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Asyl: Plötzlich ist Ungarn überall

Ohne gesamteuropäische Strategie wird auch die deutsche Flüchtlingspolitik bald an einem toten Punkt angelangt sein

Von Lutz Herden

Schon der historische Vergleich führt in die Irre. Die Reden von Angela Merkel und François Hollande am 7. Oktober vor den EU-Parlamentariern in Straßburg seien ein symbolischer Vorgang gewesen, heißt es. Er erinnere an den gemeinsamen Auftritt von Helmut Kohl und François Mitterrand im November 1989, als beide am gleichen Ort das gleiche Gremium auf eine Epochenwende einstimmen wollten, die mit dem Mauerfall heraufdämmerte.

Man sollte nicht ganz ausblenden, dass die EU vor 26 Jahren mit zwölf Mitgliedsstaaten nicht nur kleiner, sondern auch eine rein westeuropäische Veranstaltung war. Die jahrzehntelange Blockkonfrontation hatte der Staatenunion Zusammenhalt und sozialökonomische Homogenität verordnet. Davon stand Ende 1989 nichts zur Disposition, zumal offen blieb, wie und ob überhaupt auf der anderen Seite des bisher Eisernen Vorhangs die politische Landschaft umgebrochen würde. Für die EU galt die Devise, wir müssen auf vieles gefasst sein. Vorerst aber bleibt für uns alles so, wie es ist. Wenn die Zeichen nicht trügen, sind wir die Sieger der Geschichte und können geschlossen wie entschlossen abwarten - das klang nicht nach einer überdimensionalen Herausforderung.

Inwieweit trifft das auf den Handlungsrahmen des 28-Staaten-Bundes im Augenblick zu? Schon vor dem Dissens in der Asylpolitik war ein Maß an Desintegration erreicht, das in der Geschichte des vereinten Europas seinesgleichen sucht. Umso mehr verblüfft - um nicht zu sagen befremdet -, dass die Staatschefs Deutschlands und Frankreichs in Straßburg den Eindruck erwecken, die EU könne durch "Verantwortung, Solidarität und Entschlossenheit" (Hollande) bewältigen, was ihr mit der Flüchtlingskrise auferlegt ist.

Kern- und Osteuropa

Mithin sei mehr Integration die europäische Antwort auf eine prekäre Situation. Das klingt rational und ist doch irreal, weil mit einer solchen Antwort kaum zu rechnen ist, in absehbarer Zeit jedenfalls nicht. Das Gegenteil zu suggerieren, offenbart nicht nur Hilflosigkeit. Es täuscht auch darüber hinweg, dass kein strategisches Konzept existiert, um eine adäquate Flüchtlingspolitik zu verfolgen. Eine solche kann nur europäisch grundiert sein, da haben Merkel und Hollande recht, aber sie definieren ein Ziel, das nicht erreicht werden kann, weil die Voraussetzungen fehlen, dies zu tun.

In Osteuropa wird ihr Appell zu gegenseitiger Hilfe bei der Flüchtlingsaufnahme weder Gehör finden noch Tatkraft auslösen. Ungarn hat sich mit seinem repressiven Gebaren auf spektakuläre Weise hervorgetan, doch plötzlich scheint Ungarn überall zu sein, in den anderen Visegrád-Staaten Polen, Tschechien und der Slowakei ebenso wie in den baltischen Republiken. Würden die bisher auf Abwehr bedachten Regierungen dieser Länder einlenken, wäre das mit Prestige- und Gesichtsverlust verbunden. Wer will sich den schon einhandeln? Noch dazu, wenn der Solidaritätsaufruf aus Deutschland kommt, das diesmal als moralische Führungsmacht auftritt. Als solche bisher jedoch kaum auffiel.

Mit der Kanzlerin pocht jemand auf eine solidarische europäische Flüchtlingspolitik, der seit Jahren einer solidarischen europäischen Finanzpolitik eine Absage nach der anderen erteilt. Was hat Deutschland seit Ausbruch der Eurokrise nicht alles getan, um die Macht der Gemeinschaft (Stichwort Eurobonds) klein zu halten, weil das eigenen Interessen diente? Griechenland ist das prägnante Beispiel, auch Spanien, Portugal, Irland oder Zypern wären zu nennen, um vorzuführen, wie sich humanitäre Fesseln sprengen lassen, wenn deutscher Euro-Nationalismus das soziale Schicksal von Millionen Menschen ignoriert.

Angela Merkel sollte das selbstauferlegte Empathie-Verbot kennen und wissen, weshalb sie in Straßburg ins Leere argumentiert hat. Europa ist nicht die Löung der Flüchtlingskrise, sondern eine der Ursachen und in seiner Zerrissenheit prädestiniert, dies mit jedem Tag mehr zu sein. Der von Merkel beschworenen "Bewährungsprobe historischen Ausmaßes" kann und will die EU der 28 nicht gewachsen sein. Diese Verweigerung ist nicht zuletzt eine Konsequenz des willkürlichen Umgangs mit dem Dublin-II-Abkommen, das bekanntlich verfügt, zunächst ist jenes EU-Land für Registratur und Versorgung von Asylsuchenden zuständig, in dem diese erstmals EU-Territorium betreten. Davon hat Deutschland profitiert, solange sich der Flüchtlingsstrom in Grenzen hielt. Diese Regel wurde von Angela Merkel außer Kraft setzt, als ihr das geboten schien, ohne sich darüber groß mit betroffenen Transitländern wie Kroatien oder Slowenien abzustimmen. Man kann der Regierung von Viktor Orbán vieles ankreiden, aber nicht bestreiten, dass sie durch ihr inhumanes Verhalten die inhumane Logik eines Systems auf den Punkt gebracht hat, das EU-Staaten ohne EU-Außengrenzen privilegiert und Flüchtlinge reglementiert, statt ihnen zu helfen. Im Übrigen müssen die teils martialischen Bollwerke, mit denen sich in Marokko die spanischen Exklaven Melilla und Ceuta gegen Migranten abschotten, den Vergleich mit Ungarns Grenzzäunen nicht scheuen.

