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Arabische Welt: Mutter aller Schlachten

Der Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten im Irak ist Teil eines Umbruchs, bei dem die konfessionellen und ethnischen Domänen der gesamten Region neu verteilt werden

Von Lutz Herden

Als Ende Juni 2012 ein türkischer Kampfjet von syrischen Abfangjägern über dem Mittelmeer abgeschossen wird, reklamiert Ankara sofort, es müsse eine Reaktion der NATO geben. Doch die westliche Allianz übt sich in Zurückhaltung und billigt lediglich Konsultationen nach Artikel 4 des NATO-Gründungsvertrags zu. Jedes Mitglied kann die verlangen, sofern es sich in seiner territorialen Integrität oder Sicherheit bedroht fühlt. Offenbar soll vermieden werden, dass auf einen Bündnisfall nach Artikel 5 erkannt wird, nach dem die NATO militärische Gegenmaßnahmen ergreifen müsste, um ihr Mitglied Türkei zu schützen. Denn welche Konsequenzen hätte das? Man weiß immerhin, dass die Regierung von Premier Tayyip Erdogan riskanten regionalmächtigen Ambitionen folgt, seit im März 2011 der syrische Bürgerkrieg ausgebrochen ist.

Bis zu diesem Zeitpunkt als Freund und Partner hofiert, ist Präsident Baschar al-Assad über Nacht zum Feind und Schurken herabgesunken. Dem liegt die Erwartung zugrunde, seine alawitische Autokratie werde unwiderruflich untergehen. Assad winke das gleiche Schicksal wie Ben Ali in Tunesien, Hosni Mubarak in Ägypten oder Ali Abdullah Salih im Jemen. Fortan gilt für Ankara als Verbündeter, wer das Baath-Regime bekämpft, sei es mit der Waffe, sei es mit Worten. Die Türkei exponiert sich, mehr als für sie gut und dem Westen lieb sein kann. Sie wird zum Exilort für Assad-Gegner, zum Transitraum für Kombattanten, zur Waffenschleuse auch für islamistische Verbände und zur Zufluchtsstätte für syrische Flüchtlinge.

Dahinter steht das Kalkül, sobald in Damaskus die sunnitischen Sieger regieren, werden sie der Türkei dazu verhelfen, sich als neo-osmanische Führungsmacht in einer sunnitisch beherrschten Zone zwischen Mittelmeer und Arabischer Halbinsel zu etablieren. Die Sieger werden dankbar sein, diese Perspektive zu haben.

Erdogans Abenteuer

Premier Tayyip Erdogan will dieser Zeit der Morgenröte vorgreifen, als er im September 2012 auf dem Parteitag seiner AKP die Sendboten einer neuen Allianz hofiert, darunter der einstige sunnitische Vizepräsident des Irak, Tariq al-Haschimi, der Hamas-Führer Chalid Maschal, der damalige ägyptische Präsident Mohammed Mursi und Ahmad al-Dscharba, Sunnit und Präsident der Syrischen Nationalkoalition, verwandt mit einer Ehefrau des saudischen Königs Abdullah. Ein Jahr danach wird von dieser Phalanx nicht viel übrig sein - al-Haschimi ist im Irak zum Tode verurteilt und auf der Flucht, Mursi durch einen Militärputsch gestürzt, al-Dscharba nur noch Randfigur der syrischen Exilgemeinde.

Im Juni 2014 schließlich nehmen im Irak die auf Bagdad vorrückenden Kämpfer des Netzwerkes Islamischer Staat im Irak und in der Levante (ISIL) türkische Geiseln - auch solche mit Diplomatenpass - und scheren sich wenig um den Glaubensbruder Erdogan. Spätestens jetzt wird klar, auf welches Abenteuer der sich eingelassen hat. Ein Spiel mit dem Feuer, durch Übermut und fehlenden strategischen Instinkt wurde die Türkei in eine Konfrontation hineinmanövriert, bei der es um nicht weniger als die Neuordnung konfessioneller und ethnischer Domänen im Orient geht. Wovon fast alle Staaten dieses Subkontinents betroffen sind. Woran sie teilhaben, wodurch sie untergehen, sich in höchster Not behaupten oder mächtiger werden.

