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Sind tote Flüchtlinge unvermeidlich für unseren Wohlstand?

Von Felix Huesmann

Die Außengrenze der EU ist mittlerweile die tödlichste Grenze der Welt geworden. Alleine in den ersten Monaten dieses Jahres sind 1.800 Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken, seit dem Jahr 2000 wird die Zahl der Toten auf 23.000 geschätzt. Zum Vergleich: In all den Jahren, die die Mauer stand, gab es insgesamt 817 Tote an der innerdeutschen Grenze. Damals war klar, wer diese Toten zu verantworten hatte. Aber wie sieht es heute aus? Wer trägt die Schuld an dem Massensterben vor Europas Grenzen?

Für einige europäische Politiker wie die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini war das schnell klar: Die Schlepper, die illegal und für viel Geld Flüchtlinge auf überfüllten Bruchbooten nach Europa bringen. Man sollte also deren Boote sprengen und gegen die Schlepperbanden vorgehen , dann könnten sie keine Menschen mehr in Seenot bringen. Gutverdienende Schlepper, die sich mehr um Profit als um Menschenleben sorgen, sind sicherlich keine Engel. Würde es aber legale Wege zur Einreise geben, bräuchte es die Schlepper gar nicht. Für Flüchtlingsaktivisten trägt also die EU die Verantwortung, die ihre Grenzen dicht macht und sich nicht genug um die Seenotrettung kümmert.

Prof. Dr. Arian Schiffer-Nasserie kritisiert beide und sieht die Toten im Mittelmeer als ein unvermeidbares Produkt unserer Weltordnung. Die Flüchtlinge und deren Tod, so behauptet er, seien einkalkuliert und notwendig für den westlichen Wohlstand. In Gastbeiträgen in verschiedenen Zeitungen und Magazinen hat der Professor für Politikwissenschaft und Sozialpolitik an der Evangelischen Fachhochschule in Bochum immer wieder die Verbindung zwischen kapitalistischer Weltordnung und den Toten im Mittelmeer hergestellt. Für ihn kann es das Eine nicht ohne das Andere geben.

Die Redaktion von VICE hat mit ihm über Fluchtgründe, die Weltordnung, darüber, was man (nicht) tun kann, gesprochen.

VICE: Es kommen immer mehr Flüchtlinge nach Europa, bei Ländern wie Syrien sind die Fluchtgründe relativ offensichtlich. Warum steigen auch die Flüchtlingszahlen aus anderen Teilen der Welt?

Prof. Dr. Arian Schiffer-Nasserie: Die Zahlen der Menschen, die weltweit auf der Flucht sind, haben in den letzten beiden Jahren auf jeden Fall einen neuen Weltrekord erreicht - zumindest seit dem Zweiten Weltkrieg. Und selbst wenn man gar nichts weiter darüber weiß, wäre ja vielleicht folgender Rückschluss möglich: Es herrschen Zustände, die denen im Zweiten Weltkrieg ähneln, was die Zerstörung der Lebensgrundlagen der Menschen in Afrika, Asien und dem Nahen Osten angeht.

Wie werden dort die Lebensgrundlagen zerstört?

Man kann die Zerstörung in ökonomische, politische und militärische unterteilen. Ökonomisch in dem Sinn, dass Länder wie die Bundesrepublik auf dem Weltmarkt erfolgreich sein müssen und als Exportnationen bestehen bleiben wollen. Dafür erobern sie fremde Märkte und zerstören teilweise die lokalen Produzenten. Dann versuchen sie umgekehrt, durch den Import von Bodenschätzen die Naturreichtümer der Welt für ihr Wachstum auszunutzen. Die Menschen, die dort leben, sind nur soweit wertvoll, wie sie für die Vermehrung von Reichtum - und zwar meistens den von ausländischen Konzernen - taugen. Wenn sie dafür nicht taugen, haben sie keine Lebensgrundlage.

Die Länder sind aber auch politischer Streitfall zwischen dem Einfluss verschiedener Weltmächte und Interessensgruppen - des Westens einerseits und Chinas andererseits. Es gibt Länder, die ökonomisch und politisch überhaupt nicht funktional für westliche Ordnungsansprüche sind. Und im letzten Fall soll es ja häufiger vorkommen, dass Kriege geführt werden, gegen Regierungen und Staaten, die als antiwestlich gelten, weil sie sich den Ordnungsvorstellungen des Westens nicht unbedingt unterordnen.

An den EU-Außengrenzen sind bislang Tausende Menschen gestorben - wessen Schuld ist das?

Ich will gar nicht sagen, wer schuld ist, sondern wo die Ursache liegt. Die Ursache liegt in einer Weltordnung, die darauf ausgelegt ist, dass die erfolgreichen kapitalistischen Staaten Westeuropas und Nordamerikas den Nutzen aus der Welt ziehen und die Armutsresultate, die sie dabei überall produzieren, und das Elend, das dabei notwendig zustande kommt, bei sich nicht haben wollen. Das ist was anderes als die Schuldfrage, die so beliebt ist. Man sagt entweder, das sind kriminelle Schleuserbanden, es ist die schlimme EU-Politik, es sind die Flüchtlinge selber oder die korrupten Regierungen vor Ort. Die Schuldfrage behauptet nämlich immer, dass das Elend eigentlich nicht sein müsste, hätten alle alles richtig gemacht. Ich will das Gegenteil behaupten: Für diese Weltordnung sind die Flüchtlinge unvermeidlich.

