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Leonardo Boff: Fußballspieler bedürfen sowohl der Mystik als auch der Psychologie

Von Leonardo Boff

Eine konstruktive Idee des Brasilianischen Fußballbundes CBF und der technischen Gruppe des brasilianischen Fußballteams bestand darin, Regina Brandão, eine auf diesem Feld spezialisierte Psychologin, einzuladen, um die Fußballer zu ihren Spielen zu begleiten. Psychologische Unterstützung gibt es bereits seit einigen Jahren für das deutsche Fußballteam. Der Zweck ist einleuchtend: eine Atmosphäre innerer Gelassenheit zu erzeugen, Siege in kontrollierter Weise zu feiern und die Bedingungen für ein gesundes Durchhaltevermögen im Fall einer Niederlage zu schaffen, d. h. zu wissen, was es zu verändern gilt, was aus den Fehlern gelernt werden muss und wie sich die Leistung verbessern lässt.

Meiner Meinung nach ist dies jedoch nicht ausreichend. Psychologie kann durch Mystik bereichert werden. Das soll nicht heißen, dass ich nun die Religion in den Fußball bringen möchte. Zuallererst müssen wir die Mystik entmystifizieren. Mystik besitzt viele Bedeutungen, von denen die beiden wichtigsten die soziologische und die spirituelle sind, nicht jedoch die konfessionelle.

Ich möchte dies an zwei Beispielen erklären, die das besser beleuchten können als Worte: Am 17. und 18. Mai 1993 organisierten Frei Betto und ich eine offene Reflexion über Mystik und Spiritualität. Dies fand unter der Woche morgens und nachmittags statt. Es kamen mehr als 500 Arbeiter, die meisten aus der Metallurgie. Sie wollten wissen, was zum Teufel es mit Mystik und Spiritualität auf sich hat. Wir hatten zwei Eröffnungsvorlesungen, und der Rest bestand aus interessanten Diskussionen. Alles wurde aufgezeichnet und im Buch "Mystik der Straße" (Patmos 1995) veröffentlicht, das bereits von vielen Verlagen publiziert wurde.

Ein weiteres Beispiel: Jedes große Treffen der Landlosen-Bewegung, an denen mehrere hundert Menschen teilnehmen, beginnt mit "Mystik". Was geschieht da? Die Probleme, mit denen die Teilnehmer konfrontiert sind, werden als Theaterstück aufgeführt, bedeutungsvolle Symbole werden gestaltet, Lieder gesungen, man hört Berichte über Kampf und Leben. Es wird nicht immer über Gott gesprochen. Es geht um den Sinn des Lebens, eine Bestärkung des Willens, die Projekte weiterzuführen, standzuhalten, anzuprangern und Neues zu schaffen. Am Ende ist allgemeiner Enthusiasmus zu spüren, Erhellung des Geistes und Harmonie unter allen. Durch diese "Zelebrationen" wird die tiefste Dimension des menschlichen Seins berührt, wo unsere zartesten Träume, unsere Utopien und unsere Bestimmung für ein besseres Leben ihren Sitz haben. Das ist die soziologische Bedeutung der Mystik, die sich in der berühmten Rede von Max Weber findet, welche er 1919 vor den Studenten in München über "Politik als Beruf" hielt. Für Weber impliziert eine Politik, die diesen Namen verdient (nicht von, sondern für Politik zu leben) Mystik, ansonsten bleibt sie im Schlamm privater und unternehmerischer Interessen stecken. Mystik ist für Max Weber die Summe tiefer Überzeugungen, grandioser Visionen und starker Leidenschaften, die Menschen und Bewegungen mobilisieren und Praktiken inspirieren, welche in der Lage sind, Schwierigkeiten standzuhalten und angesichts von Scheitern die Hoffnung nicht zu verlieren.

Diese Art von Mystik kann und sollte von Fußballspielern gelebt werden, insbesondere von denen der WM-Teams, sodass sie erkennen, dass es nicht nur um Psychologie und deren Motivationen geht. Es geht um Werte, gute Träume, Enthusiasmus. Die Frage ist, wie man dorthin kommt.

Hier kommt die zweite Bedeutung der Mystik, die spirituelle Bedeutung, ins Spiel. Doch eine Klärung ist vonnöten: Wir haben eine äußerliche Seite, unseren Körper, mithilfe dessen wir in Kontakt zu anderen, zur Natur und zum Universum treten. Fußball trainiert jede mögliche Fähigkeit des Körpers, um einen Athleten, einen Top-Spieler zu kreieren. Doch dies reicht nicht aus. Wir haben auch unser inneres Selbst, d. h. die Psyche, die von Leidenschaften, Liebe, Hass, tief sitzenden Archetypen, der Dimension von Licht und Schatten, bewohnt ist. Unser aller Aufgabe besteht darin, die Dämonen zu bezwingen und die guten Engel auf solche Weise zu aktivieren, dass wir mit uns selbst in Frieden leben können und nicht ein Opfer unserer Triebe sind.

Doch wir haben auch unsere tiefe, d. h. unsere spirituelle Seite. In unserer inneren Tiefe finden wir die unausweichliche Frage, die uns während unseres ganzen Lebens begleitet: Wer bin ich? Was tue ich in dieser Welt? Was kann ich nach diesem Leben erhoffen? Was bedeutet es, in der Weltmeisterschaft mitzuspielen? Alle Dinge hängen gegenseitig voneinander ab und helfen einander zu existieren. Es muss etwas geben, das alles miteinander verbindet und rückverbindet. Wir besitzen auch ein tiefes Selbst mit den Vorschlägen und Projekten, die uns mobilisieren.

Hier entsteht Enthusiasmus. Im Griechischen bedeutet Enthusiasmus: "einen Gott in sich haben": die Energie, die größer ist als wir, die uns hält und uns durch das Leben führt. Ohne Enthusiasmus gelangen wir in die Welt des Todes. Die moderne Hirnforschung identifizierte, was die Wissenschaftler als Gottespunkt bezeichnen, den Punkt der spirituellen Intelligenz im Gehirn. Immer wenn wir den fundamentalen Fragen des Lebens nachgehen oder eine globalere Vision suchen, wenn die machtvolle und liebende Energie, die alles hält und erhält, gefragt ist, ist in dieser neuronalen Zone eine größere Beschleunigung zu verzeichnen. Wir sind mit einem inneren Organ ausgestattet, durch das wir wahrnehmen, was wir als Tao, Shiva, Olorum, Allah, Jehovah, Gott bezeichnen. Wichtig ist nicht der Name, sondern die Erfahrung einer Ganzheit in uns selbst. Wenn wir den "Gottespunkt" aktivieren, werden wir einfühlsamer für andere, sorgsamer, freundlicher, verständnisvoller und mutiger.

Ich denke, für einen Fußballspieler wäre es gut, sich in eine Ecke zurückzuziehen, sich auf dieses tiefe Selbst zu konzentrieren und darauf zu hören, wo die guten Ideen geboren werden, die guten Gefühle und wo der Enthusiasmus bestärkt wird. Es gibt Leute wie Frei Betto, Marcelo Barros und andere, die diese Aufgabe wunderbar erfüllen könnten. Sie würden die Fußballspieler mit dem "Gottespunkt" in Einklang bringen und die Magie der "Tois" beiseite lassen.

Leonardo Boff ist Theologe und Philosoph; Mitglied der Erd-Charta Kommission

Quelle:  Traductina , 06.08.2014.

Veröffentlicht am

14. August 2014

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