Dies gilt für die sunnitisch dominierten Feudalmächte Saudi-Arabien, Katar und Bahrain ebenso wie für Irak und Iran mit ihren schiitischen Mehrheiten. Oder den Libanon, Jordanien und Palästina. Deren multireligiöse Bevölkerungen können schwerlich abfedern, was ringsherum geschieht. Es reicht schon, dass sunnitische Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien die konfessionelle Balance im Libanon verschieben, um die Geister in Wallung zu bringen: die der schiitischen Hisbollah unter Hassan Nasrallah, die des sunnitischen Establishments oder der maronitischen Christen mit ihren paramilitärischen Milizen.

Wer in der nicht-arabischen Welt etwas von politischer Vernunft und pragmatischer Vorsicht hält, vermeidet es, in diesen Megakonflikt verstrickt zu werden. Die von einer religiösen (Staats-)Partei geführte Türkei will sich das nicht zumuten, sondern Partei nehmen. Es hat seinen Preis.

Ewige Schmähungen

Dass der benachbarte Irak als konfessionell heterogener und von innerer Fehde zerriebener Staat ins Mahlwerk dieses Religionskrieges gerät, kann nicht überraschen. Auf seinem Territorium tobt die "Mutter aller Schlachten" seit langem. Sie wird befeuert von Hader und Hass zwischen Sunniten und Schiiten, die sich in der gesamten Region seit mehr als einem Jahrtausend nichts schenken. Die Wurzeln dieses Ur-Antagonismus reichen zurück ins 7. Jahrhundert, als sich die damalige muslimische Gemeinschaft nicht über den Nachfolger des Propheten Mohammed einigen konnte. Die Sunniten wollten Abu Bakr, den Freund und späteren Schwiegervater des Propheten, der als Gesandter Gottes und Stellvertreter (Kalif) die Gemeinschaft der Muslime (Kalifat) führen müsse. Die Schiiten waren der Ansicht, die Ehre gebühre Mohammeds Schwiegersohn Ali.

Für die Alawiten als Teil des Schiitentums stand Ali gar über Mohammed, was sunnitische Prediger als Sakrileg empfanden. Sesshaft in den Bergdörfern oberhalb der Orontes-Ebene und damit Gebieten, die heute zu Syrien gehören, fanden sich die Dissidenten als Häretiker verteufelt. Es hieß, Alawiten würden neben der Sonne auch Hunde und die weiblichen Genitalien anbeten. Es sind solche Schmähungen, die bis in die Gegenwart Gehör finden und ein Grund sind - nicht der alleinige - für barbarische Gräuel, wie sie seit drei Jahren in Syrien verübt werden.

Statt sich irgendwann zu versöhnen oder zu arrangieren, verfielen Sunniten und Schiiten über die Jahrhunderte hinweg in kein gemeinsames Friedensgebet. Sie blieben Widersacher, die sich der Gotteslästerung beschuldigten und ewige Feindschaft schworen. Vielleicht fehlte die Erfahrung einer zivilisatorischen Urkatastrophe, wie sie Europa mit dem Dreißigjährigen Krieg (1618 - 1648) heimsuchte. Als dessen Leichenfelder kein Ende nahmen, suchten katholische und protestantische Mächte nach Koexistenz, um dem Fluch gegenseitiger Zerstörung zu entkommen. Der Heilige Krieg Arabiens hingegen konnte sich darauf verlassen, dass ihm die destruktiven Impulse erhalten blieben. Sie führten zu tosender Gewalt, wenn regionale Umbrüche anstanden und sich Imperien überlebt hatten. Allein der Zusammenbruch des Osmanischen Reiches nach dem Ersten Weltkrieg führte zu einem Dutzend Nachfolgestaaten im Nahen und Mittleren Osten. Deren Grenzen - oft willkürlich gezogen - konnten kaum für die Ewigkeit gedacht sein, zumal europäische Großmächte wie Frankreich und Großbritannien als Landvermesser auftraten. Mehr als ein Status quo erwuchs daraus selten.

