranzukommen.

So begegne ich - unterwegs von Oran nach Sidi Bel Abbès knapp 100 Kilometer südlich der Hafenstadt - am Rande der Autobahn einer fünfköpfigen Familie aus dem Tschad. Sie sitzt in Picknickformation zusammen, die Frau ist schwanger, der Mann hält ostentativ ein großes Buch in den Händen, damit jeder erkennt: Er liest seinen Kindern aus dem Koran vor. Das hinterlässt einen guten Eindruck. Tatsächlich hält ein weiteres Auto auf dem Standstreifen, aus dem eine Frau steigt, um der Mutter ein Geldstück zu reichen. Viele Algerier wollen den Flüchtlingen gegenüber solidarisch sein.

Mich führt ein Theaterprojekt - König Ödipus aus der Feder des Ägypters Tawfik al-Hakim - nach Sidi Bel Abbès, eine einst für die Garnison der französischen Fremdenlegion angelegte Stadt. Von 1977 bis 1978 habe ich hier gelebt und an der Universität von Oran unterrichtet. Mein Mann Saddek arbeitete als Personaldirektor eines Industriebetriebs. Eigentlich Regisseur, hatte er sich mit dem berühmten Kateb Yacine verkracht, dem damaligen Theaterleiter. Er hatte eine rote Fahne nicht voller Leidenschaft auf der Bühne schwenken wollen. Saddek fand das demagogisch, Algerien lebte schon damals weniger von Arbeit als von Erdöl. Woran sich bis heute nur wenig geändert hat. Dank der Ölausfuhren ist in den letzten Jahren der Konsum fast ausschließlich ausländischer Waren noch einmal merklich gestiegen. Selbst Apfelsinen, die man hier in Massen ernten könnte, kommen immer häufiger aus Marokko und Spanien.

An einem Bistro auf dem Theaterplatz, wo ich mittags mit einigen Kollegen eine Kaffeepause einlege, kommen immer wieder bettelnde afrikanische Kinder vorbei. Gefragt, warum sie nicht zur Schule gehen, laufen sie verschreckt davon. Auch Einheimische - in diesem Fall drei Schwestern von acht bis vierzehn Jahren - fordern mit kindlich koketter Aggressivität Almosen für ihre Familien. Sie reagieren ebenfalls ängstlich auf die Frage nach einem Schulbesuch. Nachdem sie mit ein paar Geldstücken abgezogen sind, frage ich, ob das nicht Roma waren. Nein, wird mir erklärt, sie würden einem anderen, über ganz Algerien verstreuten, Stamm angehören, der seit jeher betteln würde und kaum vom Erdöl-Manna profitiere.

An nächsten Tag stehen plötzlich zwei junge Afrikaner mit gepackten Rucksäcken vor mir und bitten höflich um eine milde Gabe. Sie seien am frühen Morgen über Maghnia aus Marokko abgeschoben worden und wollten weiter nach Oran. Dort hätte ein Freund ihnen Arbeit versprochen. Was für Arbeit, frage ich. "Ich bin Bauingenieur", sagt der eine, "wir werden auf einer Baustelle arbeiten." Sein Kollege stellt sich als Informatiker vor. Beide stammen aus Liberia und haben dort studiert. Ich statte sie mit einer Summe aus, mit der sie Mittag essen und bis Oran fahren können. Ob ihr Ziel wirklich die Aufnahme von Arbeit ist, erscheint zweifelhaft. Sie werden wohl versuchen, auf ein Schiff zu gelangen.

Überstürzte Abschiebung

Jedoch bestätigt sich einige Tage später, dass Afrikaner tatsächlich eine hoch geschätzte Arbeit auf algerischen Baustellen, in der Wasserwirtschaft und in der saharischen Landwirtschaft leisten, für die sich - so erfahre ich staunend - Einheimische offenbar zu schade sind. In der Wüstenkommune Saïd Otba im Regierungsbezirk Ouargla, der für eine hohe Erwerbslosigkeit bekannt ist, kam es am 2. März zu einem Streit zwischen einem afrikanischen Bauarbeiter und einem 24-jährigen Einheimischen, der eskalierte und schließlich mit dem Tod des Algeriers endete. Rasch bildete sich ein Mob aufgebrachter Algerier. Sie fielen über eine Gruppe von der Arbeit heimkehrender afrikanischer Bauarbeiter her, die nicht ahnen konnten, Opfer eines Pogroms zu werden. Die algerische Liga für Menschenrechte und die algerische Sektion von Amnesty International teilten später erschüttert mit, es habe fünf Tote bei den Überfallenen gegeben, was die Behörden aber nicht bestätigten.

