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Russland: Riss zwischen den Welten

Die Abkehr des Landes von Europa wird immer unaufhaltsamer, die Reaktionen auf die verschärften EU-Sanktion sind ein mehr als deutliches Statement

Von Lutz Herden

Welche Wirkungen der russische Importstopp für westliche Agrargüter auslöst, bleibt abzuwarten. Nur so viel lässt sich schon erkennen: Der Symbolgehalt übertrifft wohl den ökonomischen Effekt und besagt, die Regierung in Moskau hält die Zeit für reif, sich von einem Europa abzuwenden, das Russland weniger als Partner will denn als Gegner braucht. Dabei wirkt es deplatziert, Präsident Wladimir Putin eine "Flucht in die Steppe" - sprich: den eurasischen Sonderweg - zu attestieren, der eine Integration im postsowjetischen Raum mit Kasachstan, Belarus und Armenien bevorzugt, um vor der eigenen Haustür zu kompensieren, was im Westen verloren geht. Mehr Kohäsion zwischen Staaten, die einmal ein Staat waren, das folgt dem Gebot der Logik und ergibt sich fast von selbst. Wenn sich dagegen - wie seit 1991 geschehen - Russland dem Westen öffnet und umgekehrt, bedarf es eines politischen Willens, von dem man wissen muss, ohne gegenseitiges Vertrauen wird er früher oder später erschöpft sein. Im Augenblick scheint genau das eingetreten zu sein.

Von vielen sonstigen Umständen abgesehen, ging für Moskau dieses Vertrauen zuletzt in dem Maße verloren, wie unter dem Label Östliche Partnerschaft die EU-Osterweiterung vom postsozialistischen Mittelosteuropa in den postsowjetischen Raum verlagert wurde, während ein Partnerschaftsvertrag zwischen der EU und Russland nicht zustande kam. Die Konsequenz liegt auf der Hand. Dem andauernden Ostexport westlicher Bündnissysteme wird ein entspanntes Verhältnis mit Russland geopfert und damit eine der Geschäftsgrundlagen des postpolaren Zeitalters in Europa. Wozu nicht nur die Euro-Gemeinschaft gehört, sondern gleichermaßen die Partnerschaft mit der Großmacht im Osten. Nun aber werden einst aufgestoßene Fenster nicht nur zugeschlagen, sondern drohen zugemauert zu werden. Wie soll man es anders nennen, wenn noch längst nicht ausgeschöpfte Handelsblockaden die Beziehungen zwischen der EU und Russland einfrieren helfen?

Daran ist besonders bedauerlich, dass sich die Bundesregierung dem ohne Not ausliefert und auf eine Ostpolitik umschwenkt, die statt Annäherung auf Abgrenzung gegenüber Moskau verfällt. Als würde sich die Bundesrepublik Deutschland neu erfinden und das vollziehen, was seit einem Vierteljahrhundert ohnehin in der Luft liegt, ein Wechsel von der Kooperation zur Konfrontation, da man es in Moskau an machtpolitischer Zurückhaltung fehlen lässt. Es findet nicht zusammen, was offenbar nicht zusammengehört. Aber wenigstens koexistieren sollte?

Warum müssen die Unterschiede bei der politischen Kultur, sozialen Mentalität und nationalen Färbung außenpolitischen Handelns gerade jetzt ausgereizt werden? Liegt es am Geltungsdrang eines neuen deutschen Wilhelminismus, wie ihn Bundespräsident Joachim Gauck so eindrucksvoll verkörpert? An jenem Missionierungseifer also, der anderen Staaten, auch großen und daher empfindlichen, nahelegt, einen Vormund zu brauchen? Einen deutschen, wenn’s recht ist.

Jazenjuks Drohung

Es irrt, wer die von Premier Dmitri Medwedjew am 8. August verkündete Antwort auf die verschärften EU-Sanktionen als Trotzreaktion abtut, die mehr Metapher als Machtwort sei. Sich dieser Sichtweise zu bedienen, heißt den politisch Ahnungslosen zu markieren. Zunächst einmal sind die 2013 aus der EU nach Russland verkauften Landwirtschaftserzeugnisse vom Ertrag her keine Marginalie, sondern von ökonomischem Rang. 27 EU-Staaten (ohne Kroatien) führten Fleisch für 1,6 Milliarden Euro aus, Wein und Getränke für etwa den gleichen Wert, dazu Milchprodukte für 1,5 Milliarden. Bei Früchten lagen die Einnahmen aus Verkäufen an Russland bei gleichsam beachtlichen 1,3 Milliarden Euro, sodass sich insgesamt ein Exporterlös von zwölf Milliarden ergab. Laut International-Trade-Datenbank waren 2012 für die EU nur die USA mit Agrareinfuhren von 15,1 Milliarden Euro wichtiger als der Agrarimporteur Russland, der 13,1 Prozent des Angebots abnahm.

