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8. Mai: Geteilter Himmel

Russland zu schneiden, der Feier und Militärparade zum Tag des Sieges am 9. Mai in Moskau nicht die Ehre zu geben, beseelt die meisten EU-Regierungen. Ein fatales Signal.

Von Lutz Herden

Vor zehn Jahren schlägt der Anti-Hitler-Koalition des Zweiten Weltkrieges noch einmal die große Stunde. In Moskau begehen am 9. Mai 2005 US-Präsident George W. Bush und Frankreichs Staatschef Jacques Chirac zusammen mit Wladimir Putin den 60. Jahrestag des Sieges über die NS-Diktatur. Auch ein deutscher Kanzler - seinerzeit Gerhard Schröder - ist erstmals hinzu gebeten.

Wirkt damals schon die Eintracht mehr als Fassade denn als Fakt halten es doch alle Beteiligten für angebracht, dem historischen Vermächtnis ihres Bündnisses von einst und Russland als Nachfolgestaat der Sowjetunion die Ehre zu geben. Statt des Trennenden wird Gemeinsames beschworen wie einst im Kampf gegen Hitler, zumal nach dem 11. September 2001, nach 9/11, eine globale Anti-Terror-Koalition und Russland als Partner gefragt sind. Das sich nicht weiter bitten lässt.

Ansonsten ist der Abschied von der europäischen Nachkriegsordnung oder dem "System von Jalta", auf das sich die Sieger von 1945 verständigt hatten, vollzogen - ausgelöst durch den Systemwechsel in Osteuropa und das Ende der Sowjetunion, besiegelt durch die Osterweiterung von EU und NATO. Was dabei nach 1990 von der Tendenz her geschieht, lässt Russland wie den letztern Mohikaner von Jalta aussehen, der sich darauf beruft, dass seine Interessensphären respektiert werden sollten, wenn der Westen die seinen stetig ausdehnt.

Der sowjetische Präsident Michail Gorbatschow hat einmal für die Vision vom "Gemeinsamen Europäischen Haus" viel Beifall geerntet, aber sonst nichts. Die im Kalten Krieg vorherrschende Logik des Realismus ist im Westen einem postnationalen, auf Ideologie-Export bedachten Liberalismus gewichen, der Einfluss gern in einen Machtzuwachs ummünzt, wann immer die Möglichkeit dazu besteht - die militärische inklusive. So wird Serbien im Frühjahr 1999 durch eine NATO-Intervention gewaltsam domestiziert, um die territoriale Neuordnung Jugoslawiens zu vollenden.

Unter diesen Umständen hat sich seit 1990 das Verhältnis zwischen Russland und den westlichen Bündnissystemen zusehends verschlechtert. Das Fass zum Überlaufen bringen schließlich der Ukraine-Konflikt und ein putschartiger Machtwechsel in Kiew Ende Februar 2014 unter dem politischen Geleit des Westens, besonders der USA und Deutschlands. Seither legt sich die Geschichte als Wiederholungstäterin ins Zeug.

Geschnitten und gemieden

Ein zwischen Russland und der EU geteiltes Europa führt zum geteilten Gedenken am 70. Jahrestag des Kriegsendes. Moskau wird am 9. Mai, dem Tag des Sieges, geschnitten und gemieden. Die politischen Führer aus den USA, Frankreich, Großbritannien, Italien oder Deutschland verhängen einen Teilnahmeboykott. Aus der EU haben sich lediglich der griechische Premier Alexis Tsipras, die Präsidenten aus Zypern und Tschechien, Nicos Anastasiades und Miloš Zeman sowie der slowakische Premier Robert Fico angesagt, dazu werden offizielle Delegationen aus gut 50 Staaten von Brasilien über Indien bis Nordkorea erwartet.

Kanzlerin Angela Merkel will am 10. Mai in Moskau einen Kranz für die gefallenen Sowjetsoldaten niederlegen. Bei mehr als 27 Millionen Toten in der Sowjetion, die dem deutschen Überfall und einem im Namen Deutschlands geführten Vernichtungskrieg zum Opfer fielen, ist das zu wenig. Der 9. Mai in Russland war stets mehr als eine Militärparade. Es trafen sich mit den Kriegsveteranen und ihren Familien die Überlebenden und Nachgeborenen. Gut zweieinhalb Millionen Sowjetsoldaten, die zwischen 1941 und 1945 gekämpft haben, sind noch am Leben. Schon das nächste Mal, am 9. Mai 2016, werden es weniger sein. Sollte Merkel nicht vor allem ihnen begegnen?

Eine Parade der russischen Armee zum Jahrestag war noch 2010 im Westen alles andere als verpönt. Vor fünf Jahren marschierten Einheiten aus den USA, aus Großbritannien und Frankreich mit über den Roten Platz - ein symbolisches Defilee ehemaliger Alliierter, als es galt, Deutschland vom Faschismus und der Schmach eines Zivilisationsbruchs zu befreien, den es bis dahin noch nie gegeben hatte.

Der amerikanische Chefankläger Robert Jackson sprach im November 1945 bei seiner Eröffnungsrede vor dem Nürnberger Kriegsverbrecher-Tribunal von Untaten des NS-Regimes, die von so verwüstender Wirkung waren, dass "die menschliche Zivilisation eine Wiederholung solchen Unheils nicht überleben" würde.