Du wirfst Gruppen wie Pro Asyl, die vom "Scheitern der europäischen Flüchtlingspolitik" sprechen, Naivität und eine "falsche Staatsgläubigkeit" vor. Wieso?

"Gescheiterte Flüchtlingspolitik" stellt die Sache auf den Kopf. Nicht die Flüchtlingspolitik, sondern das Leben der Menschen ist gescheitert - und zwar an dieser Flüchtlingspolitik. Wenn Pro Asyl oder andere flüchtlingsbewegte Gruppen der Bundesregierung unterlassene Hilfeleistung vorwerfen, dann nehmen sie die Bundesrepublik stets nur als Helfer wahr. Sie wollen sie nur als Helfer wahrnehmen, und zwar als schlechten, als unterlassenden Helfer. Dabei ist eigentlich das Gegenteil wahr. Deutschland ist zentral an der Verursachung der Fluchtgründe mit beteiligt. Darüber muss man reden, wenn einem wirklich etwas an der Abschaffung des Flüchtlingselends gelegen ist.

Und wo sollen solche Gruppen dann ansetzen?

Leider nirgendwo geringer als bei der Weltordnung, die diese Flüchtlinge produziert. Das ist schön und billig, sich vorzustellen, dass jeder einzelne nur anders denken müsste, dass jeder etwas anders tun müsste, und schon müsste das ganze nicht sein. Das befriedigt vielleicht das Gefühl, zu den Wohlmeinenden zu gehören - an dem Verhältnis ändert sich leider nichts, so sehr ich mir das auch wünschen würde. Die Jahre, seitdem ich mich mit dem Thema beschäftige, bestätigen das leider allzu tödlich.

Die Revolution steht aber grad nicht vor der Tür und es wird weiter gestorben. Siehst du gar keine realpolitischen Ansatzpunkte?

Nein, es wird tatsächlich einfach weiter gestorben.

Was kann man denn dann tun?

Man sollte als Erstes klarstellen, dass die EU kein schlechter Helfer ist, sondern der Verursacher. Dass man über die Ursachen Bescheid weiß und nicht aus opportunistischen Gründen über sie hinwegsieht, ist doch die Voraussetzung dafür, dass man was ändern kann. Das halte ich zumindest auch in meinem Alltag und meinem normalen Leben für selbstverständlich. Dass man sich erstmal über die Ursachen Klarheit verschafft und dann ans Lösen geht. Wenn das in diesem Land schon nicht geht, weil man so ein enges, verliebtes Verhältnis zu seiner Regierung und zu seinem Staat hat, dann mag man das Problem auch nicht grundsätzlich lösen. Dann gefällt es einem offenbar besser, sich selbst als gute Seele zu inszenieren.

Ich bin nicht dagegen zu helfen. Das soll jeder tun, so gut er kann. Boote chartern, Schlafsäcke verteilen, sein Geld abgeben. In dieser Hinsicht tun auch viele Leute viel. Nur scheinbar ändert das alles gar nichts an den Ursachen und an der Not. Darum muss man grundsätzlicher werden, wenn man sich nicht mit diesem zynischen Verhältnis abfinden will. Hilfe ist immer dann nötig, wenn Hilfsbedürftigkeit erstmal in der Welt ist. Die deutschen Sozialverbände helfen seit über 150 Jahren - und das halte ich für ein trauriges Urteil. Wenn man sich nicht mehr mit den Ursachen der Notlagen in Deutschland oder der Welt befassen will, dann ist Hilfe gar kein erster Schritt zur Überwindung der Probleme, sondern nur die Betreuung des Leids.

Zurück zur EU. Zumindest Flüchtlinge auf hoher See zu retten, ist ja schon mit der europäischen Politik vereinbar …

Ja, das findet auch statt. Aber mir fällt als Erstes auf, dass die Verursacherländer der Fluchtgründe sich jetzt als Retter inszenieren. Und das ist eine Verkehrung der Tatsachen.

Der Ökonom Michael Clemens hat uns vor Kurzem erklärt, wie eine komplette Öffnung der europäischen Grenzen sogar zu einem Wirtschaftswachstum führen würde . Das scheint ja also schon mit dieser kapitalistischen Weltordnung vereinbar.

Darüber, wie naiv oder erfunden die Gesichtspunkte des Ökonomen sind, will ich nicht streiten. Offenbar halten es die wichtigen politischen und ökonomischen Kreise für unabänderlich, die europäische Grenzschutzpolitik fortzusetzen und sogar zu militarisieren.

Interessant finde ich aber das Argumentationsmuster. Wenn man sagt, mehr Flüchtlinge für Deutschland und offene Grenzen auch zur Dritten Welt wären ein wirtschaftlicher Zugewinn. Oder wenn man sagt, es wäre eine Win-Win-Situation, wenn junge afrikanische Männer auf den deutschen Arbeitsmarkt strömen, dann fällt eins auf: Die Leute, die das wohlmeinend im Interesse der Flüchtlinge sagen, haben durchaus gespürt, dass ein Menschenleben gar nicht das zentrale Argument ist, sondern der ökonomische und politische Gewinn für Deutschland. Genau der ist es aber, der erstmal zu den Toten führt. Vielleicht sollte man doch mal diesen Zweck kritisieren, statt in einer utopisch konstruktiven Kritik immer zu erfinden, dass man eigentlich den ökonomischen Vorteil der Nation mit ihren Opfern versöhnen könnte. Das Gegenteil liegt doch gerade auf der Hand - beziehungsweise im Mittelmeer.

Quelle:  VICE , 13.05.2015. Wir veröffentlichen das Interview mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

Veröffentlicht am

01. Juli 2015

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