Entscheidender als diese Bilanz sollte freilich die Frage sein, was heißt es, wenn Russland nationale Interessen weniger als bisher über Handelsbedürfnisse gegenüber der EU definiert? Selbst zu Hochzeiten des Kalten Krieges galt reger Warenverkehr als "Materialisierung" einer friedlichen Koexistenz zwischen den Blöcken. Dadurch ließ sich Systemwettbewerb in zivilisierter Form austragen und vor Störungen bewahren, deren Eskalationsrisiken man lieber nicht austesten wollte. Ist es nicht leichtfertig, den West-Ost-Handel gerade jetzt als Vehikel des Interessenausgleichs preiszugeben? Schon melden sich Hardliner wie der ukrainische Premier Arsenij Jazenjuk zu Wort und wollen den russischen Erdgastransit über die Ukraine nach Westeuropa unterbinden, auf dass der ausgerufene Handelskrieg die ersten Schlachten nicht schuldig bleibt.

Die werden zu einem Zeitpunkt avisiert, da man sich allerorten des Ersten Weltkriegs, vorrangig der Umstände seines Ausbruchs, und eines Jahrhunderts erinnert, in dessen Gedächtnis sich zwei Kriege Deutschlands gegen Russland beziehungsweise die Sowjetunion eingebrannt haben. Dabei starben mehr als 40 Millionen Menschen, was in etwa zwei Dritteln der Gesamtbevölkerung des deutschen Kaiserreichs am 1. August 1914 entspricht.

Putins Angebot

Hat Russland sich trotzdem verrannt, weil es unter die Fuchtel eines ungestümen Tatmenschen wie Putin geraten ist? Immerhin hat dieser Präsident mit einiger Tatkraft über Jahre hinweg Angebote unterbreitet, um sein Land und das vereinte Europa einander näherzubringen. Statt diesen Teil der Geschichte auszublenden, sollte man Putins Auftritt im Deutschen Bundestag am 25. September 2001 rekapitulieren. Aus heutiger Sicht erscheint es unglaublich, dass dort ein russischer Staatschef kurz nach 9/11 willkommen war und sprechen durfte.

Aber es war so, die Geste galt einen Partner, einem Verbündeten im Anti-Terror-Kampf und - wie Bundestagspräsident Wolfgang Thierse eröffnete - "einem Freund". Was Putin überwiegend in deutscher Sprache vortrug, klang nach einem klaren Bekenntnis zu Europa. "Was die europäische Integration betrifft, so unterstützen wir nicht einfach diese Prozesse, sondern sehen sie mit Hoffnung. Wir tun das als ein Volk, das gute Lehren aus dem Kalten Krieg und der verderblichen Okkupationsideologie gezogen hat." Putin war damals 20 Monate im Amt und mit dem teils verheerenden Erbe des in Deutschland geschätzten, weil pflegeleichten Staatschefs Boris Jelzin beschäftigt. Doch trug er den Jelzin-Freunden nichts nach, wollte dem Auditorium vielmehr seine Ansicht vermitteln, weshalb aus dem viel beschworenen Gemeinsamen Haus Europa bis dahin nichts geworden war.

"Wir sprechen von einer Partnerschaft. In Wirklichkeit haben wir aber immer noch nicht gelernt, einander zu vertrauen. Trotz der vielen süßen Reden leisten wir weiterhin heimlich Widerstand." Alle mussten sich angesprochen fühlen, auch der Redner selbst natürlich. Das Protokoll vermerkt an dieser Stelle keine Reaktion der Zuhörer, weder verhaltenen noch heftigen Beifall. Man hatte Putin offenkundig verstanden und wusste, was er meinte.

Quelle: der FREITAG vom 15.08.2014. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

16. August 2014

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