Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

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Gibt es eine gewaltfreie Reaktion auf ISIS?

Von Derek Flood

Schrecken und Entrüstung über die vom Islamischen Staat (IS) - auch ISIL (Islamischer Staat von Syrien und der Levante) oder ISIS (Islamischer Staat des Irak und Syriens) - verursachte, immer stärker werdende humanitäre Krise im Irak nehmen zu.

Christen in der Region werden gezwungen zu konvertieren, Tribut zu zahlen oder sie werden getötet , wenn die Splittergruppe von al Kaida in die mehrheitlich von Christen bewohnten Dörfer und Weiler im Irak eindringt. Tausende fliehen, um ihr Leben zu retten. Andere nicht muslimische Gruppen, besonders die Jesiden, die einen Glauben praktizieren, der älter als der Islam ist, werden Berichten zufolge vom fanatischen Islamischen Staat als Ungläubige betrachtet und auf eine Weise zum Ziel von Vernichtung , die von vielen schon Völkermord genannt wird.

Die UN sammeln noch Zahlenmaterial, aber sie meinen, dass Hunderte von Jesiden getötet wurden und andere Jesiden, vor allem Frauen, verschleppt und versklavt worden sind. Etwa 40.000 Jesiden sind in die Berge im Nordwesten des Irak geflohen , wo sie entweder verhungern müssen oder, wenn sie die Berge verlassen, einem Massaker durch den Islamischen Staat zum Opfer fallen.

Die Nachrichten sind verheerend und überwältigend. Das Leiden und die Brutalität der Handlungen übertreffen jede Vorstellungskraft. Wie würde eine gewaltfreie Reaktion aussehen?

Herkömmlicherweise wird die Frage gestellt, unter welchen Umständen Krieg und Gewaltanwendung "gerechtfertigt" sind. Dergleichen Fragen haben das Aufstellen von Kriterien für einen gerechten Krieg zur Folge. Das Problem ist, dass die Vorstellung vom gerechten Krieg sich oft darauf konzentriert, Gewalt zu rechtfertigen, während das, worauf wir uns konzentrieren sollten, ist, zu fragen: Wie können wir daran arbeiten, die Gewalt in der Welt zu verringern, anstatt dass wir sie rechtfertigen?

Die Gegenposition vertreten diejenigen, die für Pazifismus eintreten und den Standpunkt einnehmen, sie könnten nicht an einem Krieg teilnehmen oder töten, ohne dass diese Menschen die Konsequenzen berücksichtigen. Im Lichte dessen, was im Irak geschieht, ist es dagegen verständlich, dass viele darauf bestehen, wir hätten die moralische Verpflichtung, die Gefährdeten vor Schädigung zu schützen, und könnten nicht guten Gewissens einfach müßig zusehen, wie andere leiden.

Darum will ich damit anfangen, dass ich dem zustimme: Wir können nicht dabeistehen und nichts tun. Gewaltfreiheit und Feindesliebe können nicht zur Folge haben, dass wir Misshandlungen akzeptieren. Sie können nicht zur Folge haben, dass wir uns und unsere geliebten Menschen nicht vor Schädigung schützen. An dieser Stelle müssen wir anfangen. Das Ziel der Gewaltfreiheit ist es, Gewaltanwendung und Misshandlung aufzuhalten, und nicht, sie zu tolerieren.

Es ist wesentlich, dass wir verstehen, dass Gewaltfreiheit nicht einfach nur eine Weigerung ist, noch mehr Schädigung hinzuzufügen (gleichgültig, ob diese Schädigung physisch oder geistig/emotional ist), sondern wichtiger ist, dass zur Gewaltfreiheit gehört, so zu handeln, dass alles wieder instandgesetzt, geheilt und zurechtgerückt wird. Im Fall des Islamischen Staates müssen wir also die Fragen stellen: Was können wir tun, damit alles wieder zurechtgerückt werden kann? Wie können wir die Gefährdeten schützen? Was können wir zum Aufhalten der Gewalt tun?

Jeremy Courtney , der hashtag #WeAreN ins Leben gerufen hat, das weltweit zu einem Symbol-Schlachtruf geworden ist und der Christen aufruft, ihre Solidarität mit ihren Brüdern und Schwestern im leidenden Irak auszudrücken, hatte in einem Interview mit dem Religions-Redakteur Paul Rauschenbush Folgendes zu sagen:

Wir brauchen einen Langzeit-Plan, nicht nur einen kurzfristigen Anhaltspunkt. Es gibt Agenturen, die Christen, Jesiden, Turkmenen, Schabak und anderen helfen und diese Dienstleistungen sind notwendig. Aber es geht nicht nur darum, was Obama und Maliki wissen müssen. Die christliche Kirche muss ihr Verhältnis zur Gewalt überdenken. Dieses Verhältnis gehört mit zu dem, was uns und andere in diese fatale Situation gebracht hat. Wir dürfen uns nicht über Christenverfolgungen beklagen und gleichzeitig die Gewalt und unseren Einsatz von gewaltsamen Lösungen verschweigen. Wir brauchen einen Plan für die nächsten 40 bis 50 Jahre, damit wir, wenn es so weit ist, den nächsten Diktator zu stürzen, nicht so blind für unsere eigene Komplizenschaft sind und nicht in Kurzzeit-Gewinnen steckenbleiben.