Um auf Straßburg zurückzukommen - dem deutsch-französischen Begehren fehlt der europäische Resonanzboden. Kern- und Osteuropa reden aneinander vorbei, so dass auf einmal eine ganz andere - auf den ersten Blick unerwartete - Bilanz der Osterweiterung zu ziehen ist. Es machen sich Umstände bemerkbar, die lange unbeachtet blieben, aber verstehen helfen, weshalb man in Warschau, Prag, Budapest, Bratislava, Riga oder Tallinn darauf besteht, Flüchtlinge vorzugsweise abweisen statt aufnehmen zu wollen. Die supranationale Identität und kulturelle Zusammengehörigkeit des 28-Staaten-Bundes verharren im Zustand der Proklamation, wenn es darauf ankommt, nationalstaatliche Verhaltensmuster zu meiden. Es mag dafür Erklärungen geben, die auf das Bedürfnis nach innerer Sicherheit und Wohlfahrt verweisen, doch reicht das? Nach dem sozialökonomischen Transit, den Osteuropa seit 1990 durchlief, blieb das erhoffte feste Ufer verwehrt. Damit gemeint ist die "gute Ordnung" existenzieller Selbstverständlichkeiten, die man auf der Reise von einem System zum anderen vor Augen hatte, um das seelische Gleichgewicht zu wahren: sozial gerechte Verhältnisse, eine stabile pluralistische, solidarische Ordnung, eine ökologischen Maximen gewachsene Gesellschaft, die ihre Umwelt nicht ausbeutet.

Wie sich herausstellte, bedeutete Aufbruch nach Europa auch Rückkehr in ein Europa, das so immer schon existiert hat - eines der nationalen Egoismen und des Misstrauens, der Hierarchien und Unterordnung, dessen Normalität - siehe Jugoslawien - auch Krieg heißen kann. Es gab einen weitverbreiteten Irrtum, der sich nach 1990 unter dem wehenden Mantel der Geschichte nicht als solcher zu erkennen gab: Wenn die Emotionen des für historisch gehaltenen Moments den Willen zu nationaler Selbstbestimmung und Identität überlagern, bleiben Wandel und Zäsur nicht aus.

Heimatstaat und Heimstatt

Charles de Gaulle (1890-1970) schrieb einst in seinen Mémoires d’Espoir, er halte wenig von der Brüsseler Gemeinschaftsbürokratie und ihrer Integrationsmystik. Auch wenn Westeuropa mehr zueinandergefunden habe, als das 1945 denkbar schien, lebe man weiter auf einem Kontinent der Nationen und Vaterländer. Wer sich darüber hinweg lüge, beschreite einen Irrweg und werde scheitern. Es ließe sich ergänzen, wenn so wie heute das Nationalgefühl zur Zuflucht wird, steckt darin mehr als nur der Antrieb zur Abwehr des Fremden, der eine Herberge zu teilen wünscht. Dieser nationalnotorische Reflex wird genährt und verstärkt, wenn die Herberge in einem Europa gesucht wird, dessen gemeinsames Haus eine Beletage, das Untergeschoss, Kellerräume und manche Dachkammer vorweisen kann. Wer teilt was? Mit wem und wie?

Angesichts der Warnung de Gaulles vor Irrwegen sollte ein besonders bizarres Kapitel politischer Landschaftspflege erinnert werden, das sich in Südosteuropa zugetragen hat. Es geht um den EU-Retortenstaat "Republik Kosovo", der 2008 vom Stapel lief. Nicht menschliches Mitgefühl für eine albanische Mehrheit in der einst zu Serbien gehörenden Region führte zu diesem Staat, sondern das Bedürfnis, Serbien bei der Neuordnung Jugoslawiens den hegemonialen Schneid abzukaufen. Sollte es anders gewesen sein, müssten die Wirtschaftsflüchtlinge aus dem Kosovo, die gerade in Deutschland und anderswo in der EU ein Auskommen suchen, vorbehaltlos empfangen werden. Sie fliehen vor Hoffnungslosigkeit, weil ihr Land ökonomisch verkümmert. Sie wollen nicht bleiben, wo ihnen die EU einen Heimatstaat verschafft hat, sondern ihre Heimstatt besser direkt in der EU finden. Wäre die EU-Kosovo-Politik fähig, ihr Scheitern einzugestehen, müsste das respektiert werden.

Auch deshalb - weil statt des Mutes zum Realismus der Hang zum Zweckoptimismus dominiert - wie das Merkel und Hollande in Straßburg demonstriert haben, wird es keine europäische Strategie in der Flüchtlingsfrage geben. Wer das Gegenteil suggeriert, weiß es nicht besser oder betrügt sein Publikum. Umso mehr kommt es darauf an, in solcher Lage demokratiefähig zu bleiben und dem affirmativen Imperativ des "Wir schaffen das" zu trotzen. Es schürt keinen Fremdenhass, wer unumwunden erklärt: Kommt keine gemeinsame, die Lasten verteilende EU-Flüchtlingspolitik zustande, kann es auch keine deutsche geben, bei der das Gemeinwohl wieder stärker in den Vordergrund tritt. Dieses Eingeständnis wird gebraucht. Die Gesellschaft kann daran zerbrechen, wenn es ausbleibt.

Quelle: der FREITAG vom 15.10.2015. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

15. Oktober 2015

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