Allerdings entschloss sich der Gouverneur von Ouargla umgehend zu einer drastischen Maßnahme, die Amnesty International scharf verurteilte: die Abschiebung von knapp 2.000 Afrikanern, vorwiegend aus subsaharischen Ländern, von denen ein erstes Drittel innerhalb von 48 Stunden abreisen sollte. Um sie die 1.600 Kilometer bis zur malischen Grenze zu transportieren, wurden 15 Busse und 80 Fahrer mobilisiert. Selbst eine Crew von Medizinern des algerischen Roten Halbmonds war aufgeboten, um den Konvoi zu begleiten.

Bei der Abfahrt spielten sich berührende Szenen ab. Die Arbeitgeber waren zur Verabschiedung ihrer Arbeiter geeilt und zahlten ihnen den Restlohn aus. Nicht wenige weinten und verfluchten die Maßnahme des Gouverneurs, die - so fürchteten sie - den Ruin ihres Unternehmens nach sich ziehen könnte. Die einheimische Jugend, so war zu hören, lehne es ab, woanders als in den Erdölbasen zu arbeiten. Für alle sonstigen Wirtschaftszweige, deren Entwicklung für die Zukunft der Region jedoch unabdingbar ist, fehlen willige, vor allem qualifizierte Arbeitskräfte. Das bestätigt auch der Sicherheitschef von Ouargla, der die Abschiebung mit dem Argument rechtfertigt, die physische Unversehrtheit der Migranten lasse sich nur so schützen.

Die Mehrheit der lokalen Bevölkerung - sie stammt häufig von vor Jahrhunderten verschleppten schwarzafrikanischen Sklaven ab - lehne nun einmal den weiteren Verbleib der Migranten strikt ab. Der Gouverneur selbst gibt unumwunden zu, dass sich seine Verwaltung durchaus bewusst sei, mit welchem immensen Schaden für die Wirtschaft zu rechnen sei. "Wir wissen jetzt schon, dass es erhebliche Störungen im Bausektor geben wird. Weder der normale Beginn des neuen Schuljahres im September noch des neuen Semesters in der Universität ist gesichert und noch weniger die Fertigstellung von Wohnungen. Wir sind im Begriff, unsere wichtigsten Arbeitskräfte zu verlieren." Und er fügt hinzu, immerhin gäbe es einen Teil der Bevölkerung, der den erzwungenen Exodus unschuldiger Menschen für eine schwere Ungerechtigkeit halte. In dieser Frage müsse sich die Zivilgesellschaft stärker engagieren.

Sie hat es prompt getan. Menschenrechtsorganisationen und die Assoziation der Arbeitgeber von Südostalgerien, deren Mitglieder keine Skrupel kennen, hochqualifizierte Afrikaner als Billiglöhner einzustellen, haben verlangt, dass der Staat die Rechte der Migranten wahren müsse. Nicht nur ihr Aufenthalt solle legalisiert, ihnen müssten auch volle Arbeitnehmerrechte zugesprochen werden.

Glückliches Ende

Was Behörden bislang nicht bewältigen, kann sich in Algerien durch beherzte Entscheidungen einzelner lokaler Autoritäten zurechtschieben. Laut Auskunft des malischen Arbeiters Slimane L., der selbst zu den Abgeschobenen gehörte, habe kaum einer der 2.000 Betroffenen das Land wirklich verlassen. Sein Bus habe an der Avenue Che Guevara in Tamanrasset, der Hauptstadt des gleichnamigen Regierungsbezirks, gehalten, damit zwei der Insassen ihr Mobiltelefon reparieren lassen konnten. Unter ähnlichen Vorwänden hätten auch alle anderen nach und nach den Bus verlassen. Niemand suchte nach ihnen.

Augenscheinlich wollte sich der Gouverneur, unter dessen Verantwortung die Abschiebung über die Grenze nach Mali letztlich vonstatten gehen sollte, die Schelte der Menschenrechtsorganisationen ersparen. Die meisten der subsaharischen Arbeiter sind jedenfalls wieder zu ihren Arbeitgebern zurückgekehrt, sofern sie nicht schon unterwegs andere Jobs gefunden haben. Auch in Sidi Bel Abbès, das sich seit der Kolonialzeit mit etlichen Neubauvierteln enorm ausgedehnt hat, sieht man Afrikaner arbeiten. Augenblicklich bauen sie an einer 17 Kilometer langen Straßenbahnstrecke mit, die den Norden mit dem Süden der Stadt verbinden soll.

Quelle: der FREITAG   vom 27.04.2016. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

27. April 2016

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