Tatsache ist, dass es vielleicht keine gute kurzfristige Lösung für eine Situation gibt, da uns die Situation dermaßen aus den Händen geglitten ist, dass Menschen sie in Ausdrücken für Frankensteinmonster beschreiben, sondern wir müssen unbedingt unserer eigenen Komplizenschaft bei der Schaffung dieses Monsters ins Auge sehen. Tatsache ist, dass es der Gewalt nicht nur misslungen ist, Stabilität zu schaffen, sondern dass Gewalt auf eine derartige Weise geschehen ist, dass sie die Situation von Instabilität und Ungerechtigkeit, die dem Terrorismus Nahrung geben, verschlimmert hat. Gewalt hält Gewalt nicht auf, sondern Gewalt bewirkt, dass Gewalt wie ein aus der Kontrolle geratener Flächenbrand eskaliert.

Was können wir also tun? In gewisser Weise kann man die Situation mit der Situation eines Menschen vergleichen, der 50 Jahre lange Kettenraucher war und der, als der Arzt ihm sagt, er sei im letzten der vier Krebsstadien, fragt, wie die Ärzte ihm helfen könnten. Die Antwort ist: In diesem späten Stadium kann wahrscheinlich kein Arzt mehr etwas tun. Das bedeutet nicht, dass Medizin nicht funktioniert, sondern es bedeutet, dass man rechtzeitig mit der Behandlung anfangen muss. Wenn wir wirklich einen Ausweg aus dem eskalierenden Teufelskreis der Gewalt, in dem wir gefangen sind, finden wollen, müssen wir bei den Ursachen anfangen und größere Zeiträume ins Auge fassen. Wir müssen uns mit unserer Komplizenschaft bei der Verursachung des Chaos beschäftigen und daran zu arbeiten beginnen, das Chaos zu ordnen. Nicht mit Bomben und Drohnenangriffen, sondern indem wir auf lange Dauer an der Erreichung humanitärer Ziele arbeiten: Gesundheitsfürsorge, Armutsbekämpfung und Erziehung, denn diese spielen bei der Schaffung stabiler und sicherer Gesellschaften eine wichtige Rolle.

Wenn wir also in langen Zeiträumen denken, was können wir dann tun, um die nächsten ISIS und Al Kaida an ihrem Hervorbrechen aus dem Boden der Gewalt zu verhindern?

Erin Niemela schlägt drei vernünftige Wege zum Frieden vor:

1) Sofort damit aufhören, irgendeiner der beteiligten Parteien Geld und Waffen zu liefern. Das ist das, was von den drei Empfehlungen am leichtesten zu machen ist. Zehn Jahre Terrorismus-Herstellung und wir denken immer noch, dass unsere Waffen nicht in die "falschen" Hände fallen werden? Die Hände, in die sie fallen, sind immer die "falschen". Wenn wir ein gutes Beispiel brauchen, dann sehen wir uns doch unsere Lieblinge, die Freie Syrische Armee, und ihre empörenden Verletzungen der Menschenrechte an, z. B. dass sie Kindersoldaten einsetzen, wie Human Rights Watch 2012 und 2014 dokumentiert hat.

2) Voller Einsatz von sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungsinitiativen in allen Regionen, in denen es Terroristengruppen gibt. Tom Hastings, Ed.D., Professor für Konfliktlösung an der Portland State University stellt in seinem Buch Nonviolent Response to Terrorism folgende Fragen: "Was wäre, wenn die Terroristen - oder die Bevölkerungsbasis, auf der sie fußen - genügend lebensnotwendige Güter hätten? Was wäre, wenn die Bevölkerung sichere Arbeitsplätze, einen anständigen Lebensstandard, sauberes Wasser und gesunde Nahrung für ihre Kinder hätte? Glauben wir im Ernst, sie würde eine Rekrutierungsbasis für Terrorismus darstellen?"