Solchem Unheil begegnet zu sein, um es zu überwinden, darin besteht die historische Leistung der Anti-Hitler-Koalition. Eine Erfahrung, die als paradigmatische Lektion nicht nur überlebt, sondern zu unterschiedlichen Zeiten ihre Ausstrahlung bewahrt hat.

Ein frommer Wunsch

Das wurde offenbar, als das Ost-West-Verhältnis im Kalten Krieg heikle Phasen durchlief. Anfang der achtziger Jahre etwa versuchten sich NATO und Warschauer Pakt durch die Stationierung von Kurz- und Mittelstrecken-Raketen in Mitteleuropa, diesseits und jenseits der Eisernen Vorhangs, gegenseitig in Schach zu halten. Die Vorwarnzeiten verkürzten sich enorm. Vom Gebiet der Bundesrepublik Deutschland abgefeuert, konnten Pershing-II-Raketen in acht bis zehn Minuten sowjetisches Territorium erreichen. Für die in der Deutschen Demokratischen Republik dislozierten Kurzstrecken-Systeme war die Flugzeit Richtung Westen noch kürzer.

Bei einer dadurch heraufziehenden Kriegsgefahr das Vermächtnis der Anti-Hitler-Koalition zu bemühen, konnte nur bedeuten, sie als Koalition der Vernunft zu erinnern. Und zu sagen, 1943 wie 1983, damals wie heute im Angesicht einer existenziellen Bedrohung, die sich nicht ohne weiteres abwenden lässt, sind Allianzen im Namen der Zivilisation alternativlos. Sie reichen über Systemgrenzen und Weltanschauungen hinweg. Sie bieten keine Ideallösung für alle Zeit, aber helfen das Schlimmste und Unwiderrufliche zu verhindern. Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden unter den Menschen seines Wohlgefallens, heißt es im Lukas-Evangelium (Vers 14).

Zu diesem 70. Jahrestag der Befreiung sollte Friede auf Erden doch mehr als ein frommer Wunsch sein. Nur leider begegnen sich der Osten Europas, soweit er aus russischer Erde besteht, und der Westen mit einem Misstrauen und Missfallen wie auch im Kalten Krieg nur selten. Über die Gründe ist fast alles gesagt. Es zu wiederholen, erscheint müßig und wie ein Versuch des Redens zu unablässig Redenden, nicht Hörenden, geschweige denn Zuhörenden.

Dennoch sollte es auf allen Seiten einen Minimalkonsens geben: Zu diesem 70. Jahrestag des Sieges über die Barbarei Geschichte nicht zu instrumentalisieren. Damit nicht so umzugehen, wie das Bundespräsident Joachim Gauck im vergangenen September bei seiner Rede zum Gedenken an den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in Danzig tat. Ausgerechnet dort, wo mit den Granaten des deutschen Kriegsschiffs Schleswig-Holstein auf die polnische Westerplatte die ersten Schüsse des Weltkrieges abgefeuert wurden, hielt es Gauck für geboten, Russland wegen dessen Ukraine-Politik scharf zu attackieren.

Bei den Worten: "Die Geschichte lehrt uns, dass territoriale Zugeständnisse den Appetit von Aggressoren oft nur vergrößern", wurde Russland in die Nähe Deutschlands im September 1939 gerückt. Dieser Kontext galt auch für die Passage: "Weil wir am Recht festhalten, es stärken und nicht dulden, dass es durch das Recht des Stärkeren ersetzt wird, stellen wir uns jenen entgegen, die internationales Recht brechen, fremdes Territorium annektieren und Länder militärisch unterstützen".

Kein Wort in der gesamten Rede über den deutschen Angriff auf die Sowjetunion 1941 und einen rassenideologischen Vernichtungskrieg, den all das bestimmt hat, was Robert Jackson meinte. Der Münchner Zeithistoriker Andreas Wirsching schrieb zu Gauck, man dürfe die Lage in der Ukraine nicht zusätzlich mit historischen Vergleichen belasten: "Die Einzigartigkeit jeder historischen Konstellation verbietet es, einfache Parallelen abzuleiten."

Es gab im Nachkriegsdeutschland - in Ost wie West - eine Zeit, in der Selbstbescheidung als angemessene Verhaltensnorm respektiert war. Der Schrecken darüber saß tief, dass der Mantel der Geschichte auch als Leichentuch geschneidert sein konnte, das anderen oder einem selbst zugedacht war. Die hochgemuten, urteilsstarken Töne, wie sie heutzutage nicht nur Joachim Gauck zuweilen anschlägt, offenbaren, dass es gelungen ist, sich von jenem Schrecken, im Namen eines neuen Selbstbewusstseins zu befreien. Oder zu erlösen?

Zurückhaltung gilt wieder - wie schon des öfteren in der deutschen Geschichte - als Defätismus gegenüber den Herausforderungen der Gegenwart und der Gabe Deutschlands, sich überall als Wort- und Riegenführer aufzuführen. Mehr Demut täte gut und not. Zum 70. Jahrestag des Kriegsendes allemal. Merkels fatale Diplomatie der Zuteilung von Gedenksequenzen an Russland wird den Opfern nicht gerecht, die dessen Völker zwischen 1941 und 1945 gebracht haben. Sie verdienen es am wenigsten, dass sich deutsche Politiker in mentalen Schützengräben einrichten, um über die Grabenkante hinweg nach Osten zu blicken.

Quelle: der FREITAG vom 20.04.2015. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

22. April 2015

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