Schiitische wie sunnitische Akteure begriffen Staaten nur allzu oft als temporäre Bastionen religiös gefärbter Geltungsmacht. Um Beispiele zu nennen: Der ab Ende der siebziger Jahre durch Saddam Hussein regierte Irak spiegelte den Führungsanspruch einer sunnitischen Elite, während im Iran des Ayatollah Khomeini mit der Islamischen Republik ein theokratisches Regime entstand. Für viele Sunniten ein Zeichen schiitischer Anmaßung, die man nicht hinnehmen durfte. Der zwischen 1980 und 1988 geführte irakisch-iranische Krieg kostete beide Staaten eine Generation junger Männer.

Oder man denke an den syrischen Bürgerkrieg, dessen saudischen Mäzenen viel daran gelegen ist, eine Landbrücke des Schiitentums vom Iran über Syrien in den Libanon zu sprengen, auch wenn dabei Staaten mit in den Abgrund gerissen werden. Westlicher Zuspruch ermutigt das Herrscherhaus in Riad, obwohl es sich bei den Wahhabiten um eine der intolerantesten Spielarten des Islam handelt.

Achse des Guten?

Es fehlt bei dieser "Mutter aller Schlachten" nicht an verblüffenden Wendungen. So auch in diesem Moment. Um das schiitische Regime in Bagdad zu retten, treten die USA einer Zweckallianz mit dem Iran näher, den man bisher auf der "Achse des Bösen" wähnte. Jetzt aber gilt, wie immer sich Präsident Barack Obama entscheidet - er wird Teheran Gutes tun. Lässt er den Irak allein, kann sich der Iran rühmen, die einzig verlässliche Schutzmacht der schiitischen Gemeinschaft zu sein. Steigt Obama zugunsten von Premier al-Maliki militärisch ein, stehen die USA in einer Front mit der Islamischen Republik.

Welch epochale Zäsur. Acht Jahre lang, von 2003 bis 2011, wurde versucht, dank einer US-Besatzungsarmee im Irak die Kreise des Iran zu stören und einen prowestlichen nahöstlichen Staat zu schaffen. Der Irak sollte als "demokratische Mustergesellschaft" die autoritäre Theokratie des Iran beschämen und überwinden helfen. Von diesem "Modell" blieb ein "failed state" à la Libyen, dessen Regierung heute in Washington wie Teheran um Beistand bittet. Sollten sich Amerikaner und Iraner - wenn auch nur informell - darüber einigen, wie der geleistet werden kann, wird die Geschichte der Anti-Terror-Kriege umgeschrieben. Mehr noch, es wäre der Beweis erbracht, wie unilaterale Ordnungspolitik in den Zwang zu multilateraler Bündnispolitik mündet. Daraus wäre zu schlussfolgern, die USA können der Verantwortung für die Besatzungszeit nur so gerecht werden, auch wenn Ende 2011 ihr letzter Soldat von dannen zog. Das ist die eigentliche Botschaft dieser Tage.

Unter westlichen Strategen sollte es ein Prinzip geben: Wohin du dich in der Welt auch wendest, tue es als Gast und sei dir deiner Fremdheit bewusst, du kennst nicht die Gefahren, "wenn hinten, weit, in der Türkei die Völker aufeinander schlagen". Extemporiert Goethes "Faust" beim Osterspaziergang. Faust war kein Feigling. Er wollte den Weg der Erkenntnis immerhin mit seiner Seele bezahlen.

Quelle: der FREITAG vom 02.07.2014. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

03. Juli 2014

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