Einen Teil seiner Kraft bezieht ISIS daraus, dass er die Familien gefallener Kämpfer versorgt, wozu auch die Ausbildung von Jungen gehört (und dann bekommt jeder eine Waffe in die Hand) und daraus, dass er aus Kummer und Wut in syrischen Gemeinden Kapital schlägt. Wenn wir ISIS und andere an terroristischen Aktivitäten Beteiligten schwächen wollen, müssen wir uns darauf konzentrieren herauszufinden, welche Bedürfnisse sie in diesen Gemeinden befriedigen. Lokale Gemeinden in der Region sollten autark sein und die Bürger sollten dazu befähigt werden, selbst für sich und ihre Familien zu sorgen, ohne dass sie die Waffen ergreifen und Gewalt ausüben.

3) Alle gewaltfreien Bewegungen des zivilen Widerstandes sollten voll und ganz unterstützt werden. Alle diejenigen, die alleingelassen worden sind, müssen mit dem unterstützt werden, was sie am meisten brauchen. Erica Chenoweth und Maria Stephen haben 2011 in ihrer bahnbrechenden Untersuchung "Why Civil Resistance Works" (Warum ziviler Widerstand funktioniert) Folgendes herausgefunden: "Zwischen 1900 und 2006 waren fast doppelt so viele gewaltfreie Widerstandskämpfe vollkommen oder teilweise erfolgreich wie ihre Gewalt anwendenden Entsprechungen." Außerdem ist die Wahrscheinlichkeit geringer, dass erfolgreiche gewaltfreie Widerstandskämpfe zu einem Bürgerkrieg führen, und die Wahrscheinlichkeit ist größer, dass demokratische Ziele erreicht werden.

Wir hätten die gewaltfreie syrische Revolution damals unterstützen sollen, als wir noch Gelegenheit dazu hatten. Stattdessen haben wir die Parteien der Gewalt ausübenden Rebellen legitimiert - dieselben Gruppen, die jetzt Seite an Seite mit Al Kaida und ISIS kämpfen. Wenn wir unsere bedingungslose Unterstützung allen Akteuren der gewaltfreien Zivilgesellschaft schicken, die noch in Syrien, im Irak, in Afghanistan und Libyen übrig sind, werden wir vielleicht herausfinden, dass wir das beste Gegenmittel gegen Terrorismus die ganze Zeit über direkt vor der Nase hatten: die Zivilgesellschaft.

Niemela zieht den folgenden Schluss: Die drei Schritte stellen einen vernünftigen Weg dar, die Feindseligkeiten zu verringern, die Entstehung neuer, Terrorismus schaffender Lebensbedingungen zu verhindern und lokale Gemeinschaften darin zu stärken, dass sie gewaltfreie Konfliktlösungsstrategien anwenden. Damit rotten wir den Einsatz von Gewalt nicht innerhalb kurzer Zeit grundsätzlich aus. Allerdings müssen wir sicherlich sehr vorsichtig sein, damit wir mit dem Einsatz von Gewalt alles nicht nur noch schlimmer machen, als es ohnehin schon ist. Die USA haben damit begonnen, den irakischen Kurden schwere Waffen zu liefern , damit sie damit gegen den Islamischen Staat kämpfen. Damit haben sie unkritisch ihre langjährige Politik wiederholt, Gruppen zu bewaffnen, von denen viele die Terroristen von morgen geworden sind. (Man sollte sich die Ironie klarmachen, dass der Grund dafür, dass die USA den irakischen Kurden Waffen schicken müssen, der ist, dass der Islamische Staat mit einer militärischen Ausrüstung für Hunderte von Millionen Dollar kämpft , die er von der irakischen Armee konfisziert hat, als diese die Waffen im Stich gelassen hatte.)

Wenn wir jedoch in größeren Zeiträumen denken, stellen wir fest, dass es höchste Zeit dafür ist, andere Möglichkeiten zu erkunden, anstatt dass wir das Mantra der Kriegskultur in unserem Land wiederholen und bejubeln, dass nämlich Gewalt die einzige Möglichkeit, die einzige Reaktion auf das Böse sei. Es wird Zeit, dass uns allen klar wird, dass es andere Möglichkeiten der Konfliktlösung und nicht nur die unmittelbare und einzige Zuflucht zur Gewalt und ihr Gutheißen gibt.

Derek Flood ist der Autor von Healing the Gospel: A Radical Vision for Grace, Justice and the Cross . Er veröffentlicht Artikel bei Huffington Post und Red Letter Christians und schreibt regelmäßig in seiner Website theRebelGod.com . Derek Flood bei Twitter @theRebelGod und bei Facebook .

Aus dem Englischen von Ingrid von Heiseler

Quelle:  Sojourners . Originalartikel:  Is There a Nonviolent Response to ISIS?

Veröffentlicht am

13. November 2014

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